Der Verlauf der Nervenfunktion bei Menschen mit Typ-2-Diabetes ähnelt dem physiologischen altersbedingten Abbau – vorausgesetzt, die Blutglukoseeinstellung ist gut. Dies zeigen Langzeitdaten des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ) und des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD). Entscheidend für die Entstehung diabetischer Neuropathien ist weniger die Stoffwechsellage nach der Diagnose, sondern vor allem der Zustand der Nerven zum Zeitpunkt der Erstdiagnose. Damit rücken die Früherkennung von Diabetes-Vorstufen und präventive Strategien für Risikogruppen noch stärker in den Fokus.

Die diabetische Polyneuropathie gilt als eine der häufigsten und klinisch relevantesten Komplikationen bei Diabetes mellitus. Sie betrifft vor allem periphere Nerven der unteren Extremitäten und kann sensorische und motorische Einschränkungen verursachen – bis hin zu chronischen Ulzera und Amputationen. Pathophysiologisch spielen persistierende Hyperglykämie, Adipositas sowie kardiometabolische Risikofaktoren wie Hypertonie und Dyslipidämie eine zentrale Rolle. Trotz intensiver Forschungsbemühungen existiert bislang keine kausale Therapie, die Progression verhindern oder Schäden reversibel machen könnte. Die aktuelle Versorgung konzentriert sich auf symptomorientierte Behandlungsansätze.

Pathogenese bereits vor Diagnosestellung

Klinische Beobachtungen hatten schon zuvor nahegelegt, dass selbst eine optimale glykämische Kontrolle die Entstehung diabetischer Neuropathien bei Typ-2-Diabetes nur begrenzt aufhalten kann – im Gegensatz zu Typ-1-Diabetes, wo ein früher Therapiebeginn nach klarer Symptomatik bessere Ergebnisse zeigt. „Typ-1-Diabetes wird oft frühzeitig erkannt und schnell behandelt, da die Erkrankung meist plötzlich und mit klaren Symptomen innerhalb weniger Tage bis Wochen auftritt. Typ-2-Diabetes hingegen bleibt oft über Jahre unentdeckt. Schon während dieser teils symptomlosen Phase kann es unbemerkt zu Schädigungen der Nerven kommen, die dann zum Zeitpunkt der Diagnose bereits bestehen“, erläutert Dr. Alexander Strom (DDZ), der gemeinsam mit Dr. Gidon Bönhof die aktuelle Studie leitete.

Untersucht wurden über zehn Jahre mehr als 140 Personen mit neu diagnostiziertem, sehr gut eingestelltem Typ-2-Diabetes. Regelmäßige Messungen der Nervenfunktion – insbesondere der Nervenleitgeschwindigkeit – wurden einer metabolisch gesunden Kontrollgruppe gegenübergestellt. Das Ergebnis: Die Geschwindigkeit des Funktionsverlustes war in beiden Kollektiven vergleichbar.

Ausgangszustand der Nerven als prognostischer Marker

„Unsere Daten zeigen, dass bei Menschen mit gut eingestelltem Typ-2-Diabetes das Risiko für eine Verschlechterung der Nervenfunktion vor allem vom Zustand der Nerven zum Zeitpunkt der Diagnose abhängt“, erklärt Prof. Michael Roden, wissenschaftlicher Geschäftsführer und Sprecher des Vorstands des DDZ sowie Direktor der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Insbesondere die Nervenleitgeschwindigkeit im ersten Jahr nach Diagnosestellung erweist sich als prognostisch relevanter Marker für die langfristige Funktionsentwicklung.

„Bei vielen Betroffenen scheint der entscheidende Schaden also bereits vor der eigentlichen Diagnose eines Typ-2-Diabetes entstanden zu sein“, ergänzt Strom. „Je stärker die Nerven schon bei der offiziellen Diagnose beeinträchtigt sind, desto früher wird eine Neuropathie im weiteren Lebensverlauf auftreten.“ Dies könnte zugleich eine Erklärung für das wiederholte Scheitern neuer Therapieansätze bei bereits manifester Neuropathie liefern. Gleichzeitig bergen die Ergebnisse auch positive Aspekte: Eine optimale glykämische Einstellung verhindert offenbar eine über den altersbedingten Verlauf hinausgehende Verschlechterung der Nervenfunktion.

Prävention und Frühdiagnostik als Schlüsselstrategien

Im Rahmen der Untersuchung wurde ein Prognose-Tool entwickelt, das den Zeitpunkt eines kritischen Funktionsverlusts der Nerven abschätzen kann. Dieses Modell integriert Alter und Ausgangsbefund und setzt eine stabile glykämische Kontrolle voraus. Ziel ist es, Hochrisikopatientinnen und -patienten frühzeitig zu identifizieren und präventiv zu betreuen.

Die aktuekllen Ergebnisse wurden im Fachjournal „Neurology“ unter dem Titel „Changes Over 10 Years in Peripheral Nerve Function in People with Well-Controlled Type 2 Diabetes and Those With Normal Glucose Tolerance“ veröffentlicht: https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000213780

Über die Deutsche Diabetes Studie
Die Ergebnisse stammen aus der Deutschen Diabetes Studie, die neu diagnostizierte Patientinnen und Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes über mindestens sieben Jahre begleitet. Erfasst werden frühe Marker von Folgekomplikationen, Effekte zugelassener Therapieoptionen sowie genetische Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf. Die Studie wird deutschlandweit an sieben Standorten des DZD durchgeführt, das DDZ übernimmt dabei die federführende Koordination.

Redaktion diabetologie-online
mit Materialien des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ)