Diabetes mellitus Typ 2 ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, bei der die Therapie ständig kontrolliert und angepasst werden muss. Bislang gab es für diese Progression keine einheitliche Definition. Eine aktuelle Versorgungsforschungsstudie hat diese Lücke nun geschlossen und neue Erkenntnisse aus dem Therapiealltag der Patientinnen und Patienten in Deutschland gewonnen.

Die Ergebnisse einer neuen Versorgungsforschungsstudie können dazu beitragen, die Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes in Deutschland weiter zu verbessern. Einer der Autoren der Studie, Dr. Julian Witte, Bielefeld, stellte die Ergebnisse bei einer Livestream Presseveranstaltung von Novo Nordisk im Rahmen der interdisziplinären Veranstaltungsreihe Diabetes 2030 vor: Danach haben 55 Prozent der Patienten mit Typ 2 Diabetes innerhalb von fünf Jahren nach Therapiebeginn eine Progression bzw. Verschlechterung ihrer Erkrankung, nach zehn Jahren sind es 71 Prozent.

Neben bekannten soziodemographischen Faktoren wirken sich insbesondere Lebensstil-assoziierte Einflüsse, wie z.B. Übergewicht, negativ auf das Progressions- bzw. Verschlechterungsrisiko aus. Die Dauer der Versorgung in einem Disease Management Programm (DMP) und die medikamentöse Behandlung können das Risiko dagegen positiv beeinflussen. Die Studie wurde in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement der Universität Bielefeld, Prof. Dr. Wolfgang Greiner und mit Unterstützung von Novo Nordisk durchgeführt. Medizinisch-wissenschaftlich wurde sie von Prof. Dr. med. Dirk Müller-Wieland, Uniklinik RWTH Aachen, begleitet. [1]

Gibt es einen "natürlichen Krankheitsverlauf" bei Typ-2-Diabetes?

Wie lässt sich der natürliche Krankheitsverlauf bei Typ-2-Diabetes beschreiben, wie häufig kommt es zu einer Verschlechterung und was sind die Einflussfaktoren dafür? „Diese Fragen sind keineswegs trivial und standen ganz am Anfang unserer Untersuchungen“, erläuterte Witte. So habe es bis dato keine einheitliche Definition von Erkrankungsprogression bzw. Verschlechterung bei Typ-2-Diabetes geben. Außerdem hätten Daten aus dem Versorgungsalltag gefehlt, um Aussagen zu Häufigkeit und Einflussfaktoren auf das Risiko einer Progression bzw. Verschlechterung treffen zu können.

Im Rahmen einer retrospektiven Kohortenstudie begegneten die Forscher genau dieser Problematik. Eingeschossen wurden Erwachsene mit erstmalig dokumentierter Typ-2- Diagnose im Untersuchungszeitraum und einer Mindestbeobachtungsdauer von zwei Jahren, die wenigstens eine diabetesspezifische Medikation einnehmen. Die Forschenden definierten eine Verschlechterung als eine Intensivierung der Diabetestherapie, eine diabetesbedingte Aufnahme in ein Krankenhaus oder als Eintritt einer diabetes-spezifischen Komplikation, wie z.B. einer diabetischen Nephropathie (Nierenerkrankung). „Wir haben uns bewusst für diese eher konservative Definition entschieden. Komplikationen, die nicht direkt mit der Diabeteserkrankung dokumentiert sind, haben eine zu hohe Ungenauigkeit in die Auswertung gebracht“, erläutert Witte.

Nach zehn Jahren: Diabetesverschlechterung bei 70 Prozent der Typ 2 Diabetes Patientinnen und Patienten

Die Studienergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: 55 Prozent der Patientinnen und Patienten mit Typ 2 Diabetes haben innerhalb von fünf Jahren nach Therapiebeginn eine Progression bzw. Verschlechterung ihrer Erkrankung, nach zehn Jahren steigt die Zahl auf 71 Prozent. Bei 29 Prozent konnte keine Verschlechterung gemäß der zugrundeliegenden konservativen Definition dokumentiert werden. „Kardiovaskuläre Ereignisse, wie z.B. ein Schlaganfall, sind nicht diabetesspezifisch dokumentiert und daher nicht Teil unserer Definition“, so Witte. „Wir haben aber dennoch deren Häufigkeit untersucht.“

Danach konnte bei 34,6 Prozent der Patientinnen und Patienten ohne eine beobachtete Verschlechterung ein kardiovaskuläres Ereignis dokumentiert werden, in der Gruppe mit einer beobachteten Verschlechterung waren es 42,3 Prozent. „Daraus können wir schließen, dass die Primäranalyse potenziell die Häufigkeit einer Verschlechterung unterschätzt, da auch Patientinnen und Patienten ohne zuvor beobachtete Verschlechterung innerhalb von zehn Jahren nach Erkrankungsbeginn ein kardiovaskuläres Ereignis haben“, legte Witte dar.

Früher Beginn eines Disease Management Programms (DMP) reduziert das Risiko für eine Krankheitsverschlechterung

Doch welche Risikofaktoren begünstigen eine Verschlechterung? Neben bekannten soziodemographischen Einflussfaktoren haben insbesondere Lebensstil-assoziierte Einflussfaktoren sowie Vor- oder Begleiterkrankung Einfluss auf das Risiko einer Verschlechterung. So konnte im Detail gezeigt werden: Rauchen und starkes Übergewicht (Adipositas) gehen mit einem um 12 Prozent erhöhten Risiko für eine Verschlechterung einher. Allerdings werden hier nur die Fälle berücksichtigt, die auch gemäß ICD-10 kodiert sind. „Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer viel höher“, so Witte. Patientinnen und Patienten mit bestimmten kardiovaskulären sowie Lebensstil-assoziierten Vor- oder Begleiterkrankungen haben ebenfalls ein höheres Risiko für eine Progression bzw. Verschlechterung. So war das Risiko bei vorliegenden kardiovaskulären Erkrankungen um 15 Prozent erhöht.

Mit Blick auf eine zielgerichtete Risikoreduktion spielen vor allem die Versorgungsituation und die medikamentöse Therapie eine entscheidende Rolle: Anhand der Daten konnte gezeigt werden, dass unter Berücksichtigung verschiedener potenzieller Einflussfaktoren jedes Jahr, in dem eine Patientin oder ein Patient mit Typ-2-Diabetes in einem DMP eingeschrieben ist, mit einem Risikorückgang von acht Prozent einhergeht. Eine frühzeitige medikamentöse Behandlung (2-Fach-Therapie gem. DDG-Leitlinie aus Metformin und einem weiteren Antidiabetikum außer Insulin) reduziert das Risiko um drei Prozent.

Real World Evidence – mehr Informationen für das große Ganze

Klinische Studien geben auf Patientenebene Aufschluss darüber, ob eine Behandlung die gewünschten Effekte erzielt und sind damit Bestandteil evidenzbasierter Medizin. Daten aus dem Versorgungsalltag der Patientinnen und Patienten sind zusätzlich notwendig, um Erkenntnisse auf Bevölkerungsebene zu gewinnen. Mit der aktuellen Versorgungsforschungsstudie ist es erstmalig gelungen verschiedene Aspekte der Typ 2 Diabetes Progression bzw. Verschlechterung zu dokumentieren.

„Die Ergebnisse liefern belastbare Hinweise, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, um die Versorgung der Menschen mit Diabetes in Deutschland weiter zu verbessern“, erklärte Witte abschließend. Interdisziplinäre Austausch-Plattformen wie Diabetes 2030 bieten dafür eine gute Grundlage.

Über Diabetes 2030
Diabetes 2030 versteht sich als Plattform eines zukunftsgerichteten und fortschrittsorientierten Austauschs zu gesundheitspolitischen, medizinisch-wissenschaftlichen sowie patientenbezogenen Themen im Bereich Diabetes und damit zusammenhängenden chronischen Erkrankungen. Ziel des Dialogs zwischen den einzelnen Interessensgruppen ist es, Schnittmengen zwischen Bereichen zu identifizieren, konkrete Lösungsansätze zu erarbeiten und so gemeinsam die Behandlung und damit die Prognose der Menschen mit Diabetes zu verbessern.

Referenzen
1. Deterioration of type 2 diabetes mellitus and associated risk factors – a retrospective cohort study 4 based on German claims data, 2008-2019 (WINDSOR-study, Worsening of diabetes mellitus and associated risk factors"), Data on file.

Quelle: Virtuelle Presseveranstaltung: Wie gut geht es Menschen mit Typ 2 Diabetes wirklich? Neue Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung, 23.09.2021 | Redaktion