Wir haben mit Prof. Dr. MatthiasBlüher aus Leipzig über neue Erkenntnisse und die Behandlung bei Adipositas gesprochen.

Herr Prof. Blüher: Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung widmet sich den zugrundeliegenden Mechanismen der Entstehung von Adipositas. Welche Rolle spielt das Fettgewebe?

Zu einem Teil besteht das Fettgewebe aus Fettzellen, den Adipozyten, die Energie in Form von Lipiden speichern und bei Bedarf abgeben. So kann der Körper zum Beispiel im Hungerzustand mit Energie versorgt werden. Darüber hinaus gibt es Vorläuferzellen, aus denen neue Adipozyten und Bindegewebszellen entstehen können. Die Anzahl solcher Vorläuferzellen im Unterhautfettgewebe nimmt nach deutlicher Gewichtsreduktion zu. Offensichtlich versucht das Fettgewebe, den Verlust an Fettspeichern durch neue Adipozyten zu kompensieren. Menschen mit sogenannter metabolisch gesunder Adipositas haben mehr und aktivere Vorläuferzellen. Das spricht dafür, dass das Potenzial des Fettgewebes, neue Adipozyten zu bilden, die Expansionsfähigkeit des Fettgewebes erhöht und damit zur Stoffwechselgesundheit beiträgt. Das Unterhautfettgewebe stellt einen "sicheren" Speicherort für überschüssige Energie dar. Ist die Expansionsfähigkeit des Fettgewebes eingeschränkt, werden vermehrt Lipide in Organen wie beispielsweise der Leber gespeichert, was Stoffwechselkrankheiten fördert.

Das Fettgewebe beherbergt auch zahlreiche Immunzellen. Bei Typ-2-Diabetes ist die Anzahl bestimmter Immunzellen wie Makrophagen oft erhöht. Die Funktion der Immunzellen ist dann mit einer Entzündungsreaktion vergleichbar. Zusammen mit Adipozyten produzieren Immunzellen des Fettgewebes Botenstoffe, die in anderen Organen wie der Leber, dem Gehirn, der Muskulatur oder der Bauchspeicheldrüse Entzündungen und Insulinresistenz begünstigen können.

Zur Person
Prof. Dr. Matthias Blüher gehört zu den führenden Adipositas-Experten weltweit. Der Endokrinologe und Diabetologe forscht schwerpunktmäßig zur Funktion des Fettgewebes im Kontext der Entstehung von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Blüher war von 2013-2024 Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Mechanismen der Adipositas" und leitet die Adipositas-Ambulanz für Erwachsene am Universitätsklinikum Leipzig. Seit 2019 ist er auch Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG) am Standort Leipzig. HI-MAG ist ein Institut des Helmholtz Zentrums München in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät der Universität und dem Universitätsklinikum in Leipzig.

Zudem sind Zellen des Gefäßsystems wie Endothelzellen ein zellulärer Bestandteil des Fettgewebes. Ist die Endothelzellfunktion gestört, können niedriggradige Entzündungsreaktionen folgen. Ein Ausdruck von Fehlfunktionen des Fettgewebes ist die Freisetzung von Hormonen wie Leptin und Adiponektin, die eine große Rolle bei der Regulation von Appetit und Sättigung oder von Stoffwechselprozessen spielen.

In einer Studie mit Ihrer Beteiligung konnten Unterschiede menschlicher Fettzellen in der interzellulären Kommunikation festgestellt werden. Was bedeutet das?

Wir haben vor kurzem gemeinsam mit internationalen Kooperationspartnern gesehen, dass das Fettgewebe wie eine Art metabolisches Gedächtnis funktioniert. Epigenetische Veränderungen durch Adipositas bleiben auch nach Gewichtsreduktion bestehen und können zum Jojo-Effekt führen, selbst wenn erfolgreich abgenommen wurde. Die Zellen des Fettgewebes kommunizieren miteinander – wahrscheinlich mit dem Ziel, die Integrität des Fettgewebes zu erhalten und sich vor Fehlfunktion zu schützen. Die Aktivierung von Entzündungszellen im Fettgewebe könnte demnach Ausdruck einer Anpassung auf hyperkalorische Ernährung oder Anreicherung ungünstiger Stoffe sein. Zusammengefasst ist das Fettgewebe ein Spiegelbild und wichtiger Mediater von Stoffwechselprozessen. Es hat eine Schlüsselrolle bei Störungen der metabolischen Gesundheit.

Eine internationale Expertenkommission hat kürzlich eine neue Definition der Adipositas-Diagnostik vorgeschlagen. Warum wird das gefordert, was steckt dahinter?

Adipositas ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, die zu Einschränkungen der Lebensqualität und Folgeerkrankungen führen kann. Die bisherige Definition von Adipositas über den Body-Mass-Index (BMI) wird der Heterogenität der Erkrankung und der Bedeutung der (gestörten) Funktion und Verteilung des Fettgewebes nicht gerecht. Das ist der Grund, weshalb sich Expertinnen und Experten der globalen Commission on Clinical Obesity für einen differenzierteren Ansatz zur Diagnose der Adipositas einsetzen. Dieser beinhaltet, ergänzend zum BMI andere Messgrößen für Körperfettvermehrung, wie z. B. Taillenumfang, Verhältnis aus Bauchumfang und Körpergröße oder direkte Fettmessung zu erfassen. Zusätzlich schlägt die Kommission vor, objektive Anzeichen und Symptome von Erkrankungen sowie funktionelle Einschränkungen auf individueller Ebene zu berücksichtigen. Dieser Ansatz ist nicht neu, aber trotzdem aktuell: Der Bedarf für eine bessere und schweregradbezogene Therapie ist in Deutschland noch immer hoch. Ich hoffe, dass die Arbeit der Kommission dazu beitragen wird, die Diskussion zur Prävention und Verbesserung der Therapie von Adipositas intensiver zu führen. Auch die European Association for the Study of Obesity (EASO) und die kanadischen Leitlinien zur Adipositas-Therapie (Edmonton Obesity Staging System) empfehlen ähnliche Herangehensweisen. Das übergeordnete Ziel einer optimierten Diagnostik der Adipositas ist die bessere individualisierte und schweregradadaptierte Therapie dieser häufigen Erkrankung.

GLP-1-Analoga senken effektiv das Gewicht bei Adipositas. Für Orforglipron als ersten oralen GLP-1-Rezeptoragonisten werden in Kürze Ergebnisse erwartet. Welchen Nutzen haben die Substanzen?

GLP-1-basierte Therapien wie Semaglutid oder der duale GLP-1/GIP-Rezeptoragonist Tirzepatid sind derzeit die wirksamsten Optionen der Pharmakotherapie. Damit kann das Körpergewicht im Mittel stärker gesenkt werden als durch Verhaltensmodifikationen mit kombinierter Ernährungs- und Bewegungsintervention. Unabhängig von der Gewichtsreduktion gibt es darüber hinaus positive Effekte. Die SELECT-Studie hat gezeigt, dass die einmal wöchentliche subkutane Gabe von Semaglutid 2,4 mg gegenüber Verhaltensintervention zu signifikant geringerer Häufigkeit von kardiovaskulären Ereignissen führt. Außerdem konnte für Inkretin-basierte Medikamente ein Nutzen für mit Adipositas assoziierte Begleiterkrankungen gefunden werden. Prädiabetes, Fettlebererkrankungen, gestörte Nierenfunktion, Gelenkbeschwerden, Hypertonie, Schlafapnoe-Syndrom oder Herzinsuffizienz zählen dazu. Die Sicht auf Adipositas als Multisystemerkrankung hat sich dahingehend verändert, dass es bei der Therapie nicht mehr nur um das Ausmaß der Gewichtsreduktion geht, sondern um messbare und für Betroffene spürbare Verbesserungen des Gesundheitszustands. Substanzen wie duale oder Triple-Agonisten des Inkretinsystems, Kombinationstherapien oder orale GLP-1-Rezeptoragonisten wie Orforglipron sind aktuell in klinischen Studien. Ein Vorteil der medikamentösen Adipositas-Therapie ist deren Skalierbarkeit. Im Gegensatz zur Adipositas-Chirurgie können die Therapien eskaliert und deeskaliert werden. Trotzdem sind bariatrische Eingriffe zur Gewichtsreduktion noch effektiver als medikamentöse Adipositas-Therapien.

Und welche Nachteile gibt es?

Ein Nachteil ist, dass der Zugang zu den Substanzen in Deutschland eingeschränkt ist. Adipositas-Medikamente sind generell nicht erstattungsfähig – also Selbstzahler-Präparate. Damit entscheidet häufig nicht die medizinische Indikation zur Therapie, sondern der Geldbeutel über die Anwendung. Auch Nebenwirkungen können den Einsatz der Substanzen limitieren. GLP-1-basierte Therapien führen nicht selten zu gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Appetitlosigkeit und anderen unerwünschten Ereignissen. Meist sind die Nebenwirkungen mild oder von moderater Ausprägung. Es gibt auch Menschen, die nicht gut auf GLP-1-Rezeptoragonisten ansprechen, wobei die Mechanismen dafür nicht vollständig verstanden sind. Zudem sind spezifische Kontraindikationen zu berücksichtigen. Für viele Patientinnen und Patienten bleibt die medikamentöse Behandlung der Adipositas lebenslange Therapie. Wie sich die Dauertherapie auswirkt, ist wenig erforscht. Daten gibt es, dass nach Absetzen von GLP-1-Rezeptoragonisten die Gewichtskurve schnell wieder ansteigt. Insgesamt überwiegen aber die Vorteile moderner pharmakologischer Ansätze gegenüber den Nachteilen, denke ich. Wichtig ist vor allem, dass Menschen mit Adipositas-Therapie langfristig begleitet werden und ausführlich über Wirkung und Nebenwirkungen von Medikamenten aufgeklärt sind.

Wenn der Hype um schnelle Abnehm-Erfolge mit Semaglutid, Tirzepatid & Co anhält: Werden klassische Methoden der Gewichtsreduktion und bariatrische Eingriffe bald überflüssig?

Auch wenn sich mit Semaglutid und Tirzepatid beeindruckende Erfolge erzielen lassen, die weit über die Gewichtsreduktion hinausgehen: Alle Säulen der Adipositas-Therapie werden wichtig bleiben. Das gilt auch für die metabolische Chirurgie. Wir haben eher die Erfahrung gemacht, dass sich mehr Menschen für chirurgische Eingriffe bei Adipositas interessieren – auch nach einer Pharmakotherapie. Das hat vermutlich zum einen Kostengründe, kann aber auch daran liegen, dass Medikamente einen Plateaueffekt haben und viele Menschen – gerade mit sehr hohem Körpergewicht – mehr Gewichtsreduktion wünschen als medikamentöse Therapien derzeit ermöglichen. Ob Medikamente künftig noch effektiver werden und damit zu geringen Zahlen in der Adipositas-Chirurgie führen, darüber kann nur spekuliert werden. An dieser Stelle muss auch die Bedeutung der konservativen Basisbehandlung mit Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie erwähnt werden. Medikamente und chirurgische Verfahren wirken umso besser, wenn sie mit diesen Basismaßnahmen kombiniert werden. Es wird auch in Zukunft einen multifaktoriellen Therapieansatz für Menschen mit Adipositas geben, der alle Therapiemöglichkeiten einschließt.

Für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) wird in der aktualisierten Fassung der S3-Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" die Empfehlung ausgesprochen, dass zertifizierte Abnehm-Apps verordnet werden können. Wie wirksam sind eHealth-Angebote?

Sowohl in der aktuellen S3-Leitlinie als auch im DMP (Disease Management Program) Adipositas wird der Stellenwert von DiGA hervorgehoben. Der Hauptgrund ist die weite Verbreitung der Erkrankung und eine unzureichende Versorgungssituation für Menschen mit Adipositas. Digitale Gesundheitsanwendungen können helfen, niedrigschwellige Unterstützung zu bieten. Aktuell gibt es in Deutschland zwei zugelassene DiGA, die zu Lasten der Krankenversicherung verordnet werden können. Beide konnten in Evaluierungsstudien belegen, dass sie mindestens so wirksam sind wie herkömmliche Verhaltensinterventionen. Bei intensiver Nutzung können sie sogar effektiver sein als die klassische "analoge" Therapie. Allerdings sollten die eHealth-Angebote in eine Ernährungs- und Bewegungstherapie unter Anleitung von fachkundigen Adipositas-Therapeuten eingebettet sein. DiGA können Patientinnen und Patienten unterstützen, aber den persönlichen Kontakt zu Behandlern nicht ersetzen.

Abschließend noch eine Frage zur Versorgung: Sie sehen in der Adipositas-Ambulanz am Universitätsklinikum Leipzig eine Vielzahl von Patientinnen und Patienten. Was möchten Sie Menschen mit Adipositas und ihren behandelnden Ärzten mit auf den Weg geben?

Adipositas ist nicht heilbar, aber zunehmend besser behandelbar. Ich empfehle deshalb Menschen mit Adipositas, ihre Erkrankung ernst zu nehmen und rechtzeitig Hilfe zu suchen. Viele Menschen mit Adipositas fühlen sich schuldig an ihrer Erkrankung und wagen deshalb nicht den ersten Schritt zur Therapie. Doch je früher wir die Krankheit diagnostizieren und behandeln können, desto erfolgreicher ist die Adipositas-Therapie. Nur so lassen sich auch Begleitprobleme verhindern und Folgeerkrankungen aufhalten. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam mit unseren Patientinnen und Patienten personalisierte Therapiestrategien finden, um eine bestmögliche Prognose zu erreichen.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Blüher

Interview: Katrin Hertrampf.

Startschuss für Exzellenzcluster "Leipzig Center of Metabolism"
Großer Erfolg und Grund zur Freude am Wissenschaftsstandort Universität Leipzig: Im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder wird das Cluster "Leipzig Center of Metabolism" (LeiCeM) ab 1. Januar 2026 über einen Zeitraum von sieben Jahren mit Millionenbeträgen gefördert. In Kooperation mit dem Universitätsklinikum und dem Herzzentrum Leipzig sowie fünf Max-Planck-, Helmholtz- und Fraunhofer-Instituten entsteht ein klinisches Forschungszentrum, das sich dem Verständnis und der Verbesserung der Krankheitslast weitverbreiteter Stoffwechselstörungen wie Adipositas, Diabetes und Fettlebererkrankungen widmet. Genetische Dispositionen, frühkindliche Prägungen, geschlechtsspezifische Unterschiede und psychische Gesundheit sollen dabei berücksichtigt werden. Das LeiCeM möchte neben klinischer Forschung auch akademische Lehre und Nachwuchsförderung voranbringen. Geplant sind u.a. neue Professuren, ein innovatives Qualifizierungsprogramm und interdisziplinäre Ausbildungsangebote.

Über die Förderung als Exzellenzcluster entscheiden wissenschaftliche Mitglieder eines Expertengremiums und die für Wissenschaft zuständigen Ministerinnen und Minister von Bund und Ländern. Im Wettbewerb werden die Exzellenzcluster in einem international besetzten Panel nach wissenschaftlichen Kriterien begutachtet und ausgewählt.

Schwerpunkt Adipositas

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (3) Seite 16-17