Wenn wir mit Patient:innen sprechen, erfahren wir ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Diabetes. Für die einen ist der Diabetes der große Schicksalsschlag, der oft mit der Frage "Warum ich?" begleitet wird. Für andere ist der Diabetes eine Lebensaufgabe, die es zu bestehen gilt. Wieder andere nehmen den Diabetes sogar als Chance wahr – eine Chance, den eigenen Körper besser zu verstehen, eine Chance mit dem Diabetes ein "Frühwarnsystem" für Stresserleben zu haben. Was steckt hinter diesen verschiedenen Perspektiven und welche Rolle spielen die subjektiven Krankheitsmodelle für Patient:innen und Behandelnde?

Die subjektive Krankheitstheorie legt den Fokus auf das Erleben der Erkrankung. Entgegen der wissenschaftlichen Theorie ist das Ziel der subjektiven Krankheitstheorie keine allgemeingültige Beschreibung zu bieten, sondern die individuelle Bewältigung der Krankheit.

Was ist eine Subjektive Krankheitstheorie und warum ist sie wertvoll

Die Erkrankung soll in die eigene Biographie eingeordnet werden (Hartmannsgruber, 1992; Wiehe, 2004). Die subjektive Krankheitstheorie beschreibt, wie die Patient:in den Diabetes erlebt, und gibt Aufschluss, wie die Patient:in mit dem Diabetes umgeht. Dabei versucht die subjektive Krankheitstheorie auch "Antworten" bzw. Annahmen zu folgenden Aspekten zu geben (Leventhal, 1980):

  • Identität: Wer oder was ist der Diabetes für mich?
  • Kausalität: Warum ist der Diabetes da?
  • Zeitlicher Verlauf: Wie begleitet mich der Diabetes in meinem Leben? (Wie stark/bewusst wird der chronische Charakter des Diabetes im Hier und Jetzt wahrgenommen?)
  • Konsequenzen/Annahmen zu Heilung und Behandlung: Welche Rolle spielt für mich der Gedanke an Folgeerkrankungen?

Die Antworten auf die verschiedenen Fragen bestimmen für die Patient:in, welchen Raum, welche Rolle, welche Bedeutung der Diabetes im eigenen Leben einnimmt. Bei einer Erkrankung wie dem Diabetes, bei welchem das Selbstmanagement der Erkrankung im Fokus steht, können die Antworten in der subjektiven Krankheitstheorie auch das Selbstwirksamkeitserleben der Patient:in beeinflussen. Fühle ich mich beim Diabetes einer übergroßen Macht ausgeliefert oder empfinde ich den Diabetes als Aufgabe, die ich bestreiten kann?

Wie subjektive Krankheitsmodelle beim Diabetes aussehen könnte

Die wissenschaftliche Literatur kann keine vollständige Beschreibung von verschiedenen subjektiven Krankheitsmodellen leisten. Einen Einblick in verschiedenen Krankheitsmodelle bietet aus wissenschaftlicher Perspektive Katharina Wiehe, die subjektive Krankheitstheorien in Familien mit einem Kind mit Typ-1-Diabetes qualitativ untersuchte. Sie identifizierte sechs Krankheitstheorien bei 58 Familien (Wiehe, 2004). Darunter fallen beispielsweise "Diabetes als Lebensaufgabe" oder "Diabetes als Schicksalsschlag". Bei Familien, die Diabetes als Lebensaufgabe sahen, zeigte sich eine hohe Identifikation mit der Erkrankung und der Diabetes-Community und dabei auch ein hohes Engagement in der Therapie. Der Mensch mit Diabetes sieht sich in einer aktiven, handelnden Rolle, welche zu einer funktionalen Krankheitsbewältigung beitragen kann. Krankheitstheorien wie der "Schicksalsschlag" fokussieren im Diabetes-Erleben die wahrgenommene Belastung. Die Familien werden von einem starken Gefühl der Hilflosigkeit begleitet. Die Krankheitstheorie des "Schicksalsschlages" wird auch bei Erwachsenen oft mit der Frage "Warum ich?" begleitet. Diese Frage kann nie (zufriedenstellend) beantwortet werden und ist häufig hinderlich in der aktiven Krankheitsbewältigung. Können wir Ursache-Wirk-Ketten nachvollziehen, erleben wir ein Kontrollgefühl und somit auch bei unserem eigenen Handeln Selbstwirksamkeit. Beim Typ-1-Diabetes lohnt es sich dieses Kontrollgefühl vielmehr in der Krankheitsbewältigung zu suchen statt in der Krankheitsentstehung (Mohebi, Azadbakht, Feizi, Sharifirad & Kargar, 2013).

Die verschiedenen Coping-Mechanismen machen die Relevanz der subjektiven Krankheitstheorie in der Krankheitsbewältigung sichtbar. Je nach Betrachtung erleben sich Patient:innen in unterschiedlichem Maße selbstwirksam. In der wissenschaftlichen Literatur zeigt sich, dass Zuschreibungen des Diabetes als "Zufall" sich eher ungünstig auswirken, eine internale autonomieorientierte Kontrollzuschreibung wirkt sich förderlich für die Krankheitsbewältigung aus (Peyrot & Rubin, 1994).

Religion und Spiritualität

Auch religiöse und spirituelle Kontexte beeinflussen das Erleben von Gesundheit, Krankheit, den Umgang mit Leid und Tod. Spiritualität kann als eine sinnstiftende Lebenseinstellung verstanden werden, sie tritt neben die Religion und gilt als offen und erfahrungsorientiert. In Deutschland ordnen sich ca. 65% einer christlichen Religionsgemeinschaft zu, 27% bezeichnen sich als nicht gläubig, Atheisten oder Agnostiker, 3,5% sind Moslems, 5,4% gehören anderen Religionen an bzw. wissen es nicht, mit Unterschieden in der Verteilung zwischen West- und Ostdeutschland (Eurobarometer-Umfrage 2018). In modernen Gesellschaften sind wir unabhängig von einer bestehenden Kirchenmitgliedschaft mit vielen Spiritualitäten mit oder ohne Bindung an eine bestimmte Organisationsform von Religion konfrontiert. Menschen können religiös-traditionsgebunden, kritisch-religiös, religiös-spirituell-suchend, -interessiert oder -skeptisch oder in ihrer Haltung agnostisch oder atheistisch sein (Heller & Heller, 2018). In der ambulanten Langzeitversorgung chronisch Kranker wird aber oft weder Raum noch Zeit sein, eine "spirituelle Anamnese" durchzuführen, die helfen könnte, die Rolle religiöser oder spiritueller Vorstellungen bei der Krankheitsbewältigung, hier z.B. erwachsener Patient:innen mit Diabetes bzw. der Eltern erkrankter Kinder, zu verstehen. Zu bestimmten Zeitpunkten aber, z.B. die Aufnahme einer Rehabilitationsmaßnahme, bietet sich die Möglichkeit der "Ein-Frage-Methode: "Haben Sie religiöse oder spirituelle Bedürfnisse oder Sorgen im Zusammenhang mit ihrer Gesundheit?" (adaptiert nach Koenig, 2012). Wird so eine Frage verneint, wäre eine Folgefrage denkbar. Was dem eigenen Leben im Moment Sinn und Bedeutung gibt und ob es kulturelle Vorstellungen gibt, die für die Behandlung wichtig sein könnten, kann gefragt werden. Auch bei jungen Erwachsenen mit Diabetes wurde wissenschaftlich die Thematik der Spiritualität und Coping untersucht und als wichtiger Faktor identifiziert (Parsian & Dunning, 2008). Vorgeschlagen werden u.a. folgende Fragen: "Ist Spiritualität in ihrem Leben wichtig?", "Würden Sie gern darüber sprechen?" oder "Wie beeinflusst der Diabetes ihre Vorstellungen über das Leben?" (Parsian, 2009). Entscheidend ist eine offene, einfühlsame Art der Begegnung und Frage sowie Zeit, den Antworten zuzuhören. Die Voraussetzung, um als Expert:in eines Diabetesteams auch Fragen zu Religion und Spiritualität stellen zu können, ist die vorhergehende Beschäftigung mit diesem Thema. Als Start bietet sich z.B. eine Beschäftigung von Ritualen und Bräuchen der Religionen im Kontext von Medizin und Pflege an (Koenig, 2012).

Gerade bei der Diabetesbehandlung, die heutzutage durch die Digitalisierung der Therapiedaten zunehmend mehr mathematisiert, aggregiert und auch automatisiert werden kann, lohnt es sich an passender Stelle, Zeit für ein Gespräch zur "Geschichte der Krankheit" und auf Wunsch zu religiösen oder spirituellen Aspekten von Gesundheit und Krankheit zu investieren.

Aber wie kann Diabetes als Chance erlebt werden?

Als Behandelnde sind wir in einer schlechten Position, Patient:innen eine Chance in ihrer chronischen Erkrankung zu benennen. Nichtsdestotrotz dürfen und sollten wir bereit sein, auch diese Perspektive einzunehmen. Es gibt immer wieder Patient:innen, die eine subjektive Krankheitstheorie entwickeln, bei welcher der Diabetes als Chance wahrgenommen wird. Ein paar Beispiele, die wir aus dem Praxisalltag kennen: Der Diabetes wird als eine Chance wahrgenommen, ein besseres Verständnis für den eigenen Körper zu entwickeln. Körperfunktionen werden besser verstanden, Körperempfindungen werden früher erkannt. Ähnlich äußert sich auch die Theorie "Diabetes als Frühwarnsystems". Patient:innen berichten, dass der Diabetes für sie als Warnsystem vor psychischem Stress, dem Überschreiten eigener Grenzen oder sogar als Vorbote von Erkältungen o.ä. fungiert. Eine Patientin, bei der sich der Diabetes erst im Erwachsenenalter manifestierte, berichtete: "Früher bin ich oft über meine Grenzen gegangen, habe immer mehr Überstunden gesammelt und war komplett erledigt. Mit dem Diabetes geht das nicht mehr. Ich erkenne meinen Grenzen oder Belastungssituationen schneller und nehme sie auch an. Denn bei hohen Blutzuckerwerten kann ich mich sowieso nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren." Auch in manchen Familien wird der Diabetes als Chance wahrgenommen, allerdings häufig erst in der Retrospektive. Einzelne junge Erwachsene, die im Kindesalter ihre Diabetesdiagnose erhielten, berichten, dass sie der Diabetes selbstständiger gemacht habe. Der Diabetes habe sie gelehrt, auch schon früh Verantwortung für sich und die Erkrankung wahrzunehmen.

So schön die beschriebenen Beispiele sind, so unmöglich ist es, diese Perspektiven von Behandler:innen-Seite an die Patient:in zu übermitteln. Nichtsdestotrotz lohnt es sich für die Behandler:in, sich mit der subjektiven Krankheitstheorie der Patient:in auseinander zu setzen.

Wie kann der Behandelnde etwas über die subjektive Krankheitstheorie der Patient:in erfahren?

Sie können darauf achten, wie ihre Patient:in den Diabetes beschreibt, wie sie über den Diabetes redet. Um mehr darüber zu erfahren, wiederholen Sie die Beschreibungen/Begriffe der Patient:in ("Klotz am Bein"; "Der macht, was er will"), paraphrasieren Sie die Aussagen ("Das klingt, wie wenn der Diabetes ein Wesen mit eigenem Charakter wäre") und fragen Sie nach der Bedeutung für die Patient:in. Hilfreiche Fragen können Folgende sein:

  • Wie genau erleben Sie den Diabetes im Alltag?
  • Wie nehmen Sie den Diabetes wahr?
  • Angenommen es gäbe irgendeinen Sinn dahinter, dass Sie Diabetes haben, welcher könnte das sein?

Wenn mehr Zeit da ist:

  • Welche Form/Farbe/welches Lebewesen/welchen Charakter könnte Ihr Diabetes haben?
  • Welchen Namen würden Sie dem Diabetes geben, falls Sie das machen würden?
  • Arbeit mit Bildkarten oder den Diabetes zeichnen lassen (gerne auch bei Kindern)

Do‘s and Dont‘s beim Umgang mit subjektiven Krankheitstheorien

Do’s
  • Bleiben Sie im Bild der Patient:in. Nutzen Sie die Eigensprachlichkeit zur Verbesserung des Rapports sowie um gemeinsam Therapiehürden zu identifizieren und zu überwinden: "Wie würden Sie mit Ihrem Haustier umgehen, wenn es sich nicht so verhält, wie sie es sich wünschen?"
  • Stärken Sie funktionale subjektive Krankheitstheorien: "Ich finde es beeindruckend, dass Sie den Diabetes als Warnsystem für sich nutzen können. Das ist ja eine wertvolle Ressource für Ihren Alltag.
  • Nutzen Sie das Bild der Patient:in, um dysfunktionale Anteile der subjektiven Krankheitstheorie aufzubrechen: "Ich verstehe, dass Sie den Diabetes als beinahe nicht zu überwältigende Lebensaufgabe wahrnehmen. Gab es denn schon mal in ihrem beruflichen Leben eine Situation, bei der Sie eine überfordernde Aufgabe gelöst haben? Oder bei der es Ihnen gelungen ist trotz einer großen Aufgabe sich auch noch auf anderes zu konzentrieren, was Ihnen wichtig ist?
Dont‘s
  • Invalidieren Sie nicht das subjektive Krankheitsmodell: "Aber aus medizinischer Perspektive können Sie ja schon stark eingreifen." Zur Erinnerung: Ziel der subjektiven Krankheitstheorie ist nicht eine wissenschaftliche Beschreibung der Erkrankung, sondern die individuelle Krankheitsverarbeitung. Das Erleben der Patient:In ist in diesem Fall auch die Wahrheit der Patient:in. Das wissenschaftliche Modell darf neben der subjektiven Theorie stehen.
  • Ignorieren Sie dysfunkionale Krankheitsmodelle in der Behandlung nicht. Wenn Ihnen dysfunktionale Anteile im Krankheitsmodell auffallen, machen Sie diese zum Thema. Spiegeln Sie das Modell und suchen Sie ggf. "gute Gründe" für die dysfunktionalen Anteile: "Sie erleben in Ihrer Diabeteserkrankung auch viele Schuldgefühle. Wofür könnten die Schuldgefühle denn "gut" sein? Wozu sind denn Schuldgefühle in anderen Situationen gut?" (ggf. Psychoedukation zur Rolle von Schuldgefühlen und Wunsch nach Kontrollerleben geben)
  • Drücken Sie Ihrer Patient:in keine (subjektive) Krankheitstheorie auf: "Aber sehen Sie doch mal den Diabetes als Chance. Sie sind dadurch viel schneller selbstständig geworden."

Literatur
[1] Hartmannsgruber, L. (1992): Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien für die Behandlung des Typ-II-Diabetes. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 24 (2): 209 – 220.
[2] Heller B.; Heller, A. (2018): Spiritualität und Spiritual Care. Orientierung und Impulse. Hogrefe. 2.erweiterte Auflage
[4] Koenig. H. A. (2012): Spiritualität in den Gesundheitsberufen. Ein praxisorientierter Leitfaden. Kohlhammer. 1. Auflage
[5] Leventhal, H., Meyer, D., & Nerenz, D. (1980). The common sense representation of illness danger. In S. Rachman (Ed.),Contributions to medical psychology (Vol. II, pp.7–30). New York: Pergamon Press.
[6] Mohebi, S., Azadbakht, L., Feizi, A., Sharifirad, G., & Kargar, M. (2013). Review the key role of self-efficacy in diabetes care. Journal of education and health promotion, 2, 36. https://doi.org/10.4103/2277-9531.115827
[7] Parsian, N.; Dunnning, T- (2008): Spirituality and coping in young adults with diabetes. Abstract. Poster 182. Diabetes Research and Clinical Practice 79: 1-127
[8] Parsian, (2009): Spirituality and coping in young adults with diabetes. A transformational journey on diabetes management. Lambert Academic Publishing.
[9] Peyrot, M.; Rubin, R. (1994): Structure and correlates of diabetes-specific locus of control. Diabetes Care 17 (9): 994 – 1001


Autorinnen

© privat
Dr. Simone von Sengbusch

Uniklinik Schleswig-Holstein
Campus Lübeck
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

© privat
M. Sc. Psych. Laura Klinker

Bereich Psychodiabetologie
Diabetes-Klinik Bad Mergentheim

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (6) Seite 18-20