Moderne Diabetes-Technologie revolutioniert die Verkehrssicherheit: Die Deutsche Diabetes Gesellschaft fordert mit ihrer aktualisierten Leitlinie ein Ende pauschaler Berufsverbote für Menschen mit Diabetes.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat ihre S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr" grundlegend überarbeitet und stellt damit überholte Vorstellungen über Sicherheitsrisiken von Menschen mit Diabetes in Frage. Die aktualisierte Fassung berücksichtigt erstmals systematisch die dramatischen Fortschritte in der Diabetestherapie der vergangenen Jahre und fordert eine Neubewertung beruflicher Ausschlusskriterien.
Technologischer Wandel verändert Risikobewertung fundamental
Seit der ersten Leitlinienfassung von 2017 hat sich die Behandlungslandschaft grundlegend gewandelt. „Diese Fortschritte haben die Stoffwechselkontrolle grundlegend verändert", erläutert Friedrich W. Petry, Mitautor der Leitlinie. Moderne kontinuierliche Glukosemesssysteme (CGM) ermöglichen eine lückenlose Überwachung der Blutzuckerwerte, während automatisierte Insulinabgabesysteme (AID) die Therapie in Echtzeit anpassen. Parallel dazu erhalten heute viele Menschen mit Typ-2-Diabetes Medikamente, die praktisch keine Unterzuckerungen mehr auslösen.
Diese technologischen Entwicklungen haben das zentrale Risiko – schwere Unterzuckerungen – deutlich reduziert. Während eine Hypoglykämie nach wie vor das größte Unfallrisiko darstellt, können moderne Kompensationsmaßnahmen dieses Risiko erheblich minimieren. Die Leitliniengruppe schätzt, dass sich das Unfallrisiko aufgrund von Unterzuckerungen seit 2017 spürbar verringert hat.
Diabetes-Unfallrisiko wird systematisch überschätzt
Die aktuelle Datenlage relativiert das tatsächliche Unfallrisiko von Menschen mit Diabetes erheblich. Laut einer bayerischen Untersuchung liegt das erhöhte Unfallrisiko bei Menschen mit Diabetes bei lediglich 12 bis 19 Prozent. „Im Vergleich zu anderen Erkrankungen wie ADHS oder obstruktive Schlafapnoe (OSAS)" sei das Risiko deutlich geringer, betont Petry. Bei ADHS steige das Unfallrisiko um über 300 Prozent, bei Schlafapnoe um 140 Prozent.
Entscheidend für die Fahreignung sind nicht erhöhte Glukosewerte per se, sondern deren Auswirkungen auf Konzentration, Aufmerksamkeit und Sehvermögen. „Erhöhte Glukosewerte allein führen nicht zu einer eingeschränkten Fahreignung", stellt Petry klar. Die Leitlinie definiert klare Grenzwerte: Vor Fahrtantritt sollte der Glukosewert mindestens 90 mg/dl (5 mmol/l) betragen, bei Schwangeren 80 mg/dl.
Berufliche Diskriminierung durch veraltete Vorschriften
Dr. Wolfgang Wagener, Koordinator der Leitlinie und Vorsitzender des DDG-Ausschusses „Soziales", kritisiert die anhaltende berufliche Benachteiligung von Menschen mit Diabetes. „Viele berufsbezogene Vorgaben stammen aus einer Zeit, in der Glukosemessungen nur wenige Momentaufnahmen lieferten", erklärt Wagener. Heute ermögliche die moderne Diabetologie „ein hohes Maß an Kontrolle, Steuerung und Sicherheit im Arbeitsalltag".
Pauschale Ausschlüsse von Berufen wie Polizei, Feuerwehr oder Luftfahrt seien medizinisch nicht mehr gerechtfertigt. Während in den USA, Großbritannien und Österreich bereits Menschen mit Typ-1-Diabetes als Piloten arbeiten dürfen, hinkt Deutschland bei der Anpassung beruflicher Vorschriften hinterher. „Es ist Zeit, alte Regeln zu überdenken", fordert Wagener und plädiert für individuelle Gefährdungsbeurteilungen statt pauschaler Diagnose-basierter Ausschlüsse.
Erfolgreiche Praxis widerlegt Vorurteile
Jens Wicklein verkörpert das Potenzial moderner Diabetestherapie. Der Zollbeamte mit Typ-1-Diabetes arbeitet seit Jahren im waffentragenden Ermittlungsdienst, fährt beruflich LKW und Bus und engagiert sich ehrenamtlich bei Feuerwehr und Katastrophenschutz. „Mit Disziplin, Verantwortung und moderner Technik kann ich meinen Alltag sicher gestalten – auch in Tätigkeitsbereichen, die hohe Konzentration verlangen", berichtet Wicklein.
Seine Erfahrungen belegen, was die Leitlinie wissenschaftlich untermauert: „Moderne Sensoren und Pumpen machten möglich, was früher ausgeschlossen war." Wicklein nutzt kontinuierliche Glukosemessung und automatisierte Insulinsysteme, die ihm frühzeitige Warnungen vor kritischen Werten geben. „Warnsysteme geben mir ein hohes Maß an Sicherheit", erklärt er.
Die neue Leitlinie soll als „verlässliche Grundlage für Beratung, Begutachtung, Bewertung und politische Entscheidungen" dienen und richtet sich explizit auch an Behörden und Gutachter. Eine vereinfachte Patientenleitlinie ist für 2025 geplant. Die DDG appelliert an Politik und Behörden, bestehende Gesetze und berufsbezogene Vorschriften an den medizinischen Fortschritt anzupassen und Menschen mit Diabetes neue berufliche Perspektiven zu eröffnen.
von Redaktion diabetologie-online
mit Materialien der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)
