Es wird alles digitalisiert werden, was zu digitalisieren ist: das gilt natürlich auch für die Diabetologie. Wie weit sind wir jetzt damit, was müssen die Diabetesprofis alles beachten. In unserem Titelthema geben wir einen Überblick.

Computergestützte Software kann Entscheidungsunterstützung in Form von Mustererkennung und standardisierter Insulindosierung in Verbindung mit hoher Benutzerfreundlichkeit ermöglichen. In den Vereinigten Staaten ist bereits eine Vielzahl elektronischer Diabetes Dosiersysteme in Klinik und Praxis zugelassen, während dies hierzulande nur für Patienten zur häuslichen Anwendung bei spezifischen Therapien (z.B. Pumpe) zugelassen ist.

Tagebuch, Protokoll oder App?

Dabei erscheint es naheliegend die potenziellen Vorteile automatisierter Insulindosierungssysteme im Vergleich zu Papierprotokollen oder schriftlichen Handlungsempfehlungen (z.B. SOP´s) näher zu untersuchen. In Kliniken und Praxen gibt es hierzulande bislang erste Ansätze dieses Potential zu nutzen. In Ergänzung dazu bieten weitere Anwendungen automatisierte Einschätzungen der aufgenommenen Kohlehydratmenge, um die Empfehlungen zur Insulindosierung zu personalisieren (siehe Beitrag zu SNAQ von Aurelian Briner in diesem Schwerpunkt).

Beispiele für weit fortgeschrittene Entscheidungsunterstützung zur Verbesserung der Insulindosierung in Kliniken und Praxen der USA sind Glytec, Glucostablizer und EndoTool. In Deutschland ist bislang allein das System GlucoTab der österreichischen Firma Decide Clinical Software, einem Spin-off der Universität Graz, erhältlich (siehe Beitrag zu Glucotab von Frau Professor Mader in diesem Schwerpunkt).

Das eGlycemic Mangagement System (eGMS) der Firma Glytec auf der Basis des Glucommander-Algorithmus ist ein cloudbasiertes Blutzuckermanagementsystem, welches Software für den stationären und ambulanten Bereich bietet. Dieses Entscheidungsunterstützungssystem verfügt über eine Vielzahl von Optionen, einschließlich intravenöser, subkutaner und pädiatrischer Insulindosierungsalgorithmen. Das System bietet laut Hersteller eine nahtlose Integration mit der elektronischen Patientenakte (ePA) und anderen Schnittstellen der Klinik. Die Hoffnung ist, dass ein standardisierter, gut validierter Insulindosierungsalgorithmus zu einer Verringerung der Raten von Hypoglykämien und Hyperglykämien führen wird, indem er die Daten analysiert und wirksame Dosierungsempfehlungen in Echtzeit liefert. Die Softwarekomponenten des eGMS unterstützen dabei den einfachen Zugriff auf elektronische Dokumentationen des Patienten (SmartClick), ein Patientenfrüherkennungssystem (GlucoSurveillance), sowie intravenöse (IV) und subkutane (SubQ) Dosierungsempfehlungen (Glucommander) verbunden mit einer nachgesteuerten Datenanalyse (GlucoMetrics).

Glucostabilizer der Firma Medical Decision Networks ist ein Dosiersystem für Kliniken, das über einen Server innerhalb einer Klinik betrieben wird, der Glukoseergebnisse vernetzt, sodass sie von jedem Computer innerhalb des Krankenhausnetzwerks aus leicht zugänglich sind. Patienten können bei einer Insulininfusion über Einstellungen hinweg vom Operationssaal über die Intensivstation (ICU) bis hin zu einer Normalstation begleitet werden. Intravenöse Insulindosen werden entsprechend der Glukosewerte des Patienten zusammen mit der Bestätigung und Dokumentation durch das Pflegepersonal automatisch berechnet, um eine bessere Dosierung im Vergleich zu den herkömmlichen Papierprotokollen zu ermöglichen. Ähnlich wie andere Glukosemanagementsysteme soll Glucostabilizer die durchschnittliche Zeit bis zum Erreichen des glykämischen Ziels verkürzen, die Häufigkeit von Hypoglykämien verringern und die Anzahl der Patienten erhöhen, die eine stabile Stoffwechsellage erreichen. Glucostabilizer bietet auch ein Modul für subkutanes Insulin (CGS-SQ) zum Management der subkutanen Insulintherapie an.

Das EndoTool Glucoce Management System der Firma Monarch Medical Technologies ist eine Software zur Unterstützung klinischer Entscheidungen, die eine personalisierte Insulindosierung für intravenöse und subkutane Insulinabgabe bietet. EndoTool IV wurde für die intravenöse Insulinabgabe bei Erwachsenen und einen Kindern ab 2 Jahren entwickelt. EndoTool SubQ berechnet subkutane Insulindosisempfehlungen basierend auf mehreren Patientenvariablen wie Blutzucker, HbA1c, Diabetestyp, Größe, Gewicht, Kreatinin, Alter, Geschlecht und Kohlehydrataufnahme. Bei Verwendung von EndoTool SubQ zur Berechnung des Mahlzeiteninsulins kann das Programm zusätzlich zum Essen auf dem Tablett auch den Beitrag der enteralen und parenteralen Ernährung, sowie intravenöse Glukose berücksichtigen. Die Methode der Kohlehydratzählung kann individuell angepasst werden (z.B. Kohlenhydratportionen vs. Grammangaben), ebenso wird die tägliche Gesamtdosis für jeden Patienten neu berechnet.

Warum sollten wir Insulindosiersysteme verwenden?

Ein klarer Vorteil der Verwendung eines automatisierten Systems ist die Verfügbarkeit von Warnungen, die die Pflegekraft oder den Patienten daran erinnern, den BZ zu überprüfen, um rechtzeitig Insulinanpassungen vorzunehmen oder eine Hypoglykämie angemessen zu behandeln. Darüber hinaus werden Empfehlungen eines automatisierten Protokolls im Vergleich zu einem Papierprotokoll von den Nutzern eher eingehalten. Eine österreichische offene, nicht kontrollierte Interventionsstudie, die 2015 von Neubauer/Mader et al. veröffentlicht wurde und das die GlucoTab-Software zur computergestützten Entscheidungsunterstützung für die Insulindosisfindung bei 99 Patienten auf vier Nicht-Intensivstationen untersuchte, zeigte einen hohen Prozentsatz der Einhaltung eines vorgeschlagenen subkutanen Insulinprotokolls durch Ärzte und Pflegekräfte. Die Therapietreue der Pflegekräfte betrug 97 % für die Basal- und Bolusinsulindosierung. Noch wichtiger war, dass in einem Fragebogen nach der Studie 91 % (n = 65) der Anwender Vertrauen in das computergestützte Programm hatten, 89 % der Meinung waren, dass es in ihrem Arbeitsablauf praktisch zu verwenden sei, und 80 % glaubten, dass es Fehler bei der Insulinmedikation verhindern könne.

In einer retrospektiven Crossover-Beobachtungsstudie in den USA wurde der eGMS- Dosierungsalgorithmus mit einer vom Arzt schriftlich verordneten Basis/Bolus-Insulintherapie bei 993 Patienten auf Normalstationen in neun Krankenhäusern verglichen. Die Patienten wurden mit einer Basis-Bolus-Insulintherapie behandelt, wobei eine automatisierte Dosierempfehlung des eGMS -Systems verwendet wurde. Das Systems wies hierbei auf einem Bildschirm auf notwendige Anpassungen der Insulinverordnung hin, z. B. wenn der Patient nüchtern bleiben musste oder eine Hyperglykämie eine Korrekturdosis erforderte. Aktualisierte Dosierungen wurden automatisch dann für das Pflegepersonal neu berechnet.

Die Studie ergab, dass Patienten, die mit eGMS behandelt wurden, weniger Hypoglykämien hatten und mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Blutzuckerziele sicher erreichten. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass ein sicherer und effektiver computergestützter Dosierungsalgorithmus im stationären Umfeld die klinische Trägheit bei der Insulininitiierung und -titration verringern, die Dosierung standardisieren und den Arbeitsablauf in der Pflege verbessern könnte.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht das Roche Diagnostics USA und der US-Hersteller Glytec, dem Hersteller des eGMS, in 2022 eine strategische Partnerschaft eingegangen sind. Diese Partnerschaft von Glytec wird die Glucommander-Software des eGMS mit der Expertise von Roche im Bereich medizinischer Geräte und IT-Lösungen kombinieren, um die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem stationären Blutzuckermanagement am Krankenhausbett anzugehen. Glucommander wird die erste Softwareanwendung sein, die für das intelligente Krankenhaus-Blutzuckersystem Cobas Pulse von Roche der nächsten Generation in den USA verfügbar sein wird.

Unschätzbares Potential im Sinne der Patientensicherheit

Hier liegt auch für Kliniken und Praxen hierzulande ein unschätzbares Potential im Sinne der Patientensicherheit und Verbesserung der Stoffwechselkontrolle. Darüber hinaus werden digitale Dosiersysteme auch die ambulante Therapie unserer Patienten verbessern. Dadurch kann eine sektorüberschreitende Diabetestherapie die bisherigen Brüche überwinden. Wie sind Ihre Erfahrungen dazu? Bitte schreiben Sie uns: heinz@kirchheim-verlag.de

Schwerpunktthema: Die Digitalisierung der Insulindosierung

Ein diabetologisches Kernthema ist die Findung der korrekten Insulindosis. Verschiedene automatisierte Systeme bieten Entscheidungsunterstützung in Form von Glukosemustererkennung und standardisierter Insulindosierung sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich an. In diesem Schwerpunkt werden neben einer Übersicht zum Thema beispielhaft zwei Anwendungen aus Klinik und Praxis gezeigt, die unseren Umgang mit den komplexen Techniken der Dosistitration bei Insulintherapie sowie der Berechnung der Kohlehydrataufnahme verändern werden.

GlucoTab aus Österreich bietet ein komplettes Glukosemanagement für Kliniken auf der Basis von kapillären Messungen, SNAQ hilft durch Bilderkennung, Kohlehydrate zur individuellen Insulindosierung abzuschätzen. Hinter diesen Anwendungen stehen Algorithmen der sogenannten künstlichen Intelligenz, die dem professionellen Anwender den Alltag erleichtern und dem Patienten mehr Sicherheit bieten sollen.


Interview:
Dr. Bernd Liesenfeld
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie, Diabetologie, Angiologie
Oberarzt
Abteilung Innere Medizin II


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (9) Seite 11-14