Traumatisierende Kindheitserfahrungen haben einen langen Arm: Ihre Auswirkungen sind oft noch im Erwachsenenalter zu spüren oder machen sich erst dann überhaupt bemerkbar. Auch bei der Entstehung eines Typ-2-Diabetes, der meist erst im Erwachsenenalter auftritt, spielen psychische Extrembelastungen in der Kindheit eine Rolle. Darauf wiesen Experten der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) im Rahmen ihrer Jahrestagung hin.

Belastende Ereignisse in der Kindheit erhöhen Risiko für psychische oder somatische Krankheiten

Extrem belastende Ereignisse in der Kindheit können einen Menschen in seiner körperlichen und seelischen Gesundheit nachhaltig beeinträchtigen. Neben sexuellem Missbrauch, körperlicher Gewalt oder dem Tod eines Elternteils kann auch ein auf den ersten Blick vergleichsweise harmloses Ereignis wie die Trennung der Eltern für ein Kind traumatisch ablaufen. „Belastende Kindheitserfahrungen gehen mit dem Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein einher und führen dazu, dass Betroffene oft dauerhaft davon überzeugt sind, nichts wert zu sein und kein Recht auf eigene Gefühle und Wünsche zu haben“, sagt Professor Dr. med. Johannes Kruse, Vorsitzender der DGPM und Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsklinik Giessen. In vielen Fällen sei dies verbunden mit Schuld- oder Schamgefühlen. Die Bindungsfähigkeit ist oft bis ins Erwachsenenalter hinein beeinträchtigt. Betroffene haben ein deutlich erhöhtes Risiko eine psychische oder somatische Krankheit zu entwickeln.

Diabetesrisiko um 60 Prozent erhöht

In den letzten Jahren mehren sich Studien, die zeigen, dass traumatische Kindheitserlebnisse auch das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes erhöhen. Das gilt vor allem für Menschen, bei denen vier und mehr belastende Faktoren – von Missbrauch bis Vernachlässigung – zusammenkommen. Sie tragen in einigen Studien ein um 60 Prozent erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Diabetes. Dabei greifen mehrere psychische und biologische Prozesse ineinander. „Das Trauma beeinträchtigt das Selbstwertgefühl und die Affektregulation – also den Umgang mit den eigenen Gefühlen“, erläutert Kruse. Das wiederum habe Auswirkungen auf den Lebensstil der Betroffenen. Nicht selten versuchen sie, ihre negativen Gefühle zu bewältigen, indem sie rauchen, vermehrt essen oder Alkohol trinken. Gleichzeitig schränken sie ihren sozialen Umgang ein und kapseln sich ab. Eine erhöhte Kalorienzufuhr, kombiniert mit Bewegungsmangel, stellt einen der Hauptrisikofaktoren für Typ-2-Diabetes dar.

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Durch extreme Belastungen werden aber auch neurobiologische, immunologische und das Darmmikrobiom betreffende Veränderungen in Gang gesetzt, die das Diabetesrisiko beeinflussen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das Stresshormon Kortisol, das unter starker Belastung verstärkt ausgeschüttet wird. Es versetzt den Körper kurzfristig in einen angeregten, leistungsfähigen Zustand. „Als Reaktion auf eine akute Bedrohung ist das durchaus sinnvoll“, sagt Kruse. Hält der Stresszustand jedoch an, so kommt es zu Verschiebungen im Zuckerstoffwechsel, und die Blutzuckerregulation verschlechtert sich – mit direkten Auswirkungen auf das Diabetesrisiko. Auch das Immunsystem arbeitet unter Kortisol-Einfluss anders: Es schüttet verstärkt entzündungsfördernde Enzyme aus, denen ebenfalls eine Rolle bei der Diabetes-Entstehung zugeschrieben wird.

Psychotherapie als Mittel gegen Stressreaktion

Bei Patienten mit traumatischen Kindheitserfahrung müsse daher auch ein möglicher Anstieg des Diabetesrisikos im Auge behalten werden, so Kruse. Umgekehrt legten die Zusammenhänge nahe, dass ein Teil der Diabetes-Patienten von einer psychosomatischen Therapie profitieren könne. Diese zielt darauf, das Erleben der Betroffenen, ihre Stressreaktion und auch ihre neuroimmunologischen und neurobiologischen Pfade wieder zu normalisieren. „Forschungsergebnisse der letzten Jahre sprechen dafür, dass die Psychotherapie hier erfolgreich wirken kann“, so Kruse.


Literatur
Kruse, J. & Ladwig, K. Diabetologe (2017) 13: 548. https://doi.org/10.1007/s11428-017-0284-9

Quelle: Pressemitteilung der Pressestelle des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie