Im Jahr 2000 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals vor der "globalen Adipositas-Epidemie" gewarnt. 22 Jahre später stellte die WHO fest: Kein europäischer Staat ist auf einem guten Weg, den Anstieg der Adipositas-Prävalenz bis zum Jahr 2025 zu stoppen.

Im Gegenteil: Die Corona-Pandemie hat die Situation verschärft, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit hohem Ausgangsgewicht und aus Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen. Wirksame Gegenmaßnahmen sind wichtiger denn je, sonst werden die "Corona-Kilos" zu einem Bumerang für eine ganze Generation. Der politische Wille ist entscheidend!

Wie Corona die Adipositas-Epidemie verschärft hat

Starkes Übergewicht, Adipositas, hat sich weltweit seit den 1970ern fast verdreifacht und längst das Ausmaß einer Volkskrankheit angenommen. Die OECD und WHO sprechen seit Jahren von einer weltweiten "Epidemie".1, 2 Etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland – 24 Prozent der Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen – sind den letzten repräsentativen Messungen zufolge von Adipositas betroffen.3, 4 Verschiedene Daten weisen übereinstimmend daraufhin, dass es seit Beginn der COVID-19-Pandemie nochmals zu einer signifikanten Gewichtszunahme gekommen ist. [5, 6, 7, 8]

So ist der Krankenkasse DAK zufolge die Zahl der dokumentierten Adipositas-Prävalenz bei Minderjährigen von 2018/19 zu 2020 um 7 Prozent gestiegen, die Inzidenz lag im Jahr 2020 etwa 9,4 Prozent höher als im Vorjahr.9 Laut den Daten aus CrescNet, dem Kompetenznetz zur kontinuierlichen und langfristigen Beobachtung des Wachstums und der Gewichtsentwicklung bei Kindern in Deutschland, war der mittlere BMI von 150.000 untersuchten Kindern in den ersten Monaten der Pandemie um ein Vielfaches schneller angestiegen als in den 15 Jahren zuvor.10 Verschiedene repräsentative Befragungen unter Eltern minderjähriger Kinder bestätigen diesen besorgniserregenden Trend – unter anderem auch die im Mai 2022 vorgestellte Elternbefragung der DAG in Zusammenarbeit mit dem Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der Technischen Universität München. [11]

Bei Erwachsenen zeigt sich ein ähnliches Bild. In den ersten Pandemiemonaten hat das Robert Koch-Institut im Rahmen der fortlaufenden GEDA-Befragungen einen signifikanten Anstieg beim durchschnittlichen BMI in der Erwachsenenbevölkerung festgestellt.12 Befragungen des EKFZ für Ernährungsmedizin stützen diesen Befund. Bei einer repräsentativen Umfrage unter Erwachsenen im Auftrag des EKFZ im Mai/Juni 2022 gaben 35 Prozent der Befragten an, seit Beginn der Corona-Pandemie zugenommen zu haben. Im Schnitt lag der angegebene Gewichtszuwachs bei dieser Gruppe bei 6,5 Kilogramm. [13]

Vulnerable Gruppen sind besonders betroffen

Sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen deuten die Umfragen darauf hin, dass vulnerable Gruppen überproportional betroffen sind. Personen mit einem hohen Ausgangsgewicht und niedrigem Haushaltseinkommen berichteten deutlich häufiger von einer ungesunden Gewichtszunahme seit Beginn der Pandemie als Personen mit niedrigerem Gewicht oder aus Haushalten mit höheren Einkommen. Wir müssen angesichts der vorliegenden Daten nicht nur davon ausgehen, dass die Prävalenz der Adipositas einen neuen Höchststand erreicht hat, sondern, dass auch die Häufigkeit der hochgradigen Adipositas zugenommen und sich der soziale Gradient weiter verstärkt hat. Vor diesem Hintergrund sind geeignete Gegenmaßnahmen zur Prävention und Therapie der Adipositas von größerer Bedeutung als je zuvor.

Was aus Sicht der WHO zu tun ist

Im Mai 2022 hat das WHO-Regionalbüro für Europa den Adipositas-Bericht 2022 vorgestellt und vor dem "epidemischen Ausmaß" der Krankheit gewarnt.14 Demnach ist kein Mitgliedstaat auf Kurs, den Anstieg der Adipositas-Prävalenz bis zum Jahr 2025 in allen Altersgruppen zu stoppen. Übergewicht und Adipositas sind laut der WHO die Ursache für 13 Prozent der Todesfälle in der Region und die wichtigste Ursache für an Krankheit verlorene gesunde Lebensjahre (YLDs). Zugleich wies die WHO darauf hin, dass die Adipositas-Epidemie umkehrbar sei, wenn geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen würden – und hat den Mitgliedsstaaten klare Handlungsempfehlungen mit auf den Weg gegeben. [15]

Eine multifaktorielle Erkrankung bedarf Gegenstrategien in zahlreichen Politikfeldern im Sinne einer "health-in-all-policies"-Strategie. In der Fülle der möglichen Handlungsfelder hat die WHO folgende, besonders vielversprechende Sofortmaßnahmen hervorgehoben:

  • die Besteuerung zuckergesüßter Erfrischungsgetränke und Subvention gesunder Lebensmittel
  • Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel mit viel Zucker, Fett und Salz
  • schulbasierte Interventionen z.B. zur Förderung einer gesunden Ernährung und Bewegung
  • eine Verbesserung des Zugangs zu Angeboten zur Adipositas-Therapie im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsversorgung

In Deutschland besteht bei all diesen Handlungsfeldern erhebliches Nachholpotenzial. In der Ernährungspolitik hat die Bundesregierung lange Zeit auf wirkungslose freiwillige Selbstverpflichtungen mit der Lebensmittelwirtschaft vertraut und dadurch wertvolle Zeit vergeudet. Ob mit Bundesernährungsminister Cem Özdemir tatsächlich eine Kehrtwende eintritt, wird sich noch zeigen. Begrüßenswerte Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag wie die geplanten Werbeverbote für Ungesundes und die Ernährungsstrategie des Bundes müssen erst noch mit Leben gefüllt werden. Insbesondere ist noch offen, ob die seit Jahren aus der Fachwelt eingeforderte Reform der Lebensmittelsteuern Einzug in die Ernährungsstrategie hält.

Auch in der Gesundheitspolitik – beim Zugang zu Angeboten der Adipositastherapie – zeigt sich bekanntlich eine defizitäre Situation, eine regelrechte Versorgungslücke. Die allermeisten Bausteine der Adipositas-Therapie stellen keine Regelleistung unseres Gesundheitssystems dar, was eine evidenzbasierte Behandlung erschwert. Ob beispielsweise die Kosten für eine Basistherapie (Ernährung, Bewegung, Verhalten) übernommen werden, unterscheidet sich je nach Krankenkasse. Andere Therapieoptionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet, da sie als Lifestyle-Arzneimittel gelten und durch den Gesetzgeber von der Kostenübernahme durch die Krankenkassen ausgenommen sind. Zwar hat der Deutsche Bundestag ein sogenanntes "Disease Management Program" Adipositas beauftragt und damit die Adipositas als Erkrankung anerkannt. Doch letztlich wird es auf die konkrete Ausgestaltung des DMP und die rechtlichen Rahmenbedingungen ankommen, ob die erheblichen Versorgungslücken tatsächlich geschlossen werden können.

Adipositas-Epidemie: politischer Wille ist entscheidend

Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Ein ganzer Strauß aus Maßnahmen muss klug ineinandergreifen, um die Adipositas-Epidemie einzudämmen. Die Lebenswelten müssen von Grund auf gesundheitsförderlicher gestaltet und der Zugang zur frühzeitigen Therapieangeboten flächendeckend deutlich verbessert werden. Die Handlungsfelder reichen von Standards für das Essen in Kitas und Schulen, über die Regulierung der Lebensmittelwerbung, über eine Reform der Lebensmittelsteuern bis hin zu Fragen der Kostenübernahme für Krankenbehandlungen als Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung.

Oftmals wird den Betroffenen unterstellt, die Adipositas-Epidemie sei eine Frage individueller Willensschwäche. Wer sich mit dem Thema eingehend befasst, kommt schnell zu der Erkenntnis: Die Frage ist nicht, ob die Betroffenen genügend persönlichen Willen aufbringen. Die Frage ist, ob die Entscheidungsträger:innen in Bund und Ländern genügend politischen Willen aufbringen – und die seit vielen Jahren einhellig von medizinischen Fachgesellschaften, Krankenkassen und Verbraucherschutzorganisationen eingeforderten Gegenmaßnahmen ergreifen.


Literatur
1. vgl. OECD Obesity Update – Previous editions: https://www.oecd.org/els/health-systems/obesity-update-previous-editions.html (zuletzt abgerufen am 16. August 2022)
2. WHO Consultation on Obesity (1999: Geneva, Switzerland) & World Health Organization. (2000). Obesity : preventing and managing the global epidemic : report of a WHO consultation. World Health Organization. https://apps.who.int/iris/handle/10665/42330
3. Mensink, G. B. M., Schienkiewitz, A., Haftenberger, M., Lampert, T., Ziese, T., & Scheidt-Nave, C. (2013). Übergewicht und Adipositas in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 56(5–6), 786–794. https://doi.org/10.1007/s00103-012-1656-3
4. Schienkiewitz A, Brettschneider AK, Damerow S, Schaffrath Rosario A (2018) Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3(1):16–23.
5. Vogel, M., Geserick, M., Gausche, R. et al. Age- and weight group-specific weight gain patterns in children and adolescents during the 15 years before and during the COVID-19 pandemic. Int J Obes 46, 144–152 (2022).
6. Galler A, Röbl M, Prinz N, Dannemann A, Gellhaus I, Kapellen T, Linke S, Schauerte G, Stein R, Weghuber D, Weihrauch-Blüher S, Wiegand S, Holl R. Weight Development in Children and Adolescents with Obesity During the COVID-19 Pandemic. Dtsch Arztebl Int. 2022 Apr 29;119(17):302-303. doi: 10.3238/arztebl.m2022.0155. PMID: 35912532.
7. DAK-Gesundheit. Kinder- und Jugendreport 2021: Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Schwerpunkt: Suchterkrankungen. November 2021.
8. DAG, EKFZ für Ernährungsmedizin. Wie Corona das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen verändert hat. Ergebnisse einer repräsentativen Elternbefragung (2021): https://adipositas-gesellschaft.de/forsa-umfrage-zeigt-folgen-der-corona-krise-fuer-kinder-gewichtszunahme-weniger-bewegung-mehr-suesswaren-jedes-sechste-kind-ist-dicker-geworden/
9. DAK-Gesundheit. Kinder- und Jugendreport 2021: Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Schwerpunkt: Suchterkrankungen. November 2021.
10. Vogel, M., Geserick, M., Gausche, R. et al. Age- and weight group-specific weight gain patterns in children and adolescents during the 15 years before and during the COVID-19 pandemic. Int J Obes 46, 144–152 (2022).
11. DAG, EKFZ für Ernährungsmedizin. Wie Corona das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen verändert hat. Ergebnisse einer repräsentativen Elternbefragung (2021): https://adipositas-gesellschaft.de/forsa-umfrage-zeigt-folgen-der-corona-krise-fuer-kinder-gewichtszunahme-weniger-bewegung-mehr-suesswaren-jedes-sechste-kind-ist-dicker-geworden/
12. Damerow S, Rommel A, Prütz F, Beyer AK, Hapke U et al. (2020) Die gesundheitliche Lage in Deutschland in der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie. Zeitliche Entwicklung ausgewählter Indikatoren der Studie GEDA 2019/2020-EHIS. Journal of Health Monitoring 5(4): 3–22. DOI 10.25646/7171.2
13. Forsa-Befragung im Auftrag des Else Kröner Fresenius Zentrum für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der Technische Universität München (2022): https://www.tum.de/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/37537
14. WHO-Regionalbüro für Europa. New WHO report: Europe can reverse ist obesity "epidemic" (2022): https://www.who.int/europe/news/item/03-05-2022-new-who-report--europe-can-reverse-its-obesity--epidemic
15. vgl. WHO (2022): Media Release. New WHO report: Europe can reverse ist obesity "epidemic": https://www.who.int/europe/news/item/03-05-2022-new-who-report--europe-can-reverse-its-obesity--epidemic (zuletzt abgerufen am 16. August 2022)


Autor:
Oliver Huizinga
Politischer Geschäftsfüher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG)
Tel.: +49 (0)1515 / 127 19 21


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (1/2) Seite 17-19