Ein brisantes Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zu Disease-Management-Programmen (DMPs) gab es im vergangenen November. Dr. Martin Lederle hat es sich genau angesehen und die Fachanwältin für Medizinrecht Dr. Anna Lauber zu den Auswirkungen befragt.

Der 6. Senat des Bundessozialgerichtes (BSG) in Kassel musste sich mit dem folgenden Tatbestand befassen:

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme von Genehmigungen zur Teilnahme am Disease-Management-Programm (DMP) Diabetes mellitus Typ 2 als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt sowie zur Teilnahme an zwei Diabetesvereinbarungen.

Der Kläger nimmt als Arzt für Innere Medizin an der hausärztlichen Versorgung teil. Er verfügt über die Anerkennung als Diabetologe nach den Richtlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) sowie die Zusatzbezeichnung Diabetologie nach der Weiterbildungsordnung der Bayerischen Landesärztekammer.

Mit Bescheid vom 15.12.2008 erteilte die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) dem Kläger die Genehmigung zur Teilnahme am DMP-Vertrag als koordinierender Arzt (§ 3 Abs 2 iVm Anl 1 DMP-Vertrag) sowie als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt (§ 4 Abs 2 iVm Anl 2 DMP-Vertrag (Schwerpunktpraxis)), mit Bescheid vom 23.3.2009 die Genehmigung zur Teilnahme an der Diabetesvereinbarung nach § 43 SGB V zwischen der Beklagten und der AOK Bayern und mit Bescheid vom 15.12.2010 die Genehmigung zur Teilnahme an der Diabetesvereinbarung zwischen der Beklagten und dem BKK Landesverband, der Knappschaft, der Vereinigten IKK, dem Verband der Ersatzkassen (vdek) und der Krankenkasse für Landwirte (LKK).

Mit Bescheid vom 19.9.2011 hob die Beklagte die dem Kläger erteilte Genehmigung zur Teilnahme am DMP-Vertrag als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt sowie die beiden Genehmigungen zur Teilnahme als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt an den beiden o.g. Diabetesvereinbarungen auf, soweit sie die Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 betraf. Erhalten blieb damit die Genehmigung zur Teilnahme als koordinierender Arzt gemäß § 3 des DMP-Vertrages Diabetes mellitus Typ 2 sowie die Genehmigung zur Teilnahme an den beiden Diabetesvereinbarungen, soweit sie die Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 zum Gegenstand hatte.

Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass in den rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass der Genehmigungsbescheide vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Der DMP-Vertrag vom 1.9.2008 in der Fassung vom 25.3.2009 sei mit Wirkung vom 1.7.2010 durch einen neuen DMP-Vertrag vom 10.6.2010 ersetzt worden und auch die Diabetesvereinbarungen seien mit Wirkung vom 1.1.2011 durch Vereinbarungen vom 30.11.2010 ersetzt worden. Nach § 7 Abs 6 des neugefassten DMP-Vertrages blieben zwar die bereits erteilten Genehmigungen bestehen.

Voraussetzung für das Fortbestehen der Genehmigung als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt sei jedoch der Nachweis, dass in dem Jahreszeitraum der Quartale III/2010 bis II/2011 durchschnittlich mindestens 250 gesetzlich krankenversicherte Patienten mit einem Diabetes mellitus (Typ 1 und/oder Typ 2) pro Quartal behandelt worden sind. Andernfalls sei die Genehmigung zu "widerrufen".

Der Kläger habe im Durchschnitt der genannten Quartale nur 136,25 gesetzlich krankenversicherte Patienten mit Diabetes mellitus behandelt. Damit lägen auch die Voraussetzungen für die Rücknahme der Genehmigung zur Teilnahme an den beiden o.g. Diabetesvereinbarungen als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt für die Betreuung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 (Abrechnungsnummern 97320, 97321, 97323, 97276 für die Betreuung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2) vor. Voraussetzung für die Berechtigung zur Abrechnung der genannten Gebührenordnungspositionen sei die Teilnahme am DMP Diabetes mellitus Typ 2 als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt.

Auszüge aus dem Urteil

Das BSG hat sich als oberste gerichtliche Instanz der Sozialgesetzgebung intensiv mit der Sachlage befasst und hat sich im Urteil vom 29.11.2017 ausführlich dazu geäußert; hier einige Auszüge aus dem Urteil:

Aus den genannten Gründen sind Mindestmengen als Instrument der Qualitätssicherung im Bereich von DMP nicht generell ausgeschlossen. Der Umstand, dass die Teilnahme am DMP von Qualitätsanforderungen abhängig gemacht werden darf und dass es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung zu den Voraussetzungen für die Festlegung von Mindestpatientenzahlen gibt, hat allerdings zur Folge, dass Mindestpatientenzahlen nur als Instrument der Qualitätssicherung und nicht unabhängig davon zur Erreichung anderer, gesetzlich nicht geregelter Ziele eingeführt werden dürfen. Aus diesem Grund begegnen Mindestpatientenzahlen als Voraussetzung für die Teilnahme an einem DMP-Vertrag nur dann keinen Bedenken, wenn sie entsprechend der gesetzlich vorgegebenen Zielsetzung erhebliche Qualitätsvorteile erwarten lassen und diese Vorteile durch weniger belastende Vorgaben der Qualitätssicherung nicht ebenso erreicht werden können (im Ergebnis ähnlich zur Krankenhausbehandlung.

Eine Beschränkung der Teilnahme durch Vorgaben zu Mindestmengen die vorrangig dem Ziel der Begrenzung der Zahl der teilnehmenden Ärzte und nicht dem Ziel der Qualitätssicherung dienen, wäre nicht zulässig, weil das Gesetz den DMP-Vertragspartnern keine Aufgaben im Bereich der Bedarfsplanung überträgt.

Danach ist Voraussetzung für die Einführung von Mindestpatientenzahlen auch im Bereich von DMP, dass eine Studienlage besteht, die nach wissenschaftlichen Maßstäben einen Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und -qualität wahrscheinlich macht. Es ist nicht erforderlich, dass die "Studien" einen Kausalzusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne zwischen Behandlungsmenge und -ergebnis beweisen; ausreichend ist, dass vorliegende Studien auf einen solchen Zusammenhang hinweisen. Nicht ausreichend ist jedoch die "landläufige Erfahrung", dass eine routinierte Praxis im Allgemeinen eine bessere Ergebnisqualität sichert als deren Fehlen.

Den genannten Anforderungen wird die hier von den Gesamtvertragspartnern im DMP-Vertrag Diabetes mellitus Typ 2 getroffene Festlegung auf eine Mindestpatientenzahl von 250 je Quartal im Jahresdurchschnitt als Teilnahmevoraussetzung nicht gerecht. Sie ist daher insoweit rechtswidrig und damit nichtig. Ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Qualität und Leistungsmenge ist nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht belegt.

Das BSG kommt in seinem Urteil zu folgendem Schluss:

Die Revision des Klägers ist begründet. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der dem Kläger erteilten Genehmigungen zur Teilnahme als diabetologisch besonders qualifizierter Arzt am DMP-Vertrag und an den Diabetesvereinbarungen liegen nicht vor, weil die Vertragspartner des DMP-Vertrages die Teilnahme nicht davon abhängig machen durften, dass der Arzt im Jahresdurchschnitt mindestens 250 gesetzlich krankenversicherte Diabetiker pro Quartal behandelt. Die entsprechende Vereinbarung zur Mindestpatientenzahl ist rechtswidrig und damit unwirksam.

Auch im aktuellen "Diabetesvertrag" für Westfalen-Lippe ist in der Anlage 1 a zur Strukturqualität und Teilnahmevoraussetzungen je Arzt mit Anerkennung als Diabetologische Schwerpunktpraxis (DSP) eine Mindestanzahl an Patienten mit Diabetes mellitus definiert.

Dort heißt es:
Persönliche Behandlung von stets mindestens 50 Typ-1-Diabetikern und 250 überwiesenen Typ-2-Diabetikern je Quartal
  • ab 01.07.2018 von stets mindestens 60 Typ-1-Diabetikern und 300 Typ-2-Diabetikern je Quartal,
  • ab 01.07.2019 von stets mindestens 70 Typ-1-Diabetikern und 350 Typ-2-Diabetikern je Quartal,
  • ab 01.07.2020 von stets mindestens 80 Typ-1-Diabetikern und 400 Typ-2-Diabetikern je Quartal und Erfahrung in der Patientenschulung.

Ähnlich definierte Mindestzahlen gibt es natürlich auch in den "Diabetes­verträgen" in anderen KV-Bereichen.

Im Gespräch mit Rechtsanwältin Dr. Anna Lauber

Zu den möglichen Auswirkungen auf diese Verträge befragte ich Frau Dr. Anna Lauber, angestellte Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht in der Kanzlei am Ärztehaus in Münster (E-Mail: a.lauber@kanzlei-am-aerztehaus.de). Hier sind ihre Antworten auf meine Fragen:


Hat das BSG –Urteil vom 29.11.2017 automatisch Auswirkungen auf die bestehenden Diabetesverträge, die es in Deutschland gibt?

Auf die aktuell bestehenden Verträge als solche hat das Urteil zunächst keine unmittelbare Auswirkung. Allerdings können Ärzte ablehnende Bescheide, die auf Grundlage der Mindestzahlen in Diabetesverträgen ergehen, nun mit Hinweis auf das BSG-Urteil mit dem Widerspruch und der Klage erfolgreich angreifen. Spätestens ein Sozialgericht wird dann unter Heranziehung der höchstrichterlichen Rechtsprechung den Bescheid als rechtswidrig verwerfen, weil er auf einer rechtswidrigen Voraussetzung fußt.

Die Anlage 1 a des aktuellen Diabetesvertrages in Westfalen -Lippe enthält Mindestzahlen für die persönliche Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 bzw. Typ 2. Ist diese "Hürde" im Lichte des BSG – Urteils noch haltbar?

Die Anlage 1a des aktuellen Diabetesvertrages in Westfalen-Lippe sieht ab dem 01.07.2018 Mindestzahlen von 60 Typ 1-Diabetikern und 300 Typ 2-Diabetikern je Quartal vor. Nach den Urteilsgründen des BSG gab es schon für die vergleichsweise niedrige Schwelle von 125 Patienten pro Quartal in Baden-Württemberg keine Grundlage. Die Sozialgerichtsbarkeit würde daher mit großer Wahrscheinlichkeit erst recht die in Westfalen-Lippe geltenden Mindestzahlen als rechtswidrig ansehen und daher ablehnende Bescheide, die sich auf die Nichterreichung dieser Mindestzahlen stützen, aufheben.

Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn die Vertragspartner die Mindestzahlen in dem Wissen um Studienergebnisse, Daten und Statistiken eingeführt haben, die eindeutig einen Kausalzusammenhang zwischen Quantität und Qualität der Behandlung belegen.

Der aktuelle Diabetesvertrag in Westfalen –Lippe gründet auf § 137 f, SGB V. In Westfalen – Lippe gab es schon vor der DMP – Ära Strukturverträge für Diabetespraxen, die eine andere rechtliche Grundlage hatten. Gibt es noch eine alternative rechtliche Grundlage im SGB V für einen Diabetesvertrag?

Der Abschluss von Strukturverträgen nach § 73a SGB V war nur bis Juli 2015 möglich. Im Rahmen vieler Vereinbarungen nach § 73a SGB V (die in verschiedenen KV-Bezirken noch weiter Geltung haben) wurden Regelungen für die vertragsärztliche Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus einschließlich der Schnittstellen innerhalb der ärztlichen Versorgungskette und zu der versichernden Krankenkasse definiert, um eine der individuellen Situation des Versicherten angepasste Versorgung zu gewährleisten. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz ist diese Vertragsform durch die "Besondere Versorgung" nach § 140a SGB V ersetzt worden.

Diese Verträge haben jedoch einen anderen Mechanismus. Sie werden zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkassen direkt abgeschlossen. Sie können einzelne Indikationen abdecken, aber auch alle medizinischen Belange der eingeschriebenen Versicherten umfassen. § 137f SGB V, der Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten vorsieht, bleibt mithin für Diabetesverträge die einzige mögliche rechtliche Grundlage, die vom Sozialgesetzgeber momentan vorgesehen ist.

Aus Ihrer juristischen Sicht: wie müsste ein Diabetesvertrag formuliert sein, damit der Rahmen, den das BSG – Urteil beschreibt, eingehalten werden kann?

Das BSG setzt sich in seinen Urteilsgründen ausführlich damit auseinander, welche Regelungen die Vertragspartner in einem Diabetesvertrag treffen dürfen und welche nicht. Der Prüfungsmaßstab für die möglichen Vertragsinhalte ergibt sich aus § 137g SGB. Danach hat das Bundesversicherungsamt auf Antrag einer oder mehrerer Krankenkassen oder eines Verbandes der Krankenkassen die Zulassung von Programmen nach § 137f Abs. 1 zu erteilen, wenn die Programme und die zu ihrer Durchführung geschlossenen Verträge die in den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 137f und in der Rechtsverordnung nach § 266 Abs. 7 genannten Anforderungen erfüllen.

Maßgeblich sind somit die Vorgaben des § 137 f Abs. 2 SGB V hinsichtlich der Inhalte der Richtlinien und ihre Ausgestaltung durch den G-BA. Aus den vorgenannten Regelungen ergibt sich nach der Interpretation des BSG in seinem Urteil vom 29.11.2017 keine Regelungskompetenz für bedarfsplanerische Ziele, sondern lediglich ein weiter Gestaltungsspielraum für Regelungen, die der Qualitätssicherung dienen. Die Vertragspartner dürfen demnach nur Regelungen einführen, für die sie belegen können, dass sie mit Blick auf die Qualitätssicherung geeignet und erforderlich sind.


Es wird somit spannend bleiben, wie die Vertragspartner die bestehenden Diabetesverträge weiterentwickeln werden. Das Diabetes Forum wird dieses wichtige Thema im Auge behalten und weiter darüber berichten. Ich bedanke mich sehr bei Frau Dr. Lauber für ihre ausführliche juristische Stellungnahme zu diesem Thema.


Autor: Dr. Martin Lederle
Chefredakteur Diabetes-Forum
Diabetologe DDG
Medizinisches Versorgungszentrum Ahaus

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2018; 30 (10) Seite 20-24