Die neuesten Daten der PROTECT-Studie, die im Rahmen der Pressekonferenz der Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, verdeutlichen, wie wichtig die Aufklärung über die diabetische Neuropathie und die regelmäßige Untersuchung der Füße sind. Dies gilt insbesondere, wenn Warnsignale wie Kribbeln, Brennen, Taubheit oder Schmerzen an den Füßen auftreten.

Alarmierende Ergebnisse - Frühzeitiges Handeln ist entscheidend

Die alarmierenden Ergebnisse der Studie zeigen: Viele Menschen mit Diabetes sind von einer Neuropathie betroffen – häufig ohne es zu wissen. Dass frühzeitiges Handeln entscheidend ist, um einem Voranschreiten dieser Nervenschädigung entgegenwirken sowie schwerwiegende Komplikationen und Fußamputationen vermeiden zu können, bestätigten die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ auch in ihren Vorträgen. Zentrale Themen auf der Agenda waren: Neue Wege der Früherkennung und effektive Behandlungsmöglichkeiten bei der diabetischen Neuropathie sowie die Versorgungssituation des diabetischen Fußes in Deutschland.

Prof. Dr. med. Rüdiger Landgraf, Bevollmächtigter des Vorstands der Deutschen Diabetes-Stiftung (DDS), hob hervor: „Diese Aufklärungsinitiative leistet in Zusammenarbeit mit namhaften Diabetologen und Neurologen einen wichtigen Beitrag zur Prävention und Früherkennung einer peripheren Polyneuropathie, einer wesentlichen Ursache für die Entwick-lung eines Diabetischen Fußsyndroms bis hin zu Amputationen.“

Neue Daten der PROTECT-Studie: Hohe Neuropathie-Dunkelziffer bei Menschen mit und ohne Diabetes

Prof. Dr. med. Oliver Schnell, Geschäftsführender Vorstand der Forschergruppe Diabetes e.V. am Helmholtz Zentrum München und Kurator der Deutschen Diabetes-Stiftung, stellte die neueste Auswertung der fortlaufenden PROTECT-Studie¹ vor. Berücksichtigt wurden die Ergebnisse der Untersuchungen von insgesamt 1.589 Studienteilnehmern aus den Jahren 2013 bis 2015. Die Untersuchungen beinhalteten die Überprüfung von Temperatur-, Druck- und Vibrationswahrnehmung sowie die Palpation der Fußpulse. Zusätzlich wurden der Langzeitblutzucker (HbA1c-Wert) und der BMI erfasst und ausgewertet.

Ziel der PROTECT-Studie war es, die Prävalenz und die Risikofaktoren bei diagnostizierter und nicht diagnostizierter, schmerzhafter und schmerzloser distal sensorischer Polyneuropathie (DSPN) zu ermitteln. Die schmerzhafte DSPN wurde als Vorhandensein von DSPN mit Schmerz und/oder Brennen in den Füßen im Ruhezustand und die schmerzlose DSPN als Vorhandensein von DSPN mit Parästhesien, Taubheitsgefühl oder fehlenden Symptomen definiert. Die Ergebnisse der PROTECT-Studie sind alarmierend. Bei fast jedem zweiten Untersuchten zeigte sich ein Verdacht auf eine DSPN, die jeweils in zwei Dritteln der Fälle schmerzhaft bzw. zuvor nicht diagnostiziert worden war.

Die Auswertung der HbA1c-Werte ergab: Etwa jeder dritte der Untersuchten ohne diagnostizierten Diabetes hatte einen auffälligen HbA1c-Wert (≥ 5,7). „Da ein Drittel der Teilnehmer ohne bekannten Diabetes ein erhöhtes Diabetes-Risiko aufwies, sollten effektive Strategien zur Vermeidung der Unterdiagnose von Diabetes und Neuropathie implementiert werden“, empfahl Schnell.

Die Rolle der B-Vitamine

„Die B-Vitamine spielen bei Menschen mit Diabetes eine besonders wichtige Rolle. Ein Mangel oder eine unzureichende Verfügbarkeit fast aller B-Vitamine führt zu empfindlichen Störungen der Nervenfunktion“, erklärte Prof. Dr. med. Karlheinz Reiners, Facharzt für Neurologie, Würzburg. So hat das Vitamin B1 einen entscheidenden Einfluss auf das zentrale und das periphere Nervensystem. Im peripheren Nervensystem ist Vitamin B1 vor allem für die Erregungsleitung im Nerven und die Aufrechterhaltung der Muskulatur verantwortlich. Hier erzeugt ein Vitamin B1-Mangel vor allem eine axonale Neuropathie und Muskelatrophie, die an den distalen Beinmuskeln durch die axonale motorische Polyneuropathie nochmals akzentuiert wird.

Hochdosiert führt B1 zu einem verminderten Anfall von Advanced Glycation Endproducts (AGE). Auf oralem Weg ist eine entsprechend hoch dosierte Behandlung durch Gabe der gut bioverfügbaren Vitamin B1-Vorstufe Benfotiamin möglich. Dies stellt einen pathogenetisch gesicherten Weg zur Reduktion diabetischer Komplikationen, insbesondere der diabetischen Neuropathie, dar. Reiners wies darauf hin, dass Menschen mit Diabetes auch überproportional häufig an einem Vitamin B12-Mangel leiden, der unter anderem mit der Dosis und Dauer der Metformin-Behandlung oder der Einnahme von Protonenpumpen-Hemmern korreliere. Dieser Mangel könne eine diabetische Neuropathie verstärken. Daher sei bei diesen Patienten die Überprüfung der Vitamin B12-Spiegel und der von Vitamin B12 abhängigen Metabolite sinnvoll. Reiners erklärte, dass eine hochdosierte tägliche orale Gabe von Vitamin B12 als therapeutisch gleichwertig mit der Substitution durch die klassische Injektionsbehandlung anzusehen sei.

„Anders als in den meisten Organsystemen kann die Zahl der Nervenzellen im Verlauf des Lebens nicht mehr zunehmen. Das heißt, ein Nervenzellverlust kann zu keinem Zeitpunkt mehr kompensiert und eine axonale Degeneration nur selten wieder „repariert“ werden. Dies macht eine Früherkennung von kritischen Versorgungssituationen aller genannten B-Vitamine bei Diabetikern überragend wichtig“, betonte Reiners.

Neue Wege in der Früherkennung

Etwa jeder dritte Diabetiker ist von der distalsymmetrischen sensomotorischen Polyneuropathie (DSNP) betroffen, die mit quälenden neuropathischen Schmerzen, schmerzlosen Fußulzera, erhöhter kardiovaskulärer Sterblichkeit und eingeschränkter Lebensqualität einhergeht. Über die Früherkennung der diabetischen Neuropathie referierte Prof. Dr. med. Dan Ziegler, Stv. Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes-Zentrums der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Diabetes und Nervensystem“ der DDG. Ziegler betonte in seinem Vortrag, wie wichtig die frühzeitige Erkennung der Nervenstörung sei, um eine Therapie und Sekundärpräventionen rechtzeitig einzuleiten. Er stellte zwei neue Untersuchungsmethoden in der Diagnostik von Neuropathien vor: die Hautbiopsie (3 mm Stanzbiopsie) und die konfokale Laser-Scanning Cornea-Mikroskopie (CCM).

Die Hautbiopsie beschrieb er als Methode zur Quantifizierung der intraepidermalen Nervenfaserdich-te an den distalen unteren Extremitäten. Mehrere Studien hätten eine Verminderung der intraepidermalen Nervenfaserdichte und der epidermalen Nervenfaserbündel bei Patienten mit Neu-ropathie nachweisen können. Die CCM sei eine nicht invasive Methode zur Quantifizierung des subbaselen Nervenplexus der Hornhaut in vivo. Die Abnahme der Länge und Dichte der Nervenfasern in der Hornhaut korreliere in der Regel mit dem Schweregrad der DSPN.

„Die mit diesen Methoden gewonnenen Daten weisen darauf hin, dass die Neuropathie keinesfalls eine „Spätkomplikation“ des Diabetes, sondern frühzeitig durch strukturelle Veränderungen nachweisbar ist. Neue Marker für oxidativen Stress, subklinische Inflammation und CCM könnten zukünftig zur Ver-besserung der Ansprechraten gegenüber neuen, pathogenetisch orientierten Therapieansätzen beitragen“, schloss Ziegler.

Die diabetische Neuropathie in der Praxis – Klinik und Therapie

„Die Therapie der sensomotorischen diabetischen Neuropathie ist eine der großen Herausforderungen im Praxisalltag“, erklärte Prof. Dr. med. Kristian Rett, Chefarzt, Abteilung Endokrinologie und Diabetologie, Krankenhaus Frankfurt-Sachsenhausen, in seinem Vortrag. Die Behandlung der Neuropathie umfasse nicht-medikamentöse und medikamentöse Maßnahmen. Als Grundlage für die medikamentöse Therapie einer Neuropathie beschrieb er das 3-Säulen-Schema, das die individualisierte Diabetes-Therapie, die pathogenetisch orientierte sowie die symptomatische Therapie umfasst.

Ausgangspunkt jeder kausal orientierten Behandlung sei, laut Rett, der Überschuss am Substrat Glukose. Wenn der Substratdruck nicht mehr bewältigt werden könne, komme es zu einem „Überlauf“ in die vier Seitenarme der Glykolyse: Polyol-, Hexosamin-, Proteinkinase-C- und AGE-Stoff-wechselweg, die auf unterschiedlichen Wegen zu einer Gewebeschädigung führen. Er betonte die Wichtigkeit des direkten Substratentzugs (Säule 1:Blutglukosesenkung) und des indirekten Substratentzugs, den die 2. Therapiesäule zum Ziel hat: Durch die Gabe von Benfotiamin, einem fettlöslichen, ausgezeichnet resorbierbaren Thiamin-(Vitamin B1-)Derivat, wird das Enzym Transketolase aktiviert, das überschüssige Glukose dem unschädlichen Pentosephosphatweg zuführt. Dadurch werden die schädlichen Glykolyse-Seitenarme umgangen.

„In zwei randomisierten und kontrollierten Studien (RCT) hat Benfotiamin schmerzhafte und sensorische Symptome der diabetischen Neuropathie verbessert“, erklärte Rett. Dabei berief er sich auf die BEDIP-2 und die BENDIP3-Studie, die beide eine signifikante Verbesserung der Symptome zeigten.

Abschließend sprach sich Rett für einen möglichst frühzeitigen Beginn der symptomatischen Therapie der schmerzhaften Polyneuropathie aus. „Die Wahl der Arzneimittel soll die maximale Wirkung beim geringsten Nebenwirkungsprofil erlauben, was eine individualisierte Titration erfordert“, so der Diabetologe. Wichtig bei der Behandlung sei zudem die realistische Formulierung von Zielen, um den Patienten vor Enttäuschungen zu bewahren.

Versorgungssituation des Diabetischen Fußes in Deutschland

Alle 15 Minuten wird in Deutschland eine Diabetes-assoziierte Amputation vorgenommen. „Insgesamt muss in Deutschland von rund 50.000 nicht-traumatischen Amputationen bei Menschen mit einem Diabetes mellitus ausgegangen werden“, erklärte Prof. Dr. med. Ralf Lobmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Klinikum Stuttgart. In seinem Vortrag widmete er sich dem Ressourcenaufwand der Behandlung des Diabetischen Fußes und ging auf die Komplexität des Krankheitsbildes ein. Gleichzeitig sprach er sich gegen die Substitution des Arztes durch nicht-ärztliche Mitarbeiter aus. Dies würde weder der Verbesserung der Patientenversorgung noch der Kosteneinsparung dienen und überschreite oft die Grenzen zu grundsätzlichen ärztlichen Aufgaben.

Ideal für den Patienten wäre ein multi- und interdisziplinäres Setting. „Eine frühzeitige und koordi-nierte sowie strukturierte Wundversorgung kann bis zu 80 Prozent der Fälle des diabetischen Fußsyndroms zur Abheilung bringen“, so Lobmann. Je nach Graduierung des diabetischen Fußulkus kön-ne die Vorsorge und Versorgung so in unterschiedlichen Versorgungsstufen stattfinden: Entweder in der hausärztlichen Praxis, der Schwerpunktpraxis oder stationär.

Ebenfalls wichtig sei die Entwicklung von Netzwerkstrukturen, um die frühen Stadien der Läsion bei möglichst vielen Patienten zu entdecken, suffiziente Behandlungen durchführen zu können und das Fortschreiten in höhergradige Stadien zu verhindern.

Das Motto der Behandlung von Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom müsse „Kooperation statt Amputation“ lauten. Als zentrale Punkte für diese Kooperation nannte er transparenten Austausch, gemeinsam definierte Ziele sowie eine Koordinierung von Maßnahmen und Ressourcen.


Literatur
1. Ziegler D, Strom A, Landgraf R, Lobmann R, Reiners KH, Rett K, Schnell O. Nationale Aufklärungsinitiative (PROTECT-Studie): Schmerzhafte Polyneuropathie ist bei Menschen mit und ohne Diabetes häufig anzutreffen, bleibt aber vielfach unentdeckt. Präsentation der aktuellen Daten anlässlich der 51. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 4. und 5. Mai in Berlin
2. Benfotiamine in the Treatment of Diabetic Polyneuropathy; Haupt E et al. Int J Clin Pharmacol Ther. 2005, 43: 71-77
3. Benfotiamine in Diabetic Polyneuropathy; Stracke H et al., Exp Clin Endocrinol Diabetes. 2008 116:600-605.

Quelle: Pressemitteilung der Aufklärungsinitiative "Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?"