Dass sie ihr Essverhalten ändern müssen, ist den meisten Übergewichtigen klar. Beim Essen spielen aber auch Gefühle eine große Rolle. Diplom-Oecotrophologin Birgit Hohls zeigt, wie eine Änderung trotzdem gelingen kann.
Vielschichtig und individuell ist das Problem, das zu falschen Essgewohnheiten führt. Zwar hat das Gesundheitsbewusstsein in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen, dennoch gibt es eine Diskrepanz zwischen Wissen und tatsächlichem Verhalten (Krüger et al., Ernährungsumschau 1/2014).
Essen ist ein zentraler Bestandteil des Lebens: Es erhält den Körper und versorgt das Gehirn. Doch es ist weit mehr: Es kann Emotionen verstärken, Langeweile unterdrücken oder als Stressregulator fungieren (Taitz 2012).
Die Zahl der Übergewichtigen steigt, damit verbunden gibt es ständig neue Diättrends und Abnehmgruppen, nur leider ohne den gewünschten Erfolg. Viele Konzepte, die propagiert werden, um die Kalorienaufnahme zu senken, legen ihren Fokus auf Low Fat, Low Carb oder High Protein. Metaanalysen haben gezeigt, dass eine kurzfristige Gewichtsreduktion mit diesen Diäten möglich ist – die Krux liegt in der fehlenden Nachhaltigkeit (MMV-Fortschr. Med. 18/2009).
Gefühle regieren unbewusst
Schuld daran ist, dass reglementierende Maßnahmen nur auf der Verstandsebene ablaufen. Wird mehr gegessen als nötig, hat das jedoch nichts mit Verstand oder Vernunft zu tun. Kognitiv weiß so gut wie jeder Mensch, dass Obst gesünder ist als Schokolade. Trotzdem wird im entscheidenden Augenblick zur Schokolade gegriffen.
Gefühle und Vernunft befinden sich nicht auf derselben Ebene. Vernunft und Verstand sind eingebettet in die affektive und emotionale Natur des Menschen. Das weitgehend unbewusst arbeitende Zentrum des limbischen Systems bewertet nach gut, lustvoll und damit erstrebenswert oder nach schlecht, schmerzhaft und ablehnend. Diese Bewertung wird im emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert (Klotter 2014).
Belegt ist, dass unbewusste Prozesse für das Verhalten zuständig sind. Der Hirnforscher Dr. Hans-Georg Häusel zeigte, dass die drei wichtigsten Emotionssysteme (Balance-, Dominanz- und Stimulanz-System) sowie ihre Subsysteme untereinander ringen und verhaltensbestimmend agieren und sich daraus die Motive entwickeln (Häusel 2011). So vermeidet das Balance-System Gefahr und Unsicherheit: Menschen essen bevorzugt Lebensmittel, die ihnen bekannt und vertraut sind (Klotter 2014).
Neurobiologische Mechanismen
Menschliches Essverhalten ist vielfältig und von vielen Faktoren beeinflusst. Ein Überangebot an Speisen und ihre permanente Verfügbarkeit in den Industrienationen ist im Grunde etwas völlig Neues – die Kontrollmechanismen im Gehirn sind für dieses Übermaß nicht ausgelegt. Zur Steuerung des Essverhaltens spielt das unbewusst ablaufende Belohnungssystem eine zentrale Rolle.
Doch auch aktiv müssen Betroffene bewusst mit Lebensmitteln umgehen, um eine gewisse Kontrolle über ihr Verhalten zu erreichen. Der Neurowissenschaftler Dr. Hubert Preißl von der Uni Tübingen sagt, dass eine gewisse Selbstkontrolle nicht nur hilfreich ist, sondern sich tatsächlich erfolgreich trainieren lässt. Preißl und seine Mitarbeiter konnten zeigen, dass durch grafische Aufbereitung von Daten der Hirnaktivität, z. B. mittels Kernspin, Probanden ihre Hirnaktivität bewusst beeinflussen können. Für das Essverhalten ist ein ganzes Netz von Hirnarealen zuständig, doch nur ein Teil davon ist bislang bekannt (F. Mühleib 2013, Interview mit H. Preißl).
- Essen ohne Hungergefühl oder trotz einer gewissen Sättigung
- Heißhunger auf ein bestimmtes Gericht oder Lebensmittel wie Schokolade oder Chips
- kein Sättigungsgefühl
- keine Übersicht über die gegessene Menge
- hastiges Essen
- Essen in oder nach Stresssituationen
- allein essen, damit andere es nicht bemerken
Essen als Stresskiller
"Derzeit gibt es noch keine wissenschaftliche Definition des emotionalen Essens, etwa als psychische Störung", erklärt Diplom-Psychologin Kristina Herber von der Universität Würzburg. "Wir bezeichnen damit Personen, die im Zusammenhang mit Essen einen erhöhten Leidensdruck spüren. Sie essen nicht wegen eines aufkommenden Hungergefühls, sondern aus diversen anderen Gründen." Oft sind es negative Gefühle wie Ärger, Trauer, Einsamkeit oder Langeweile. Zunehmend ist auch Stress Auslöser für eine gefühlsgesteuerte Ess-Attacke. Emotionale Esser möchten mit diesen unangenehmen Gefühlen besser zurechtkommen, sich besänftigen oder trösten. Mittels Essen versuchen sie, sich zu entspannen und ihre aktuelle Situation zu erleichtern.
Michael Macht, Professor am Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie in Würzburg fand heraus, dass emotionales Essen ein weit verbreitetes Phänomen ist. Bis zu 30 Prozent der Menschen reagieren mit gesteigertem Essverhalten, um negative Emotionen zu bewältigen (Tenzer; Psychologie Heute 1/2014). Diese Schätzung bestätigte auch eine Studie des Lebensmittelmultis Nestlé aus dem Jahr 2009. Hier wurde dieser Ess-Typ als "gestresster, multioptional passiver Typ" bezeichnet. Die Prognosen der Autoren der Nestlé-Studie gehen davon aus, dass der Anteil der Menschen, die diesem Typ angehören, weiter ansteigt (Krüger et al. EU 1/2014).
Übergewicht und Stress
Professor Michael Macht forscht an der Würzburger Universität zum Thema "Emotion und Essverhalten". Er fand heraus, dass Stress-Esser anstrengende Situationen mit der Aufnahme von Nahrung kompensieren. Dabei haben sie meist verlernt, auf individuelle Signale ihres Körpers zu hören. Unkontrolliert und unwillkürlich wandert alles in den Mund, wonach ihnen gerade der Sinn steht. Physischer Hunger hat sich zum psychischen Hunger entwickelt. Damit sind Stress-Esser nicht allein, weiß der Wissenschaftler: "Viele Menschen essen, weil sie traurig, frustriert oder gelangweilt sind."
Das allein ist noch nicht weiter problematisch. Doch ein Großteil leidet unter diesem Verhaltensmuster, weil Gedanken an Essen zunehmend den Tagesablauf beherrschen. Somit haben emotionale Esser ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, ernährungsbedingte Erkrankungen und Essstörungen. Gleichzeitig machen sie die schmerzliche Erfahrung, dass sie ihre Essgewohnheiten nur schwer ändern können (Tenzer; Psychologie Heute 1/2014).
In der Stressforschung zeigen sich wichtige Zusammenhänge zwischen Essen und Stress. Bliebe das Stresslevel innerhalb eines gesunden Rahmens, wäre dies kein Problem. Es kommt darauf an, den richtigen Level von Stress zu erleben. Jede Situation, die Menschen gefühlsmäßig aus dem Gleichgewicht bringt, wird vom Gehirn als Bedrohung gewertet. Der Körper schlägt Alarm und löst eine Stressreaktion aus.
In den Industrienationen sind Menschen oftmals einem permanenten Druck und damit verbunden hohen Stressleveln ausgesetzt. Fertig werden sie damit nicht immer problemlos. Rund 90 Prozent der Belastung ist darauf zurückzuführen, wie der jeweilige Stressor bewertet und wahrgenommen wird.
Wie beeinflusst Stress das Essverhalten?
Warum reagieren manche Personen auf diese Weise und andere nicht? Bei der Suche nach Ursachen stehen Verhaltensforscher noch ziemlich am Anfang. Es gibt dazu wenig empirische Studien. Nicht zuletzt beeinflussen Lebensmittel neurochemische und endokrinologische Systeme, die mit Stress und Stimmung zu tun haben (Roming; Psychologie Heute 4/2013).
In einer weiteren Hypothese sieht der Lübecker Wissenschaftler Prof. Dr. Achim Peters im Übergewicht die Folge einer Überforderung des Stresssystems (Selfish-Brain-Theorie nach Peters 2011). Mehressen erlaubt, das Stresssystem zu entlasten und so schlechter Stimmung entgegenzuwirken. Wird lediglich Nahrungsmenge oder Kalorien reduziert, reizt es das Stresssystem enorm. Diese Spontan-Diäten können gar nicht gesund sein, erklärt der Wissenschaftler. Das menschliche Gehirn wird stets versuchen, sich vehement dagegen zu wehren. Betroffene Übergewichtige müssen erst die Stressoren ausfindig machen, danach können sie abnehmen. Und das am besten ohne eine spezielle Diät, rät der Lübecker Experte. Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ohne Berücksichtigung der Stressverarbeitung scheitern häufig, da Ursachen des Stress-Essens nicht bedacht und reduziert werden (Die Welt; 10.01.2012).
Achtsamkeit und Akzeptanz
Professor Macht hat mit Kollegen an der Würzburger Universität ein Trainingsprogramm entwickelt, das Betroffenen helfen soll, ein besseres Gespür für sich und ihr Essverhalten zu entwickeln. Dieses auf Achtsamkeit basierende Konzept setzt an den unbewussten Prozessen an. Im Vordergrund steht keine schnelle Gewichtsreduktion, sondern eine langfristige Entkopplung belastender Situationen oder negativer Emotionen, die mit gesteigertem Essen einhergehen.
Essverhalten steht in enger Wechselwirkung mit Emotionsregulation. Es muss gelernt werden, auf gewisse Situationen bewusst anders zu reagieren. Die Aufgabe besteht darin, eine genussvolle und gesunde Einstellung zum Essen zu entwickeln beziehungsweise wieder zu lernen (Tenzer; Psychologie Heute 1/2014). Psychologische Aspekte im Hinblick auf individuelles Essverhalten fehlen meist in konventionellen Diätratgebern.
Achtsamkeit
Dem emotionalen Essen gegenzusteuern, wird durch das Training von Achtsamkeit und Akzeptanz vermittelt (Taitz 2012). Achtsamkeit bedeutet, im gegenwärtigen Moment zu leben, alles vorurteils- und wertungsfrei zu betrachten und den inneren Autopiloten abzustellen – mit der Folge, bewusst zu entscheiden, was man gerade wirklich braucht. Wichtig ist, dass man sich Genüsse bewusst gönnt, statt gedankenlos große Mengen in sich hineinzustopfen (Taitz 2012).
Gewohnheiten, so auch Essgewohnheiten, laufen routinemäßig und beinahe automatisch ab. Achtsamkeit heißt, sich von Routinen zu befreien und so den inneren Schweinehund zu überlisten. Je öfter eine Handlung wiederholt wird, desto selbstverständlicher wird sie.
Akzeptanz
Akzeptanz heißt die Bereitschaft, Gedanken und Gefühle zuzulassen und reale Lebensumstände anzuerkennen. Häufig besteht jedoch eine Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln, und Emotionen nehmen Einfluss auf das Essverhalten: wann wir essen, was wir essen, wo und mit wem wir essen – oft essen Gefühle mit. Akzeptanz bedeutet, bewusst eine offene, nicht wertende Haltung einzunehmen.
Akzeptanz ist komplex und dynamisch und somit eine fortlaufende Folge von Wahlmöglichkeiten. Akzeptanz basiert auf grundsätzlicher Bereitschaft, Realitäten anzuerkennen, anstatt sie zu bekämpfen oder kontrollieren zu wollen. Stressbewältigung heißt, sich mögliche Hindernisse bewusst zu machen und genau zu planen, wie man damit umgehen kann – und Entscheidungen bewusst zu treffen, anstatt die Schokolade unbewusst zu verschlingen (Taitz 2012).
Regelmäßige Schritte – langfristige Änderung
Wichtig bei der Veränderung ist, den Weg nicht in zu kleine oder zu große Einheiten zu teilen. Individuelle Etappenziele sollten real erreichbar sein. Jede Änderung einer Gewohnheit ist ein guter Schritt zu neuem Verhalten. Allein Gedanken wie: "Es bringt sowieso nichts." rufen Gefühle der Hilflosigkeit hervor. Es hindert daran, andere Verhaltensweisen auszuprobieren. Wird jeder Moment als Zeitpunkt angesehen, an dem neu gestartet wird, eröffnen sich endlose Möglichkeiten (Taitz 2012).
Auch die Hamburger Heilpraktikerin Maria Sanchez setzt auf Achtsamkeitsübungen und Körperwahrnehmung, um zugrunde liegende Gefühle als Wegweiser zu erkennen. Auf dem Weg der Selbsterkenntnis und Ursachenforschung für die Gier nach Essen ist früher oder später eine ehrliche Antwort auf die Frage möglich: Wonach habe ich eigentlich wirklich Hunger? (Sanchez 2010) Mehr Forschung ist notwendig, um dem Phänomen des emotionalen Essens auf die Spur zu kommen – insbesondere auch in Hinblick auf Übergewicht, um der aktuellen Adipositasepidemie zu begegnen (Psychologie Heute 1/2014).
Eine Literaturliste kann bei der Autorin angefordert werden.
Erschienen in: Diabetes-Forum, 2014; 26 (11) Seite 10-15