Die Fachgesellschaften definieren Adipositas als Krankheit. Fraglich bleibt allerdings, ob eine regelhafte Abrechnung von qualifizierter Adipositastherapie in Zukunft möglich sein wird.

Unter Federführung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) in Kooperation mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) ist die neue wissenschaftliche S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie von Adipositas (Fettleibigkeit) zur Veröffentlichung freigegeben worden. Weitere Fachgesellschaften waren beratend eingebunden.

„Wir freuen uns, dass die neue Leitlinie zur Versorgung von Patienten mit Adipositas in Deutschland nun zur Verfügung steht, denn sie räumt mit einigen falschen Vorstellungen und Empfehlungen auf, die fast täglich in den Medien kursieren und Menschen mit Übergewicht verwirren.“, so Prof. Dr. med. Martin Wabitsch, Präsident der DAG.

Überfällig und wegweisend: Adipositas als Krankheit definiert

„Wichtig ist, dass die Adipositas nun als Krankheit definiert ist. Diese Feststellung ist überfällig und wegweisend. Denn sie ist die Voraussetzung dafür, dass fettleibigen Patienten mit Folgekrankheiten zukünftig eine kassenfinanzierte Therapie ermöglicht werden kann. Bislang hat man nur die Folgekrankheiten medikamentös behandelt, ohne die Ursache zu therapieren. Dies wird hoffentlich auch dazu beitragen, der weitverbreiteten Stigmatisierung Übergewichtiger im Alltag entgegen zu wirken“, fasst der Kinder- und Jugendarzt zusammen.

Wenngleich die Adipositas von vielen Institutionen als Krankheit gesehen wird, ist sie dennoch in unserem Gesundheitssystem nicht als Krankheit anerkannt und die Rechtsprechung ist anders: Therapeutische Leistungen bei Adipositas werden nach wie vor über § 43 Sozialgesetzbuch V (ergänzende Leistungen zur Rehabilitation) abgerechnet. Krankenkassen können, aber müssen somit eine qualifizierte Therapie nicht finanzieren, dokumentiert der aid Infodienst die derzeitige Situation.

Regelhafte Erstattung der Adipositastherapie gefordert

Dafür, dass sich dieses „Kann“ zukünftig in ein„Muss“ ändert, setzt sich die DAG auch politisch ein. Es müsse eine regelhafte Erstattung für qualifizierte Adipositastherapie geben, so die DAG; zumindest für Personen mit einem BMI von 35 oder größer und einer medizinischen Indikation für eine Gewichtsreduktion. Ein absolut begrüßenswertes Engagement für alle Betroffenen und Ernährungsfachkräfte, die sich täglich mit Abrechnungsproblemen herumschlagen müssen, heißt es weiter beim aid Infodienst.

Energiedefizit wichtiger als „low-fat“-oder „low-carb“

Geradezu revolutionär in der heutigen Zeit ist die Erkenntnis, dass die Zusammensetzung einer Reduktionskost hinsichtlich der Hauptnährstoffe Fett, Kohlenhydrate und Eiweiß von untergeordneter Bedeutung ist. Es ist also gemäß der neuen Leitlinie egal, ob zur Gewichtsabnahme eine „low-fat“-oder „low-carb“ bzw. eine eiweißbetonte Kost gewählt wird: Letztlich zählt das erreichte Energiedefizit (Empfehlung 500 kcal/ Tag, ggfs. mehr).

Ernährungsweise muss zur Person passen

Viel wichtiger ist, dass die Ernährungsweise zur Person passt und dass die Therapeuten Vorlieben, Erfahrungen, Kenntnisse und auch Stärken der Abnehmwilligen individuell berücksichtigen und in der Therapie nutzen – denn das erhöht die Chance auf eine nachhaltige Gewichtsreduktion. Das bedeutet auch, dass sich Personen, die abnehmen wollen, nicht mehr in strenge Schemata pressen lassen müssen, die sie nicht lange durchhalten können. Der Verzicht auf unerreichbare Ideale sollte damit deutlich zur Entspannung beitragen und kann vielleicht auch den ein oder anderen Frust-bedingten Essanfall verhindern.

Verhaltenstherapie und Ernährungsberatung

„Die Verhaltenstherapie ist neu formuliert worden und einer häufigen, strukturierten und von Fachpersonal durchgeführten Ernährungsberatung wird ein hoher Stellenwert beigemessen.“ , berichtet Prof. Dr. med. Alfred Wirth, Koordinator und Leitlinienbeauftragter der DAG.

Individuelle Therapieziele und Gewichtsstabilisierung

Nach der neuen Leitlinie sind eher individuelle Therapieziele (je nach Schweregrad des Körpergewichts im Bereich von 5-10% des Ausgangsgewichts) und eher eine Gewichtsstabilisierung anzustreben. Hier werden empfohlen: Ernährungs- und Verhaltensumstellung und mehr Bewegung durch spezielle Schulungsprogramme, auch empfehlenswert sei eine Senkung des glykämischen Index und die „mediterrane Kost“.

Körperliche Aktivität soll neben der Ernährungs- und Verhaltenstherapie ein Bestandteil der Maßnahmen zur Gewichtsreduktion und – stabilisierung sein – vorausgesetzt, es besteht keine Kontraindikation für zusätzliche körperliche Aktivität. Besonders geeignet sind gelenkschonende Ausdauersportarten und mehr Bewegung im Alltag.

Chirurgische Therapie: nach sechs Monaten oder sofort

Des weiteren beschreibt die neue Leitlinie Zielgruppen und zu erwartende Gewichtsabnahmeerfolge kommerzieller Gewichtsreduktionsprogramme mit publizierten Daten.
Bleibt die konservative Therapie über 6 Monate erfolglos, sollte bei Patienten mit BMI zwischen 35 und 50 kg/m2 eine chirurgische Therapie erwogen werden. Bei einem BMI über 50 kg/m2 kann eine chirurgische Therapie auch ohne vorangehende konservative Therapie durchgeführt werden. Bei einem Typ-2-Diabetiker kann eine Indikation bereits bei einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m2 bestehen (Sonderfälle). Eine lebenslange interdisziplinäre Nachsorge ist notwendig.

Lebensstil soll Übergewicht verhindern

Zur Vorbeugung von Übergewicht wird ein Lebensstil mit regelmäßiger, ausdauerorientierter körperlicher Bewegung, bedarfsangemessener Ernährung sowie regelmäßigen Gewichtskontrollen empfohlen. Der Verzehr von Fast Food, Alkohol und zuckerhaltigen Softdrinks sollte reduziert werden.

„Die Leitlinie geht nicht auf verhältnispräventive Aspekte der Adipositasprävention und explizit nicht auf die gesundheitspolitische Verantwortung des Staates zur Schaffung eines gesundheitsfördernden Lebensumfeldes ein. Diese Aspekte müssten bei einer nächsten Überarbeitung berücksichtigt werden.“, so Leitlinienbeauftragter Wirth.

Die S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ ist bis zur nächsten Aktualisierung gültig, höchstens jedoch bis Mitte 2019. Vorgesehen sind regelmäßige Aktualisierungen etwa einmal im Jahr.

Hintergrund:

Eine S3-Leitlinie ist evidenzbasiert, d.h. gründet auf den qualitativ besten und bestverfügbaren, wissenschaftlichen Erkenntnissen und wird nach einem vorgegebenen Schema erarbeitet. Bei fehlender oder unzureichender Evidenz wird eine Expertenmeinung formuliert, die als solche gekennzeichnet wird. Die S3-Leitlinie spiegelt damit den aktuellen Wissensstand eines Fachgebiets auf höchstem Niveau wider.

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