Der bundesweite Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften könnte Lehrende im Schulbetrieb entlasten, Eltern chronisch kranker Kinder mehr Sicherheit geben und vor allem die Inklusion von Kindern mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes Typ 1 wesentlich vorantreiben. Pilotprojekte in Hessen und Brandenburg haben diesen Mehrwert durch die Unterstützung von Fachkräften inzwischen klar belegt. In einer gemeinsamen Pressekonferenz im Vorfeld des Weltkindertages formulierten Expertinnen und Experten der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe und des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) einen dringenden Appell an die politischen Entscheidungsträger, bundesweit einheitliche Regelungen zu treffen, damit chronisch Kranke und deren Angehörige eine angemessene Unterstützung sowie bessere Bildungschancen erhalten.

Prävention und Gesundheitsförderung an Bildungseinrichtungen müsse gesundheitspolitisch vorangetrieben werden, damit chronisch Kranke und deren Angehörige eine angemessene Unterstützung sowie bessere Bildungschancen erhalten. So lautete der gemeinsam formulierte Appell der Referentinnen und Referenten bei einer Pressekonferenz im Vorfeld des Weltkindertages.

Expertinnen und Experten der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe und des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) diskutierten, wie der Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften an Deutschlands Schulen die Inklusion von Kindern mit einer Diabetes Typ 1-Erkrankung möglich macht, Lehrende im Schulbetrieb entlastet und Sicherheit für Eltern bietet.

Es fehlt der politische Wille zur Durchsetzung

Obwohl Pilotprojekte in Hessen und Brandenburg Erfolge erzielten, fehle auf Bundesebene bei den politischen Entscheidern noch immer ein klares Bekenntnis und der entschiedene Wille zur Durchsetzung. Gemeinsam formulierten die Referentinnen und Referenten den dringenden Appell, den Mehrwert durch die Unterstützung von Fachkräften anzuerkennen und deswegen bundesweit einheitliche Regelungen zu treffen.

Effekte des Einsatzes von Schulgesundheitsfachkräften

Eine gutachterliche Stellungnahme hat zwei Modellprojekte in Brandenburg und Hessen detailliert beleuchtet und den Effekt der dort eingesetzten Schulgesundheitsfachkräfte evaluiert. Das Gutachten der Technischen Hochschuld Mittelhessen kommt zu einem klaren Ergebnis:

  1. Die Implementierung von Schulgesundheitsfachkräften ist sinnvoll, machbar und finanzierbar.
  2. Schulgesundheitsfachkräfte fördern die Inklusion von Kindern mit chronischen Erkrankungen.
  3. Schulgesundheitsfachkräfte entlasten das Schulsystem.
  4. Schulgesundheitsfachkräfte tragen zur finanziellen Sicherheit von Familien bei.
  5. Volkswirtschaftlich sind Schulgesundheitsfachkräfte eine lohnende Investition.

„Wenn Kinder an einem Diabetes erkranken, müssen sie ihr Essen, die körperliche Bewegung und die Insulindosierung aufeinander abstimmen. Zumindest im Grundschulalter sind Kinder damit häufig überfordert“, weiß Professor Dr. med. Andreas Neu, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und kommissarischer ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Tübingen. „Allein die Interpretation ihrer Blutzuckerwerte stellt Kinder vor große Herausforderungen: Kann ich problemlos zu Mittag essen, wenn mein Blutzucker zuvor bei 167 liegt? Welche Insulindosierung passt zu diesem Blutzuckerwert?“

Gesundheitsversorgung: keine Aufgabe der Lehrkräfte

Fragen wie diese können meist auch Lehrerinnen und Lehrer nicht beantworten, denn die Gesundheitsversorgung gehört weder zu ihren Aufgaben, noch sind sie dafür ausgebildet. Das hat oft schwerwiegende Folgen: „Es gibt hierzulande noch keine ausreichenden und flächendeckenden Maßnahmen zur Inklusion und Integration von Kindern mit der Diagnose Diabetes Typ 1 in Bildungseinrichtungen. Das führt dazu, dass die jungen Patientinnen und Patienten immer wieder vom Regelschulbesuch ausgeschlossen werden“, erklärt Neu.

AMBA-Studie zeigt hohe Belastung der Familien von Kindern mit Typ-1-Diabetes

Oft schränken dann die Eltern, meist die Mütter, ihre Berufstätigkeit ein, um ihren Kindern zu helfen. 46 Prozent der betroffenen Familien berichten über relevante finanzielle Einbußen. Die zusätzlichen täglichen Aufgaben können zu alltäglichen, emotionalen und körperlichen Belastungen und Überforderung der Eltern führen.

Die Alltagsbelastungen der Mütter von Kindern mit Typ-1-Diabetes und deren Auswirkungen auf Berufstätigkeit und den Bedarf an Unterstützungsleistungen im Alltag untersuchte die von diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe 2018 bis 2020 geförderte AMBA-Studie der Medizinischen Hochschule Hannover. Fazit der AMBA-Studie ist, dass es eine hohe Belastung und einen hohen Unterstützungsbedarf der Familien und vor allem der Mütter gibt. Auf die Frage, wo die Eltern den größten Unterstützungsbedarf im ersten Jahr nach der Diabetesdiagnose sehen, nannten 42 Prozent Hilfen im Alltag, 23 Prozent psychologische Unterstützung und 18 Prozent Hilfe in Schule und Kita.

Medizinisch ausgebildete Fachkräfte könnten chronisch kranke Kinder adäquat versorgen

Eine Lösung für dieses Dilemma könnte der Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften sein. „Um die die Diskriminierung von chronisch Erkrankten zu beenden und Kindern mit Diabetes Typ 1 eine reguläre Beschulung zu ermöglichen, setzen wir uns für diese medizinisch ausgebildeten Fachkräfte an allen Grundschulen ein. Denn sie können Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen adäquat versorgen und Eltern sinnvoll unterstützen“, sagte Dr. med. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe.

Genau hier kann eine Schulgesundheitsfachkraft enorm helfen. Die Tatsache, dass eine Fachkraft da ist, der man vertrauen kann und die das diabeteserkrankte Kind trösten, beraten und ihm im Ernstfall helfen kann, würde die Eltern psychisch und physisch extrem entlasten. Es wäre ein Gewinn an Zeit und vor allem Lebensqualität der gesamten Familie, denn oft müssen die nicht erkrankten Geschwisterkinder in der Betreuung durch ihre Eltern zurückstecken. Nicht zu vernachlässigen ist außerdem der finanzielle Aspekt, da mit einer Schulgesundheitsfachkraft vor allem die Mütter wieder die Chance hätten, Vollzeit zu arbeiten oder den Arbeitsumfang zu erhöhen.

Jährlich erkranken derzeit rund 3.500 Kinder und Jugendliche neu an einem Typ-1-Diabetes mellitus. Immer mehr Kinder erkranken bereits im Vorschulalter. Vorrangiges Ziel einer Schulgesundheitsfachkraft sollte sein, die Kinder mit Typ-1-Diabetes im Selbstmanagement ihrer Erkrankung zu stärken. Neben ihrer Grundausbildung muss sie vom betreuenden Diabetesteam in die individuellen Erfordernisse des jeweiligen Kindes eingewiesen werden. Vorrangige Aufgabe der Schulgesundheitsfachkräfte ist die konkrete Hilfestellung im Umgang mit Diabetes (und anderen Erkrankungen) im Schulalltag. Sie unterstützen damit aber nicht nur die Kinder, sondern entlasten deren Eltern und darüber hinaus auch die Lehrkräfte.

Auch Lehrkräfte profitieren von Schulgesundheitsfachkräften

Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), ist davon überzeugt, dass neben Schülerinnen und Schülern mit chronischen Krankheiten auch Lehrkräfte von den Schulgesundheitsfachkräften profitieren: „Aktuell benötigt fast ein Viertel der Kinder eine weitergehende medizinische oder therapeutische Unterstützung.“ Das hat eine begleitende Studie zum Modellprojekt Schulgesundheitsfachkräfte“ der AWO Potsdam ergeben. „Wir sprechen also nicht von Einzelfällen, die Förderbedarf in einem oder mehreren Förderschwerpunkten haben oder Assistenz bei der Medikamentengabe benötigen.“

„Die Politik ist in der Pflicht, die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen...“

Der VBE sehe deswegen die Verantwortung, Kindern mit chronischer Erkrankung den Schulbesuch zu ermöglichen, nicht bei den Lehrkräften. „Die Politik ist in der Pflicht, die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen und ein professionelles Schulgesundheitsmanagement mit dafür ausgebildeten Schulgesundheitsfachkräften zu etablieren und zu finanzieren“, so Beckmann. Dies trage nicht nur der stetig steigenden Anzahl an chronisch erkrankten Kindern Rechnung, sondern fördere das Gesundheitsbewusstsein von Kindern allgemein.

Ansprechpartner für Fragen zur Ernährung, Bewegung und Suchtprävention

Denn das medizinisch geschulte Personal ist auch allgemein ansprechbar in Gesundheitsfragen. Stehen keine Notfälle an, konzipieren die Schulgesundheitsfachkräfte Projekte, die die Gesundheit fördern, wie zur Ernährung, Bewegung oder der Mundhygiene oder auch Präventionsprojekte zum Suchtmittel- oder Medienkonsum. „Angebote wie diese haben in dem Brandenburger Modellprojekt große Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler entfaltet – bis hin in die Elternhäuser. So gaben beispielsweise gut 70 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler an, sich häufiger die Zähne zu putzen, seit die Schulgesundheitsfachkraft an der Schule tätig ist. Über die Hälfte stellte fest, sie würden sich seither mehr bewegen“, sagt Beckmann.

Auch volkswirtschaftlich „eine lohnende Investition“

Eine Studie der Technischen Hochschule Mittelhessen hat eingesetzte Schulgesundheitsfachkräfte evaluiert – mit einem eindeutigen Ergebnis: das Implementieren von Schulgesundheitsfachkräften ist sinnvoll, mach- und finanzierbar. Es fördert überdies die Inklusion von Kindern mit chronischen Erkrankungen. Zusätzlich entlasten sie das Schulsystem und tragen zur finanziellen Sicherheit von Familien bei. Die Experten sind sich einig: „Auch volkswirtschaftlich sind Schulgesundheitsfachkräfte eine lohnende Investition.“

UN-Behindertenrechtskonvention regelt Inklusion

Bereits im Jahr 2008 hat die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Diese regelt die Inklusion von Menschen mit Handicap und sichert deren Teilhabe ohne Einschränkungen. Für Kinder heißt das, sie haben ein Recht auf Ausbildung, sie haben ein Recht auf eine reguläre Beschulung, auch dann, wenn sie an einer chronischen Erkrankung leiden.

In vielen unserer Nachbarländer sind Schulgesundheitsfachkräfte seit Langem etabliert. Die Modelle sind unterschiedlich ausgestaltet, in aller Regel versorgt eine Schulgesundheitsfachkraft rund 700 Kinder. In Deutschland werden bislang Zuständigkeitsprobleme angeführt, die einem solchen Vorhaben entgegenstehen. Der Bund verweist auf die Länder, die Länder verweisen auf die Kommunen. Ähnliches erfolge zwischen den für Gesundheit zuständigen Ministerien und den für schulische Belange verantwortlichen Kultusministerien.

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat im Schulterschluss mit zahlreichen anderen Fachgesellschaften im vergangenen Jahr ein Positionspapier zur Versorgung von Kinder und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen in der Schule am Beispiel des Typ-1-Diabetes verfasst und breit gestreut. Darin fordert die Fachgesellschaft die Einführung von Schulgesundheitsfachkräften flächendeckend, in einem ersten Schritt für Kinder im Grundschulalter.

Modelle wie die sogenannten „Frühen Hilfen“ oder „Der Digitalpakt Schule“ hätten gezeigt, dass sich Kompetenzschwierigkeiten überwinden lassen, wenn der politische Wille gegeben ist.


Quellen:
Informationen zum Modellprojekt Schulgesundheitsfachkräfte der AWO: Mehr Gesundheit im Schulalltag | Schulgesundheitsfachkräfte (schulgesundheitsfachkraft.de)
H. Sassmann: Wer ist gestresst, wann, warum und wie sehr? Elterliche Belastungen und Bedürfnisse in der Betreuung von Kindern mit Typ 1 Diabetes, Poster DDG 052

Quelle: Gemeinsame Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe und des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) am 6. September


Autorin:
Ingeborg Fischer-Ghavami
Redaktion diabetologie-online
Verlag Kirchheim & Co GmbH
Wilhelm-Theodor-Römheld-Str. 14, 55130 Mainz