Worum handelt es sich bei der Schulung eigentlich im Detail? Ist die Patientenschulung primär ein medizinischer oder doch eher ein pädagogischer Prozess? Dr. Herbert Hillenbrand weiß, warum die Einordnung wichtig ist.

Schule, Bildung, Schulpolitik – gefährliche Themen für Landesregierungen! Schon mehrfach haben diese Themen eine große und mindestens mitentscheidende Rolle bei Landtagswahlen gespielt. Verständlich, denn Schule und Bildung sind ganz wesentliche Fundamente für die Entwicklung eines Kindes in ein "erfolgreiches" Erwachsenenleben. Und so tobten in der Vergangenheit wahre Glaubenskriege um die Frage "was macht die gute Schule aus?".

Nicht zuletzt durch Qualitätsmessungen und Qualitätsvergleiche bleibt das Thema von höchster Bedeutung für Politik und Gesellschaft. Seltsamerweise gingen diese Diskussionen und Entwicklungen im Gesundheitswesen beim Thema Schulung von Patienten ohne Resonanz vorbei. Obwohl doch auch hier mit der Schulung wesentliche Fundamente für ein "erfolgreiches" Leben mit der Krankheit gelegt werden. Liegt es daran, dass die Patientenschulung primär als medizinischer Prozess und nicht als pädagogischer Prozess gesehen wird?

Werden die Schulungsprograme doch von medizinischem Personal entwickelt und in Praxis und Klinik umgesetzt. Pädagogische Erkenntnisse spielen sowohl bei der Programmentwicklung wie auch bei der Programmumsetzung bisher keine große Rolle. Wichtige Erkenntnisse, Entwicklungen und Diskussionen in der pädagogischen Wissenschaft werden im Gesundheitswesen nicht wahrgenommen. Muss die Patientenschulung nicht primär als pädagogischer Prozess gesehen werden?

Mit Stand Ende 2016 waren vom Bundesversicherungsamt (BVA) im Rahmen der DMP 37 (!) Schulungsprogramme zugelassen:

  • D.m. Typ-1: 7 Programme
  • D.m. Typ-2: 15 Programme
  • KHK: 3 Programme
  • Bluthochdruck: 3 Programme
  • Asthma: 6 Programme
  • COPD: 3 Programme

Es ist verständlich, dass es bei den Schulungsprogrammen, ähnlich wie bei Schulbüchern, mehrere didaktische Konzepte gibt. Aber müssen es bei Diabetes allein über 20 verschiedene Programme sein? Was ist die Begründung für diese Vielfalt? Dazu müssen wir uns die Entwicklung der Patientenschulung in Deutschland anschauen, die vor allem durch die Diabetes-Programme geprägt wurde.

Patientenschulungen 1.0 und 2.0

1987 kamen die ersten Diabetes-Schulungsprogramme auf den Markt. Initiatoren dieser ersten Schulungsprogramme waren die Gruppe um Prof. Berger in Düsseldorf sowie die Firma Boehringer Mannheim. Dabei war das "Behandlungs- und Schulungsprogramm Typ-2 ohne Insulin" das Grundmuster für Folgeprogramme Diabetes, INR, Asthma…. (Patientenschulung 1.0).

Alle diese Programme wurden in erster Line von Ärzten aus dem Gesichtspunkt der therapeutischen Notwendigkeit und der damals noch vorherrschen didaktischen Methoden und Mitteln der Wissensvermittlung entwickelt.

Programme der zweiten Generation

Zehn Jahre später kamen dann die Programme der 2. Generation auf den Markt, die vor allem von Psychologen (mit Diabetologen) unter verhaltensmedizinischen Gesichtspunkten entwickelt wurden (Patientenschulung 2.0). Hier war es vor allem die Gruppe um die Professoren Kulzer und Hermanns in Bad Mergentheim, die hier prägend waren und sind.

Mit den Disease-Management-Programmen (2002), die den Status von Rechtsverordnungen haben, hat zumindest der in ein Programm eingeschriebene Patient das Anrecht bzw. sogar die Verpflichtung an einer Schulung teilzunehmen ("Information und Schulung von Versicherten"). Die Patientenschulung ist damit Bestandteil von "Strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke" (=DMP).

Dieser grundsätzliche Ansatz wurde mit der Einführung des ersten Programmes zementiert: "Behandlungs-und Schulungsprogramm…". Dabei hatte man vor allem im Auge, die vorherrschende "Euglucon-Therapie" in Frage zu stellen (Auslassversuch!).

Mit den einzelnen Ausführungen der Rechtsverordnungen DMP erfolgte die Kopplung der Schulungsprogramme an definierte Therapieformen:
  • "Die Struktur der Schulungsprogramme muss so gestaltet sein, dass sie sich an den Therapiezielen und an den medizinischen Inhalten der jeweils betroffenen Anlagen der…Rechtsverordnung (DMP) ausrichtet.
  • "Die Programmentwickler haben für ein Schulungsprogramm ein bestimmtes strukturiertes Behandlungsprogramm zugrunde zu legen und in diesem Schulungsprogramm haben sich eindeutig die einschlägigen medizinischen Inhalte dieses strukturierten Behandlungsprogramms wieder zu finden".
  • Die Schulungsprogramme sollen durch kontrollierte, möglichst randomisierte und einzel-verblindete Studien evaluiert sein und die Endpunkte der Studie müssen mindestens mit einzelnen der indikationsspezifisch genannten Therapiezielen übereinstimmen.

Aus all diesen Regularien aus dem Jahr 2002 erklärt sich dann die heutige Realität, dass wir aufgrund der heutigen Vielfalt an Therapieformen des Typ-2-Diabetes eine entsprechend große Zahl an Schulungsprogrammen haben.

Patientenschulung 3.0

Ist dies heute, 15 Jahre später, immer noch so richtig bzw. hilfreich? Ein Mensch mit Diabetes ist nicht nur Diabetiker, sondern in erster Linie Mensch – und die Menschen sind sehr unterschiedlich. Unterschiedlich sind die Bildungsvoraussetzungen für die Patientenschulungen. In den Schulungen sitzen Akademiker neben Menschen mit Hauptschulabschluss, ohne Schulabschluss, Menschen mit Lernschwächen und Analphabeten. 7,5 Mio Deutsche können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.

Wieviel Schulungspatienten können überhaupt mit einer Konzentrationsangabe, mit einer Wirkkurve, mit physiologischen Modellen wie z.B. der Insulinwirkung oder gar der Insulinresistenz umgehen bzw. diese Dinge überhaupt verstehen? Vertieft man sich in die entsprechenden Zahlen, sieht man dann noch die älteren bzw. geriatrischen Patienten mit kognitiven Einschränkungen, dann erkennt man, dass die heutigen Schulungen an sehr vielen Menschen von vornherein vorbeigehen müssen. Diese Menschen werden es auch möglichst vermeiden, an Schulungen teilzunehmen.

Die einseitige Fokussierung und Differenzierung der Schulungen auf bzw. nach Therapieformen ohne Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen für das Lernen und Verstehen nimmt sehr vielen Menschen die Chance auf Teilhabe an Schulungen und begrenzt von vornherein damit auch den Therapieerfolg! Wollen wir hier besser werden (und wir müssen es!), dann müssen wir die Patientenschulungen auf eine andere Grundlage stellen und das sind die Erkenntnisse der Pädagogik und Erwachsenenbildung!

Die Patientenschulung 3.0 bedeutet nicht unbedingt, dass wir neue Schulungsprogramme produzieren. Vielmehr geht es um die professionelle Befähigung der Schulenden, die vorhandenen Programme auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen oder Bildungsniveaus zu adaptieren. In diesen Zusammenhang müssen wir heute auch die digitalen Möglichkeiten für das Lernen sehen.

Digitale Evolution

Hier ist ja bereits eine digitale Evolution in der Pädagogik bzw. in der Schule im Gange. Sicherlich werden wir für Viele, vor allem für jüngere Menschen mit Diabetes, mit digitalen interaktiven Schulungsmodulen nicht nur die Motivation für die Schulung sondern auch den Lernerfolg erhöhen.

In den letzten 20 Jahren haben sich die therapeutischen Ansätze und Therapieformen für Menschen mit Typ-2-Diabetes sehr differenziert und verfeinert. Das führt auch dazu, dass beim Patienten selbst die Therapieform sich immer wieder ändert, die Therapie im Sinne einer Stoffwechseloptimierung neu angepasst wird. Der Patient benötigt für diesen Therapiewechsel lediglich eine ergänzende (Einzel-)Beratung bzw. Schulung. Ähnlich stellt sich die aktuelle Situation beim Wechsel der Blutzuckerselbstkontrollen auf die Messungen in der Gewebeflüssigkeit (CGM und FGM).

In der Medizin wird in den letzten Jahren immer häufiger von "personalisierter Medizin" gesprochen, d.h. von einer auf das Individuum Patient zugeschnittenen (medikamentösen) Behandlung. Gilt nicht auch entsprechend für die Patientenschulung? Müssen wir uns nicht auch von den veralteten Schulungsrichtlinien der DMP aus dem Jahr 2002 trennen bzw. müssen diese Richtlinien nicht auch Schritt halten mit den Erkenntnissen und Entwicklungen der Pädagogik und Medizin?

Schwerpunkt: Schulung


Autor: Dr. Herbert Hillenbrand
Uhlandstraße 31
69493 Hirschberg

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2017; 29 (4) Seite 11-13