Die Deutschen sind zu dick – und haben sich in den zurückliegenden Monaten noch einige „Corona-Kilos“ obendrauf angefuttert. Adipositas und Diabetes sind weiterhin auf dem Vormarsch, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung in vielen Familien zu Hause. Was tut die Politik dagegen? Das wollten wir wenige Wochen vor der Bundestagswahl von Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) wissen.

Diabetes-Forum (DF): Die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie wurde 2018 verabschiedet – zur Minderung von Übergewicht und ernährungsmitbedingten Krankheiten, wie Dia­betes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Was hat sich seither vor allem bei der Zuckerreduktion in Fertigprodukten getan?
Julia Klöckner:
Erstmalig habe ich die Lebensmittelwirtschaft im Rahmen unserer Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie dazu verpflichtet, Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten zu reduzieren. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu meinem Ziel, dass eine ausgewogene, gesunde und bewusste Ernährung im Alltag einfacher wird.

Und unsere Strategie wirkt, das zeigen die Ergebnisse der unabhängigen, wissenschaftlichen Überprüfung. Viele Fertigprodukte sind bereits gesünder geworden. Zum Beispiel wurde der Zucker in Kinder-Joghurts um 20 Prozent reduziert. Bei Erfrischungsgetränken für Kinder ist der Zuckergehalt sogar innerhalb eines Jahres um 35 Prozent gesunken.

DF: Seitens der Diabetesorganisationen wird immer wieder Kritik laut, dass die politischen Appelle an die Lebensmittelindustrie hinsichtlich der zu unverbindlich geregelten Zucker- und Fettreduktion kein Gehör finden. Was spricht gegen eine Zuckersteuer?
Klöckner:
Über eine Steuer erreichen Sie nicht automatisch eine bessere Ernährung. Wer einfach eine Steuererhöhung fordert, macht es sich zu leicht und verkennt, dass Fehl- und Überernährung vielfältige Gründe haben. Es gibt bislang übrigens auch keinen ausreichenden wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Verbraucher durch eine Zuckersteuer auch insgesamt weniger Kalorien zu sich nehmen. Häufig weichen sie auf andere energiereiche Produkte aus oder die Hersteller ersetzen Zucker etwa durch mehr Fett, um den Geschmack zu erhalten. Auch konnte bislang kein Einfluss der Zuckersteuer auf die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas nachgewiesen werden. Deshalb ist mein Ansatz umfassender.

DF: Das heißt konkret?
Klöckner:
Ich setze auf ein Maßnahmenpaket mit dem klaren Ziel, das Ernährungsverhalten in Deutschland dauerhaft zu verbessern. Dazu zählt, die Ernährungsbildung zu intensivieren und die Ernährungskompetenz in allen Altersgruppen zu stärken. Dabei müssen wir früh beginnen: In den ersten 1000 Tagen werden die zentralen Weichen für ein weiteres gesundes Leben gestellt. Deshalb habe ich auch den Zusatz von Zucker und anderen süßenden Zutaten in Babytees verboten. Darüber hinaus sorge ich mit meinen politischen Initiativen dafür, dass es im Alltag leichter wird, sich gesund zu ernähren.

DF: Wie sieht es mit der verbindlichen Kennzeichnung aller Lebensmittel mit dem Nutri-Score aus?
Klöckner:
Eine verpflichtende Einführung des Nutri-Score geht EU-rechtlich nicht – weder in Frankreich, noch in Belgien oder eben hier bei uns. Für Deutschland habe ich die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, dass Unternehmen den Nutri-Score überhaupt nutzen können – wir gehen hier voran. Mit Erfolg, es gibt eine hohe Dynamik: Nach etwas über einem halben Jahr beteiligen sich bereits 190 Unternehmen mit über 350 Marken. Die Kunden erwarten zurecht diese Transparenz – die Unternehmen werden daher gar nicht umhinkommen, das Kennzeichen zu verwenden.

Mit Blick auf den europäischen Binnenmarkt halte ich es aber für sinnvoll und richtig, dass wir per-spektivisch ein EU-weit einheitliches und verbindliches Nährwertkennzeichen bekommen – das haben wir während unserer EU-Ratspräsidentschaft im vergangenen Jahr angestoßen.

DF: Wie stehen Sie zu den weiteren Forderungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK), die sich an der WHO orientieren und zum Beispiel ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel fordern?
Klöckner:
Für mich ist ganz klar: Werbung darf Kinder nicht dazu verleiten, sich ungesund zu ernähren. Es ist nicht tragbar, die Unerfahrenheit von Kindern durch manipulative Werbeaussagen auszunutzen. Deshalb hatte ich den Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft aufgefordert, die Verhaltensregeln bei Lebensmittelwerbung, die auf Kinder abzielt, weiter zu verschärfen. Dem ist der Zentralverband nachgekommen. Kinder werden jetzt deutlich besser geschützt. Dabei ist entscheidend, dass die Verschärfung für alle Kanäle – Fernsehen, Onlineplattformen oder Social Media – bundeseinheitlich gilt.

Besonders wichtig war mir, dass dabei der Schutzkreis ausgeweitet wird. Konkret wurde jetzt die Altersgrenze von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt – das war überfällig. Das muss jetzt konsequent angewendet werden. Geschieht das nicht, werden wir staatlich tätig werden.

DF: Sollten aus Ihrer Sicht verbindliche Standards für die Kita- und Schulernährung nach den Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) eingeführt werden?
Klöckner:
Absolut! Dazu habe ich die Bundesländer bereits mehrfach aufgefordert, sie sind zuständig. Die DGE-Standards wurden übrigens im Auftrag unseres Ministeriums entwickelt. Seit Jahren fördern wir zudem Projekte zur Umsetzung und Bekanntmachung. Leuchttürme dabei sind die Vernetzungsstellen für Schul- und Kitaverpflegung, die wir gemeinsam mit den Ländern eingerichtet haben. Die Förderung habe ich zuletzt auf zwei Mio.Euro pro Jahr verdoppelt. Denn unsere Schulen und Kindertagesstätten sind Dreh- und Angelpunkt – sowohl für die Vermittlung von Ernährungswissen, als auch für die praktische Ernährungsbildung mit allen Sinnen. Hier erreichen wir alle Kinder.

DF: Eine persönliche Frage zum Thema ‚gesunde Ernährung’: Wir halten Sie Ihr Gewicht bis heute im anstrengenden Politikalltag?
Klöckner:
Ich achte bewusst darauf, mich ausgewogen zu ernähren. Und gegen den Heißhunger habe ich Nüsse oder Obst in der Tasche. Am lieb-sten esse und koche ich aber in Gesellschaft – und freue mich, wenn das nun bald wieder möglich ist. Essen ist immer auch Genuss, und soll es auch sein. Es kommt auf Maß und Mitte an.

DF: Was berichten Ihnen Menschen mit Diabetes über ihren Alltag mit der chronischen Erkrankung?
Klöckner:
Was ich immer wieder höre, ist, dass die automatisierten Pumpen und die Sensoren eine große Erleichterung sind. Vielen Betroffenen hilft außerdem zu wissen, welche Lebensmittel einen starken Einfluss auf ihren Blutzuckerspiegel haben. Natürlich muss man sich als Betroffener darauf einlassen – das ist nicht immer ganz einfach. Aber insgesamt steigert es die Lebensqualität und gibt Sicherheit. Wenn ich daran denke, dass Schulfreunde oder Kommilitonen ihr Diabetes-‚Besteck’ mit in die Mensa nehmen mussten, messen, spritzen … – da haben wir jetzt einen echten Fortschritt.


DF: Frau Bundesministerin Klöckner, vielen Dank für das Gespräch!


Interview:
Angela Monecke
Redaktionsbüro Angela Monecke
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