In Boston/Massachusetts haben sich in diesem Jahr über 18 000 Diabetes-profis zur Jubiläumstagung der American Diabetes Association getroffen. Zum 75. Mal fand das Treffen statt. Claudia Walter war mittendrin und berichtet über Symposien und vieles mehr.
In einer der geschichtsträchtigsten Städte der Ostküste Nordamerikas fand in diesem Jahr die 75. Jahrestagung der amerikanischen Diabetesgesellschaft statt. Boston/Massachusetts ist die größte Metropole Neuenglands. Dem "Freedom Trail" entlang kann der Besucher die bedeutendsten historischen Gebäude und Plätze des Unabhängigkeitskampfes erkunden. Zu den bekanntesten Bostoner Bürgern zählen John F. Kennedy und sein Bruder Robert.
Sowohl die älteste Hochschule der USA, die Harvard University, als auch eine der bedeutendsten technischen Universitäten der Welt, das Massachusetts Institute of Technology (MIT), befinden sich in einer Vorstadt von Boston. Diabetes spielt in dieser Stadt eine ganz besondere Rolle, da hier Elliot P. Joslin ab 1898 wirkte. Die Joslin Clinic war die erste Spezialeinrichtung für Diabetes und gilt noch heute als eine der angesehensten Diabetes-Forschungsstätten.
Etliche Symposien, Posterpräsentationen und weitere Veranstaltungen
In 94 Symposien, 50 Oral Sessions, 10 Special Lectures, 17 Meet-the-Expert-Veranstaltungen, mehr als 170 Cutting-Edge-Sessions, 2.300 Poster und bei 60 Audio-guided-Poster-Tours konnten sich die 18.246 Teilnehmer von Freitagnachmittag bis Dienstagmittag über die neuesten Forschungsergebnisse informieren. An diesen enormen Zahlen lässt sich leicht ablesen, dass eine Berichterstattung über einen Kongress immer nur eine subjektive Zusammenfassung darstellen kann. Als Diabetesberaterin standen für mich berufsbezogene Vorträge im Vordergrund.
So erntete Dr. Marjorie Cypress, für ihre Ausführungen großen Beifall, dass es nicht mehr allein damit getan sei, Menschen zum Thema Diabetes zu schulen. In zunehmendem Maße sind viele Patienten gut informiert über die Stoffwechselstörung, es mangelt aber an einer umfassenden Betreuung für die Menschen mit verschiedenen chronischen Erkrankungen. Auch der wachsende Einsatz von unterschiedlichen Medien wie Internet oder Telemedizin machen ein Umdenken aus der traditionellen Diabetesberatung heraus notwendig. Sie stellte sogar die provokative Frage in den Raum, ob die herkömmliche Form der Diabetesberaterin die nächste gefährdete Spezies sein wird.
Frau Cypress ist Diabetesberaterin und Nurse Practitioner, das sind Krankenschwestern mit Zusatzqualifikationen, die die Behandlung von Patienten und die Verordnung von Medikamenten und Therapien einschließen. Die Arbeit der Diabetesberaterin in USA wird von den Ärzten zwar erwünscht, doch dulden diese selbst von exzellent ausgebildeten Nurses keine Einmischung, aber gerade die interdisziplinäre Betreuung der Menschen mit Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen ist enorm wichtig.
Patienten werden zu e-Patienten
Dr. Deborah Greenwood, Koordinatorin des Integrated Diabetes Education Network betonte, dass die Patienten zu e-Patienten geworden sind, die sich im Netz mit anderen unterhalten, ihre Erfahrungen per YouTube auch mitten in der Nacht austauschen, wenn sie die Diabetesberaterin nicht erreichen. Umfragen haben gezeigt, dass Facebook zumindest in USA die erste Anlaufstelle für Menschen mit Diabetes geworden ist. Diabetesberater sollten sich über die sozialen Netzwerke informieren und die Vorteile, aber auch die Schwächen kennen, um den Patienten auf der Suche nach geeigneten Internetseiten behilflich sein zu können.
Professor Dr. Linda Siminerio führte in ihrem Vortrag die Bedeutung der Einbindung der Familienmitglieder von Diabetespatienten aus, die ein wichtiges Ergebnis der DAWN2- Studie war. Sie kann aus eigener Erfahrung sagen, wie wichtig es ist, Informationen zur Erkrankung, aber auch Emotionen mit denen zu teilen, die sich um die Betroffenen sorgen.
Dem Amerikanischen Verband der Diabetesberaterinnen, AADE, gehören etwa 14.000 Mitglieder an, dennoch werben die Rednerinnen dafür, der Gesellschaft beizutreten, um sich schlagkräftiger in der Wahrnehmung der Bevölkerung durchzusetzen. Derzeit kommen auf eine Diabetesberaterin 1.612 Patienten, möglicherweise ist das auch ein Grund dafür, dass in USA nur 6,8% im ersten Jahr nach der Diagnose Diabetes eine adäquate Schulung erfahren. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass die Schulung nur für einen Teil der Betroffenen bezahlt wird.
Weltweit: Conversation-Maps-Training
In USA wurden seit 2007 mehr als 29 000 Diabetesberaterinnen auf die Conversation Maps trainiert, weltweit sind es über 50.000. Inzwischen wird in 120 Ländern in 38 unterschiedlichen Sprachen nach dem Programm geschult, das den einzelnen Patienten auch emotional stark mit einbindet. Für viele Nationen sind die Conversation Maps das einzige Gruppenschulungsprogramm.
In Großbritannien ergab ein Survey, dass durch die Conversation Maps mehr als 80 % der Teilnehmer an der Schulung interaktiv und engagiert teilnahmen. In Israel ist das Programm voll ersatzfähig, in Afrika wurden bereits 30 000 Patienten geschult, bei ihnen verbesserte sich der HbA1c von 8,1 auf 7,6%. In Italien wurde nach der Schulung der nüchtern-Blutzucker von 152 auf durchschnittlich 138 gesenkt. In Indien konnten vor der Schulung 3 von 10 Fragen zum Thema Diabetes richtig beantwortet werden, nach der Schulung waren es bereits 8 von 10.
In Brasilien wurden die Conversation Maps in privaten und öffentlichen Krankenhäusern eingesetzt, die Schulung führte ein multidisziplinäres Team durch, das aus Ärzten, Krankenschwestern, Ernährungsberatern und Pharmazeuten besteht. In Australien wurde die Erfahrung gemacht, dass sich das Schulungsprogramm sowohl in kleinen Kommunen als auch in Krankenhäusern bestens einsetzen lässt. Dort wurde berechnet, dass man für die Schulung mit dem Programm, das AU$ 173 kostet, AU$ 2 827 pro Diabetespatient pro Jahr einsparen kann.
In UK wurde festgestellt, dass die Schulung mit den Conversation Maps kosteneffektiver ist als mit dem britischen Schulungsprogramm DESMOND. Nach der Schulung haben sich in Taiwan die Hypoglykämien deutlich reduziert. Martha Funnell, die maßgeblich an der Entwicklung der Conversation Maps in USA beteiligt war, betonte, dass die Menschen nicht allgemein am Diabetes Interesse zeigen, sondern nur in ihrem Fall, und genau darauf zielt das Programm ab, den Patienten anzusprechen und einzubeziehen.
Auszeichnung für Ernährungsberaterin Linda M. Delahanty
Den Preis für herausragende Tätigkeit als Diabetesberaterin erhielt in diesem Jahr die Ernährungsberaterin Linda M. Delahanty. Sie wurde als Teenager mit dem Thema Diabetes vertraut, als ihre jüngere Schwester einen Typ-1-Diabetes entwickelte. Da es in der Mitte der siebziger Jahre noch keine Blutzuckerselbstkontrolle gab, war es einzig die Diät, die genauestens befolgt werden musste. Die Schwester wog sechs Monate lang jeden Bissen ab, dann gab sie auf, weil sie sich nicht in der Lage sah, lebenslang nur zwei Drittel eines Apfels als kleinere Mahlzeit zu essen.
Für viele Patienten ist es kein Problem, zu wissen, was sie essen können oder eher vermeiden sollten, sondern für immer auf das richtige Essen achten zu müssen. Aber dass die Ernährung einer der Hauptfaktoren bei der Behandlung des Diabetes ist, bestätigte sich in der DCCT-Studie, an der die Rednerin beteiligt war. Als Diabetesberaterin beherzigt sie nach wie vor die Bitte ihrer Schwester, den Menschen Hoffnung zu vermitteln, sie bei der Auseinandersetzung mit der Krankheit zu unterstützen und vor allem die Fülle an Informationen für die Patienten umsetzbar zu machen. Die Preisträgerin war ebenso in der Studie zum Diabetes Prevention Program (DPP) involviert.
Die Menschen, die ein hohes Risiko zur Entwicklung eines Diabetes haben, sind zunächst hoch motiviert, ihren Lebensstil zu ändern undabzunehmen. 49 % der Beteiligten reduzierten ihr Körpergewicht um 7% innerhalb der ersten sechs Monate, allerdings war das nur noch bei 37% am Ende der Studie der Fall. Nur wenn die Menschen selbst in der Lage sind, ihre Ernährung und die entsprechende Intensität der Bewegung fortzuführen, ist ein Erfolg sicher.
Die Ernährungsberaterin Delahanty lehnt strikte Diätvorschriften ab, sie empfiehlt nicht, dass die Menschen immer auf gesundes Essen achten sollen sondern dass dies häufiger geschieht. Eigentlich wissen die Menschen, was sie tun sollen, die Diabetesberaterin sollte ihnen nur das Rüstzeug vermitteln, damit sie auch in Zukunft ihren veränderten Lebensstil beibehalten können.
Zwei besondere Anlässe zum Feiern
In diesem Jahr gaben zwei besondere Ereignisse Anlass zum Feiern, zum einen blickte die Amerikanische Diabetes Gesellschaft auf ihr 75jähriges Bestehen zurück, zum anderen konnten Forschung und Behandlung des Diabetes auf 50 Jahre Erfolgsgeschichte hinweisen. Wenn damals die Diagnose Diabetes noch einem Todesurteil gleich kam, so sprechen wir heute von einer chronischen Erkrankung. Als Wissenschaftler vor 5 Dekaden mit ihrer Erforschung begannen, gingen sie davon aus, dass z.B. das Nerven- und das Hormonsystem völlig getrennt voneinander zu betrachten seien.
In den vergangenen Jahren konnten neue Methoden und Wirkungsbereiche erforscht und entdeckt werden wie etwa die Inkretine oder Antikörper und damit auch neue Behandlungsmöglichkeiten. Für die Patienten brachten die Fortschritte große Erleichterung, so müssen nicht mehr 10 Tropfen Urin mit einem Teelöffel Kupfersulfatlösung gemischt und erhitzt werden. Färbte sich die Mischung blau, war alles gut, wehe aber, wenn die Farbe rot war. Die 78jährige Typ-1-Diabetikerin Kathryn Ham berichtete über Glasspritzen, die ausgekocht werden mussten und über dicke Nadeln, die niemals scharf blieben und daher eine meist schmerzhafte Injektion verursachten.
Sowohl die Verwendung von Blutzuckermessgeräten als auch die extrem dünnen und kurzen Nadeln erleichtern die Insulintherapie heutzutage enorm, geblieben sind aber nach wie vor die notwendige Disziplin, den Blutzucker zu messen, die genaue Beachtung der Kohlenhydratmenge, die Bewegung und die konsequente Einnahme der Medikamente. Die Ärzte haben heute eine bessere Vorstellung, was es bedeutet, eine chronische Erkrankung zu managen und wie sie die Patienten unterstützen können, im Gegensatz zu früher, als es immer nur darauf ankam, ärztliche Anordnungen zu geben.
Neue Studienergebnisse
Die Ergebnisse zweier großer Studien wurden im Rahmen des Diabeteskongresses präsentiert. In der TECOS-Studie (Trial to Evaluate Cardiovascular Outcomes after Treatment with Sitagliptin) wurde überprüft, ob es bei der Behandlung von Typ-2-Diabetikern mit Sitagliptin zu einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse komme. Es konnte gezeigt werden, dass bei Hoch-Risikopatienten keine Anzeichen für vermehrte Herzinfarkte zu erkennen waren. Außerdem wurde die Sicherheit des Medikamentes bestätigt in Bezug auf Infektionen, Krebs, Nierenversagen oder schwere Hypoglykämien.
Die Ergebnisse der ersten Studie zur Sicherheit bezüglich kardiovaskulärer Ereignisse nach einem akuten Koronarsyndrom zeigten in ELIXA (Evaluation of Cardiovascular Outcomes in Patients with Typ-2-Diabetes After Acute Coronary Syndrome During Treatment With Lixisenatide) kein erhöhtes Risiko für kardiovaskulären Tod, Herzprobleme, Schlaganfall, Angina pectoris oder Herzversagen. Die Studie wies außerdem auf keine Zunahme von Pankreatitis oder Krebs hin.
Der Präsident der 75. Jahrestagung der amerikanischen Diabetes Gesellschaft, Dr. Samuel Dagogo-Jack weiß, dass der Krieg gegen Diabetes zwar eine große Herausforderung bleibt, aber er hofft, dass er eines Tages doch zu gewinnen sei. Er machte in seiner Rede deutlich, dass in USA der Prozentsatz der Menschen mit Diabetes sehr unterschiedlich ist bei den verschiedenen ethnischen Gruppen. In der weißen Bevölkerung rechnet man mit ungefähr 7,6%, bei den Schwarzen liegt die Erkrankungsziffer bei 13,2%, bei den American Indians bzw. bei den Ureinwohnern Alaskas sind sogar 15,9% diagnostiziert. Er sieht eine große Aufgabe darin, diese Unterschiede der Inzidenz in der Zukunft aufheben zu können.
Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (10) Seite 34-37
