Bei der postoperativen kognitiven Dysfunktion handelt es sichum eine häufig auftretende Komplikation insbesondere bei Menschen mit Diabetes. Was es mit Risikostratifizierung, Strategieplanung und der Prävention alles auf sich hat, weiß Professorin Vera von Dossow.

Trotz der kontinuierlichen Fortschritte in der Behandlung des Diabetes mellitus haben Patienten mit Diabetes überdurchschnittlich häufig kardiovaskuläre Komorbiditäten und müssen sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen. Diabetes mellitus ist außerdem ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung postoperativer Komplikationen, wie zum Beispiel postoperatives Delir und kognitive Dysfunktion. Diese können sich langfristig auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken. Neben dem erhöhten Risiko für postoperative Komplikationen haben Patienten mit Diabetes in der Regel auch eine längere Kranken-hausverweildauer und eine erhöhte 1-Jahres-Sterblichkeit. Als Ursache kommen vor allem eine mangelhafte perioperative Blutzuckereinstellung und die Insulinresistenz als konsekutive Folge des Postaggressionsstoffwechsels in Betracht. Aber auch eine Vielzahl weiterer perioperativer Faktoren wie z.B. Blutdruckschwankungen und das Ausmaß der perioperativen Inflammationsreaktion können den Glukosestoffwechsel durch die erhöhte Stressreaktion negativ beeinflussen. Ein erweitertes, vorausschauendes perioperatives Management mit frühzeitiger Risikostratifizierung und Optimierung dieser Patienten sowie eine sorgfältige Strategieplanung stellen somit eine unverzichtbare Maßnahme dar, um das Risiko für Komplikationen nach herzchi-rurgischen Eingriffen bei Patienten mit Diabetes zu reduzieren.

Der herzchirurgische Patient mit Diabetes mellitus

Die Prävalenz des Diabetes mellitus beträgt in Deutschland über 10%, wobei der Typ-2-Diabetes mit ca. 95% der Fälle dem Großteil der Manifestationen zugrunde liegt. Bei einem ungebrochenen Fortschreiten der aktuellen Entwicklung erwarten Experten eine Steigerung um fast 50% bis zum Jahre 2040.

Seit Jahren ist eine stetige Zunahme diabetischer Patienten vor allem in der Koronarchirurgie zu verzeichnen. Als Ursache für diesen Anstieg sind vor allem die demographische Entwicklung und die epidemiologische Entwicklung der Krankheit Diabetes mellitus zu sehen. Bei Patienten, die sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen müssen, liegt die Prävalenz in westlichen Ländern schon heute bei etwa 20%, bei koronaren Herzerkrankungen bereits deutlich über 30%. Zudem gibt es eine substanziell große Anzahl von Patienten mit unentdecktem Diabetes mellitus, die in die Herzchirurgie eingewiesen werden. Gleichzeitig ist Diabetes ein etablierter und unabhängiger Risikofaktor für ein schlechteres Outcome nach herzchirurgischen Eingriffen. Dafür werden sowohl die generelle Krankheitslast durch Komorbiditäten des Diabetes mellitus verantwortlich gemacht, wie beispielsweise Mikro- und Makroangiopathie, Neuropathie und der gestörte Metabolismus, als auch die Auswirkungen auf die operativen Zielstrukturen, insbesondere bei koronaren Bypässen.

Die Symptomkonstellation eines metabolischen Syndroms mit Hyperglykämie, chronisch-latenter systemischer Inflammation, Neigung zur Atherosklerose in Verbindung mit einem insgesamt eher inaktiven Lebensstil und adipösem Ernährungszustand ist sowohl für sich genommen Risikofaktor für eine langfristig defizitäre Entwicklung, als auch deletär hinsichtlich der Stresstoleranz im Rahmen eines chirurgischen Eingriffs. Gleichzeitig geht damit aber auch ein erhöhtes Risiko für strukturelle Herzerkrankungen einher, die potenziell herzchirurgischer Intervention bedürfen. Aber auch Typ-1-Diabetiker ohne das Vollbild eines metabolischen Syndroms haben ein erhöhtes Risiko, wenn die Blutzuckereinstellung keine adäquate glykämische Kontrolle bietet. Dieses Ziel ist gerade in der Perioperativphase besonders anspruchsvoll.

Neuroendokrine Stressreaktion und systemische Inflammation bei herzchirurgischen Eingriffen

Die inflammatorische Antwort nach einem operativen Eingriff bildet das biologische Bindeglied zwischen Operationen, dem anästhesiologischen perioperativen Management und dem Outcome. Unterstützt wird diese Hypothese durch die Immunreaktivität im Rahmen der Pathogenese vieler chronischer Erkrankungen, z. B. der Arteriosklerose, Diabetes mellitus und einer Vielzahl an Autoimmunerkrankungen. Der operative Eingriff und die Wahl des Anästhesieverfahrens per se können ebenfalls die Immunreaktivität multifaktoriell und komplex beeinflussen. Diese Faktoren inkludieren Angst, Gewebetrauma, Hypothermie, Medikamente, Bluttransfusionen, Schmerz, Infektionen und Hyperglykämie, die zu einer ausgeprägten neuroendokrinen Stressimmunantwort führen können. Klinisch manifestiert sich eine systemische inflammatorische Entzündungsreaktion (SIRS), die neben günstigen Effekten, wie der verbesserten Wundheilung oder Geweberegeneration, auch komplexe immunsuppressive Wirkungen aufweist. Die Folge ist eine überschießende und/oder abgeschwächte Immunreaktivität unmittelbar nach der Operation, die jeweils mit einem erhöhten Risiko für Komplikationen einhergehen.

Vor allem bei herzchirurgischen Eingriffen ist häufig eine systemische inflammatorische Entzündungsreaktion zu beobachten. Als auslösende Faktoren kommen neben der Verwendung der extrakorporalen Herz-Lungenmaschine (Blutkontakt mit künstlichen Flächen und Scherstress, Autotransfusion aufbereiteten Blutes) auch endotheliale Reaktionen, ausgelöst durch oxidativen Stress bei Ischämie/Reperfusionssyndromen, sowie das Ausmaß des chirurgischen Traumas in Betracht. Die Folge ist eine postoperative Dynamik unter anderem für die pro- und antiinflammatorischen Zytokine IL-6, IL-8 und IL-10, sowie für das C-reaktive Protein. Eine postoperativ anhaltend veränderte Immunreaktivität ist mit einem erhöhten Risiko für postoperative Infektionen assoziiert.

Systemisch-generalisierte Inflammationsreaktion fördert konsekutiv Stresshyperglykämie

Erkrankungen wie Diabetes mellitus können per se mit einer chronischen Inflammation einhergehen. Unter vielfältigen molekularen Reaktionen werden Zytokine wie TNF-alpha, IL-1, IL-6 und IL-8 sowie lösliche TNF-Rezeptoren und CRP hochreguliert. Mit der systemisch-generalisierten Inflammationsreaktion nach herzchirurgischen Eingriffen kommt es weiterhin zum sogenannten Postaggressionsstoffwechsel und konsekutiv zu einer Stresshyperglykämie. Pathophysiologisch ist diese ausgelöst durch Cortisol-, Glukagon- und Somatotriptin-vermittelte endokrine Effekte. Durch die vegetative Einstellung auf einen erhöhten Sympathikotonus wird der Metabolismus hin zu einer erhöhten Bereitstellung von Nährstoffen reguliert. Die geschieht durch Stimulation von Glykogenolyse, Gluconeogenese, Lipolyse und Proteinkatabolismus bei gleichzeitig erhöhter peripherer Insulinresistenz. Dieser grundsätzlich physiologische Vorgang kann in diabetisch konditionierten Patienten zu einer überschießenden Dysregulation des Glukosestoffwechsels führen.

Glukosevariablität, oxidativer Stress und Neuroinflammation

Neben der systemischen Inflammation und den Auswirkungen auf den Postaggressionsstoffwechsel sind die Mechanismen der Glukosevariabilität und Neuroinflammation und der Translation zum menschlichen Gehirn bislang nur in tierexperimentellen Studien untersucht worden. Allerdings ist es evident, dass eine länger vorbestehende Glukosevariabilität mit Einschränkungen der kognitiven Funktion assoziiert sein kann. Vor allem Patienten mit Typ-2-Diabetes weisen bei länger anhaltender Glukosevariabilität kognitive Funktionsstörungen auf. Große Kohortenstudien belegen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung der Alzheimer-Erkrankung. Eine Vielzahl an Studien belegen zudem für eine höhere Glukosevariabilität ein schlechteres neurologisches Outcome und eine erhöhte Sterblichkeit. (Abb. 1)

Klinische Implikationen für das perioperative Management

Aus diesen komplexen Interaktionen ergeben sich klinisch wichtige Implikationen für Patienten mit Diabetes, die sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen. Das Zusammenspiel aus vorbestehendem chronischen Inflammationszustand, perioperativer Stress-Immunreaktion durch Beeinflussung des chirurgischen Traumas und der Wahl der Anästhesieverfahren, sowie Glukosevariabilität und postoperative Insulinresistenz kann mit einer erheblichen Neuroinflammation assoziiert sein und sich negativ auf das kognitive Outcome der Patienten auswirken. Die Folgen sind ein höheres Risiko für die frühe Entwicklung eines postoperativen Delirs in den ersten 72 Stunden nach einem herzchirurgischen Eingriff, sowie für das Auftreten einer kognitiven Dysfunktion, die über mehrere Jahre anhalten kann. Das postoperative Delir per se ist mit einer erhöhten Beatmungsdauer auf der Intensivstation, mit einem prolongierten Intensivstationsaufenthalt und einer erhöhten 1-Jahres-Sterblichkeit assoziiert. Das Auftreten ist assoziiert mit vielen verschiedenen Einflussfaktoren, die Gegenstand aktueller Forschung sind.

Frühes Risikomanagement als Chance

Die Vielzahl der Einflussfaktoren auf die Inzidenz postoperativer Komplikationen verlangen in logischer Konsequenz nach einem multimodalen, holistischen Behandlungsansatz. Voraussetzung dafür ist die primäre Identifikation vulnerabler Patienten, durch Bestimmung des Fried’schen Frailty-Phänotyps, der Erfassung von Komorbiditäten und Exploration weiterer, auch psychologischer Ressourcen. Mit dem Wissen um die Vulnerabilität können im Verlaufe der operativen Versorgung grundsätzliche Vorkehrungen getroffen werden, wie u.a. der Verzicht auf eine Prämedikation mit Benzodiazepinen, kurze Nüchternzeiten für klare Flüssigkeiten (bis zu 2 Stunden präoperativ), eine möglichst geringe Narkosezeit, frühe Extubation im Sinne eines Ultra-Fast-Track-Konzepts, adäquate, Opioid-sparende Schmerztherapie sowie Unterstützung bei der Reorientierung nach erfolgtem Eingriff. Eine Teilnahme an "Early Recovery After Surgery" (ERAS)-Programmen leistet hier einen wichtigen Beitrag, Patienten nach erfolgtem Eingriff möglichst schnell wieder zu ihrem Ausgangsniveau zurückzuführen. (Abb. 2)

Präoperative Optimierung durch bessere Einstellung von Blutdruck- und Blutzuckerprofilen ist zentral im Management postoperativer Komplikationen. Je früher die Risikoevaluation stattfindet, desto umfangreicher sind die Möglichkeiten, prophylaktisch tätig zu werden.

All diese Konzepte beziehen sich jedoch auf den Zeitraum unmittelbar vor und nach der OP. Auch wenn es in der derzeitigen Versorgungslandschaft nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen kaum abzubilden ist, besteht großes Potential bei der vorsorglichen Optimierung von Risikofaktoren und Organdysfunktion. Sind Patienten, die zu elektiven Operationen vorgestellt werden, z.B. bereits vier Wochen vor geplantem Eingriff ambulant an das Behandlungszentrum angebunden, ergeben sich daraus weitere Möglichkeiten zur präoperativen Optimierung. Mit einem "Early Risk Stratification and Strategy" (ERSAS)-Ansatz können so vulnerable Patienten frühzeitig identifiziert werden. In Zusammenarbeit mit primären Versorgungsstrukturen wie beispielsweise der Hausarztpraxis oder der einweisenden Facharztpraxis findet dann eine Einschätzung der relevanten Risikofaktoren statt. Wenn Möglichkeiten zur präoperativen Optimierung gegeben sind, beispielsweise durch eine bessere Einstellung von Blutdruck- und Blutzuckerprofilen, dann können diese in Zusammenarbeit aller Behandelnden im Rahmen eines patientenindividuellen Vorbereitungsprozesses umgesetzt werden. Auch Prähabilitationsprogramme zur Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit oder vorbereitende psychologische Betreuung sind denkbar.

Frühe Risikostratifizierung und Strategieplanung: Das ERSAS -Konzept

Das Early Risk Stratification and Strategy (ERSAS)-Konzept beinhaltet neben der frühen Erkennung von Organdysfunktionen auch deren Optimierung. Die frühe Risikostratifizierung spielt gerade bei herzchirurgischen Eingriffen eine wichtige Rolle zur Erkennung von organspezifischen Dysfunktionen:

  • Arterieller Hypertonus, diastolische Dysfunktion und Herzinsuffizienz, die bei Patienten mit Diabetes mellitus häufig sind, können sich negativ auf die perioperative Blutdrucksteuerung ("Risiko für labilen Blutdruck") auswirken. Somit ist die Erstellung eines präoperativen Herz-Kreislauf-Risikoprofils unabdingbar, um perioperativ eine patienten-individualisierte Kreislauf- und Flüssigkeits-/Volumentherapie festzulegen.
  • Die renale Funktion nimmt mit zunehmendem Alter aufgrund der reduzierten renalen Masse ab. Reduzierte Medikamentenelimination und geringer kompensatorischer Spielraum führen zu einem erhöhten Risiko für ein postoperatives Nierenversagen, das bei gleichzeitig bestehendem Diabetes weiter potenziert wird.
  • Bei allen Patienten mit Diabetes mellitus sollte grundsätzlich eine Risikostratifizierung durch eine HbA1c-Bestimmung erfolgen.
  • Ein strukturiertes Frailty-Assessment erweitert den Blick auf den Patienten um seine Ressourcen im Alltag und über die reinen Komorbiditäten hinaus.

Patienten mit Diabetes, die sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen, haben durch das Zusammenspiel der stressinduzierten Inflammationsreaktion und den konsekutiven Auswirkungen auf den Glukosestoffwechsel ein erhöhtes Risiko für Endorgandysfunktionen wie Kognitionsstörungen, Nierenversagen und systemische oder lokale Inflammation und Infektion. Eine sorgfältige Risikostratifizierung mit dem Ziel einer individuellen Versorgungsstrategie ist in diesem Kontext besonders wichtig.

Spezialisierung

In der Herzchirurgie, deren Patientenkollektiv bereits jetzt ein Medianalter von über 70 Jahren hat, ist eine Spezialisierung nicht nur auf Herzerkrankte, sondern auf multimorbide Patienten imperativ. Die Versorgung von Patienten mit Diabetes spielt dabei aufgrund der Inzidenz sowie der Prädisposition zu Herzerkrankungen eine besondere Rolle. Die Koinzidenz von Diabetes und Frailty ist derzeit noch unzureichend erforscht. Aus pathophysiologischer Sicht ist jedoch die diabetische Konditionierung ein potenter Faktor in der Entwicklung kognitiver wie funktioneller Frailty-Merkmale. Speziell geschulte Teams können hier in interdisziplinärer Zusammenarbeit schon früh im Behandlungsverlauf Einfluss nehmen. Primärpräventive Maßnahmen nehmen Patienten mit einem besonderen Blick auf ihre Ressourcen, ihre Selbstständigkeit und Lebensqualität in den Fokus und komplettieren damit das Angebot der hochspezialisierten Herzchirurgie.

Literatur über die Redaktion

Titelthema: Herz und Gefäße
Herz- und Gefäßprobleme können sich dramatisch auf die Prognose auswirken. Eine Verbesserung schafft kein Mediziner allein, die Lösung ist das Team. Was vor, während und nach einer Herz-Operation wichtig ist, um Komplikationen zu vermeiden, berichten Prof. Dr. Vera von Dossow und Janis Fliegenschmidt vom Institut für Anästhesiologie und Schmerztherapie im HDZ NRW, Bad Oeynhausen. Warum Diabetes ein zentraler Aspekt der Behandlung in Herzinsuffizienz-Zentren sein sollte, ist Thema des Interviews mit Prof. Dr. Dr. Wolfram Döhner von der Charité Berlin. Dr. Kathrin Niemöller von der Klinik für Angiologie in Dortmund macht darauf aufmerksam, dass Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit oft unterversorgt sind. Dr. Dr. Hans-Jürgen Bickmann aus Siegen und Prof. Dr. Dr. Diethelm Tschöpe aus Bad Oeynhausen beantworten im Interview aktuelle Fragen zur Digitalisierung. Dem Stellenwert der psychologischen Mitversorgung im klinischen Setting widmet sich der Beitrag von Adrian D. Grimshaw, Abteilung Medizinische Psychologie im HDZ NRW, Bad Oeynhausen.


Autoren:
Prof. Dr. med. Vera von Dossow, Janis Fliegenschmidt

Korrespondenzadresse

© privat
Prof. Dr. med. Vera von Dossow

Direktorin
Institut für Anästhesiologie und Schmerztherapiem
Diabeteszentrum NRW, Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochu
Georgstraße 11
32545 Bad Oeynhausent


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (7/8) Seite 11-14