Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird ein Disease-Management-Programm zur Indikation Adipositas auf den Weg gebracht sein. Wie das im Detail aussehen könnte, wollten wir vom Präsidenten der Adipositas-Gesellschaft, Professor Jens Aberle, wissen.

Warum ein DMP Adipositas?
Aktuell lässt unser Gesundheitssystem Millionen Betroffene mit Adipositas im Stich. Wir sprechen von einer "Versorgungslücke Adipositas". Während Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen wie z.B. Typ-2-Diabetes oder Bluthochdruck selbstverständlich Zugang zu einer Vielzahl an Therapie-Angeboten erhalten, ist dies für Betroffene mit Adipositas nicht der Fall. Die Diagnose führt – von Digitalen Gesundheitsanwendungen abgesehen – nicht zu einem Anspruch auf Behandlung im Rahmen der Regelversorgung. Ob beispielsweise die Kosten für eine Ernährungs- oder Bewegungstherapie übernommen werden, hängt von der individuellen Zustimmung der Krankenkasse ab. Andere Therapieoptionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet – und das, obwohl wir mit den Wirkstoffen aus der Gruppe der Inkretin-Mimetika erstmals sehr wirksame, zugelassene und zugleich gut verträgliche Medikamente haben. Diese Gesamtsituation erschwert eine evidenzbasierte Behandlung der Betroffenen und steht einer dauerhaften Therapie oftmals im Weg. Das in Arbeit befindliche DMP Adipositas soll die Versorgungslücke verringern. Ob das gelingt, steht auf einem anderen Blatt.

Wer soll von diesem DMP am meisten profitieren?
Entscheidend wird sein, welche Zugangsvoraussetzungen gestellt werden, damit Patient:innen sich einschreiben können und welche Therapie-Optionen bei welcher Indikation offen stehen. Sinn und Zweck von DMP ist grundsätzlich die "Vermeidung von Folgeschäden" einer chronischen Erkrankung. Schon daraus folgt, dass die Zugangskriterien für Betroffene möglichst niedrigschwellig sein müssen – denn ein DMP, das beispielsweise erst bei bereits schwerwiegenden Folgeerkrankungen zur Verfügung steht, würde diese Zielsetzung von vornherein verfehlen. Grundsätzlich gilt: Je früher das chronische Fortschreiten der Adipositas Erkrankung unterbrochen werden kann, desto größer ist die Chance, dass Patient:innen ein gesundes Körpergewicht erreichen und dieses auch dauerhaft halten können.

Welche Widerstände waren oder sind zu überwinden, um das Programm auf den Weg zu bringen?
Viele Jahre haperte es schon an der Anerkennung der Adipositas als eigenständige Erkrankung. Auf internationaler Ebene bestand längst Konsens, dass Adipositas sowohl ein Risikofaktor als auch eine eigenständige chronische Erkrankung ist. Der Deutsche Bundestag hat die Adipositas aber erst im Jahr 2020 als Erkrankung anerkannt. Nun gilt es, weitere Widerstände zu überwinden, um die Versorgungssituation grundlegend zu verbessern. Zum einen ist da die Diskussion um die Zugangskriterien für das DMP, wie bereits erwähnt. Zum anderen ist die Kostenübernahme für die begleitende Arzneimitteltherapie derzeit per Gesetz ausgeschlossen. Solange keine Änderung im fünften Sozialgesetzbuch erfolgt, wird das DMP Adipositas keine Erstattungsfähigkeit für diese Therapieoption herbeiführen können. Das wäre aber von großer Bedeutung, denn die Kosten liegen momentan bei mindestens 80-90 Euro pro Monat.

Wann werden Versicherte das DMP in Anspruch nehmen können?
Das neue DMP Adipositas soll gemäß Gesetzesbeschluss bis Mitte 2023 vorliegen. Doch es ist noch noch nicht gesichert, dass Menschen mit Adipositas das DMP dann auch in Anspruch werden nehmen können. Neue DMPs können in der Versorgung erst ankommen, wenn die Krankenkassen sie in regionalen Verträgen umsetzen. Bei mehreren seit 2018 vom G-BA vorgelegten DMP ist dies bis heute nicht passiert. Manchmal hakt es an Details. Es spricht aber auch viel dafür, dass die aktuelle Systematik der Ausgleichszahlungen nicht genügend Anreize zur Umsetzung bietet. Hier sollte der Gesetzgeber nochmal genau hinsehen. Das DMP Adipositas darf nicht das gleiche Schicksal ereilen wie zuletzt mehrere andere Programme – die zwar im Detail ausgearbeitet wurden aber bis heute nicht in der Versorgung angekommen sind.

Wie steht es um die Nachsorge nach einer Magen-OP? Wird auch das Gegenstand des DMP sein?
Nach einer Operation ist eine lebenslange strukturierte Nachsorge mit Ernährungsberatung, Kontrolle der Körperzusammensetzung (Fett- und Muskelmasse) sowie regelmäßigen Analysen der Blutwerte nötig, um etwaige Mangelzustände aufzudecken. Die Zentren für Bariatrische Chirurgie können den stetig steigenden Bedarf an Nachsorge längst nicht mehr decken. In der ambulanten Versorgung durch z.B. Hausärzt:innen belasten die benötigten Analysen der Blutwerte das Budget. Zudem müssen auch die Kosten für Nahrungsergänzungsmittel, die Betroffene lebenslang einnehmen müssen, nicht von den Kassen übernommen werden. Wir hoffen, dass einige dieser Probleme mit dem DMP gelöst werden können.

Welche besondere Rolle spielen denn die Diabetologen, die Hausärzte und die Diabetesberaterinnen bei der Adipositas-Behandlung?
Wie genau die Aufgabenteilung zwischen den Versorgungsstufen sein wird, wird noch Gegenstand der Diskussion sein. Hausärztinnen und Hausärzte sind in aller Regel die ersten Ansprechpartner der Betroffenen. In den Diabetes-Schwerpunktpraxen gibt es bereits jetzt einen großen Erfahrungsschatz in der Behandlung von Menschen mit Adipositas. Schließlich sind die beiden Erkrankungen eng miteinander verwoben. Aus meiner Sicht spricht viel dafür, den Diabetes-Praxen eine zentrale Rolle in der künftigen Adipositasversorgung zu verleihen.

Und, zu guter Letzt, wie könnten denn geeignete Präventionsmaßnahmen aussehen und auch in der Gesellschaft verankert werden?
Die WHO Europa hat kürzlich ihren Adipositasbericht 2022 vorgestellt und darauf hingewiesen, dass die Adipositas-Epidemie umkehrbar ist – wenn geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen werden. In der Fülle der möglichen Interventionen hat die WHO besonders vielversprechende Sofortmaßnahmen hervorgehoben. Unter anderem nennt die WHO die Besteuerung von gezuckerten Getränken, die Subventionierung gesunder Lebensmittel, die Beschränkung der Vermarktung von ungesunden Lebensmitteln an Kinder sowie auch die Verbesserung des Zugangs zu Angeboten zur Adipositastherapie im Rahmen der Regelversorgung. In allen diesen Bereichen besteht in Deutschland erhebliches Nachholpotenzial.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Aberle!


Redaktion VDBD

Interview:
Matthias Heinz
Redaktion Diabetes-Forum
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (1/2) Seite 20-21