Notfälle gibt es selbstverständlich auch in der Diabetologie. Die Hypoglykämie ist ein Beispiel dafür, dass Akutkomplikationen zu vitalen Bedrohungen werden können. Was sonst noch alles in der Praxis zum Thema Notfälle zu beachten ist, wird in unserem Titelthema geklärt.

Schwerpunkt: Notfälle in der Diabetologie
Diabetesbedingte Notfälle lassen sich in der Regel gut behandeln. Allerdings: solche Vorkommnisse erfordern Fachkenntnisse bei den behandelnden Notärzten. Außerdem spielt das Management der Patienten nach der stationären Aufnahme eine entscheidende Rolle. Das Allerbeste wäre natürlich, solche Notfälle existierten in der Praxis gar nicht, klar. Vorbeugen kann man, wenn alle Menschen mit Diabetes entsprechend gut geschult werden. Wie das durchzusetzen ist und was es zu schulen gilt, weiß Dr. Nicola Haller, Vorsitzende des VDBD (Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V.). Dr. Martin Lederle ist Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) im St. Marien-Krankenhaus in Ahaus. Er sagt Ihnen in diesem Titelthema, wie Diabetesnotfälle in der Klinik am besten versorgt werden können. Aber zunächst gibt Ihnen Professor Thomas Haak, Leitender Notarzt Main-Tauber-Kreis, einen Überblick.

Der Diabetes mellitus ist heutzugtage eine sehr gut behandelbare Erkrankung mit vielen therapeutischen Optionen. Ernsthafte Gefahren für die Gesundheit der Betroffenen entstehen zumeist durch Langzeitkomplikationen des Diabetes mellitus. Dennoch können auch Akutkomplikationen zu einer vitalen Bedrohung für die Patienten werden. Ein Beispiel hierfür ist die schwere Hypoglykämie, die Fremdhilfe oder notärztliche Expertise erfordert. Diese zählt mit zu den häufigsten Notfällen, wenn es um hormonell bedingte Erkrankungen geht.

Aber auch diabetesbedingte Notfälle lassen sich in der Regel gut behandeln. Sie erfordern jedoch Fachkenntnisse seitens des Notarztes und ein gutes Management der Patienten in der Klinik nach der stationären Aufnahme. Am besten wäre jedoch, wenn diese Notfälle gar nicht erst auftreten. Dies ist der Grund, warum Menschen mit Diabetes in Rahmen der Schulung auf Notfallsituationen vorbereitet werden sollten. Dabei sind auch die Angehörigen entsprechend zu schulen. In diesem Beitrag werden all diese Aspekte entsprechend beleuchtet und mit praxisrelevanten Tipps für die Umsetzung dargestellt.

Prähospitales Notfallmanagement

Entscheidend für die richtige Auswahl der Hilfskräfte ist die Einschätzung der aktuellen Gesundheitsstörung durch den Patienten bzw. dessen Angehörige. Ist der Patient klinisch stabil, d.h. Blutdruck und Puls liegen im Normbereich und der Patient ist ansprechbar, so sollte zunächst der Hausarzt oder außerhalb dessen Sprechzeiten der kassenärztliche Vertretungsdienst kontaktiert werden. Ist der Patient auch gehfähig, so kann die Hausarztpraxis oder die kassenärztliche Notfallpraxis aufgesucht werden. Ist der Patient hingegen instabil, d.h. der Blutdruck ist erniedrigt, der Puls auf über 100 Schläge/Min. erhöht oder das Bewusstsein eingeschränkt, so ist dies ein Fall für den Rettungsdienst. Dies gilt auch für Patienten mit einer drohenden Sepsis, die anhand von Fieber über 38,5 Grad, Schüttelfrost zunehmender Bewusstseinstrübung erkennbar ist. Durch gezieltes Nachfragen kann der Disponent in der Rettungs-Leitstelle dann entscheiden, ob ein Rettungswagen alarmiert wird oder gleichzeitig ein Notarzt hinzugezogen wird.

Prähospitale Notfalldiagnostik nach dem ABCDE-Standard

Bei Eintreffen des Rettungsdienstes und/oder des Notarztes wird zunächst überprüft, ob die Vitalfunktionen des Patienten beeinträchtigt sind. Standardmäßig folgt man idealerweise der angloamerikanischen ABCDE-Regel und überprüft zunächst, ob die Atemwege (A wie AIRWAY) frei sind und der Patient gleichmäßig atmet (B wie Breathing). Schnelles und vertieftes Atmen (sogenannte Kußmaulsche Atmung) in Verbindung mit hohen oder nicht mehr messbaren Blutzuckerwerten deutet auf eine Ketoazidose hin, insbesondere wenn die Ausatem-Luft nach faulem Obst oder Nagellackentferner (Azetongeruch) riecht.

Danach kontrolliert man den Blutdruck und die Herzfrequenz durch Anlegen eines EKG-Gerätes und eine Pulsoxymeters (C wie Circulation). Durch Ansprechen des Patienten werden Ausfallserscheinungen wie Desorientiertheit erfasst (D wie Deficiency). Das Ausmaß von Bewussteinseinschränkung kann anhand der Glasgow-Coma-Scale quantifiziert werden.

Abschließend wird durch Befragung des Patienten und der Angehörigen eine Anamnese erhoben und die regelmäßige Einnahme von Medikamenten erfragt (E wie Environment).

© Kirchheim/Frank Schuppelius
Die Unterzuckerung: sicherlich ein bekannter Notfall aus der Praxis.

Nach Messen der Körpertemperatur erfolgt das Legen eines venösen Zugangs, aus dem bereits Proben für das Kliniklabor entnommen werden. Bei allen Notfallpatienten wird standardmäßig der Blutzucker vor Ort bestimmt, so das erkennbar wird, ob bei dem Patient ein zu hoher Blutzucker vorliegt oder eben eine Hypoglykämie.

Mit diesem Vorgehen lässt sich schnell und präzise die vorliegende Gesundheitsstörung eingrenzen, nämlich in

  • Hypoglykämie
  • Hyperglyämie und Ketoazidose (vorwiegend bei Typ 1- oder langjährigem Typ-2-Diabetes
  • Hyperglykämie und hyperosmolares Koma vorwiegend bei Typ-2-Diabetes

Soweit möglich wird auch der Versuch unternommen, die Ursache für die akute Gesundheitsstörung zu finden. Dies kann im Fall der Hypoglykämie die Verwechslung von Insulin, Alkoholmissbrauch oder eine falsche Handhabung der Medikation sein. Ketoazidosen entstehen häufig aufgrund von Begleiterkrankungen wie Magen-/Darminfekten oder dem Weglassen von Insulin. Die Abgrenzung einer Ketoazidose von einem hyperosmolaren Koma ist ohne Kenntnis einer Blutgasanalyse mit Bestimmung des pH-Wertes nur eingeschränkt möglich. Eine BGA muss daher umgehend nach der stationären Aufnahme erfolgen.

Während des Transports des Patienten in eine zentrale Notaufnahme werden die Vitalfunktionen permanent überwacht und sofern notwendig weiter stabilisiert. Der Patient erhält mindestens einen großlumigen Zugang und Flüssigkeit in Form von balancierten Lösungen (z. B. Jonosteril) In vielen Leitlinien, so auch in der Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft, ist die Infusion von NaCl 0,9% empfohlen. Dies rührt daher, dass die aktuelle Leitlinien zur Therapie dies Typ 1-Diabetes eine evidenzbasierte S3-Leitlinie ist und zum Zeitpunkt der Erstellung keine ausreichende Evidenz zur Wahl der Infusionslösung vorlag. Mittlerweile gibt es eine neuereAWMF-Leitlinie zur Infusionstherapie, die ebenfalls evidenzbasiert sind und die Gabe von balancierten Lösungen der Gabe von NaCl vorzieht.

Kritisch kranke Patienten sollen umgehend und zeitnah transportiert werden ("load and go instead of stay und play").

Hypoglykämie – vor Ort behandeln

Nicht jeder diabetesassoziierte Notfall muss zwangsläufig zu einer Klinikaufnahme führen. Dies gilt beispielsweise für die Hypoglykämie. Eine schwere Hypoglykämie imponiert den Angehörigen immer als sehr bedrohlicher Notfall, so dass in jedem Falle der Rettungsdienst gemeinsam mit dem Notarzt hinzugezogen werden muss. Die Hypoglykämie selbst ist leicht zu erkennen durch Messen des Blutzuckers. Genauso einfach ist die Behandlung der Hypoglykämie. Der Patient erhält einen sicheren venösen Zugang (Glukose darf nicht paravasal laufen!) und über diesen Glukose 40 %. In der Regel sind 50 - 60 ml dieser Lösung notwendig um die Hypoglykämie zu beseitigen. Die weitere Versorgung hängt von dem Zustand nach Aufklaren des Patienten ab. Lässt sich der Blutzucker nur schwer stabilisieren, so kann eine weitere Infusion mit Glukose 10 % notwendig werden. Erfolgen die Rückkehr der Vigilanz und der Ansprechbarkeit sehr zögerlich, so sollte der Patient sicherheitshalber zur Überwachung in eine Notaufnahme gebracht werden. Leichtere Verläufe einer schweren Hypoglykämie, bei denen der Patient schnell wieder voll orientiert ist und selbst die Ursache für die Unterzuckerung eingrenzen kann, müssen beispielsweise nicht unbedingt einer stationären Behandlung zugeführt werden. Ist der Patient wieder vollständig orientiert und Angehörige sind vor Ort, so kann er auch zuhause belassen werden.

Im Idealfall ist der Notarzt diabetologisch erfahren und kann die aktuelle Therapie überprüfen. Sofern dabei auffällt, dass die Th
erapie nicht plausibel ist, so sollte die stationäre Aufnahme in eine Einrichtung mit diabetologischem Schwerpunkt angestrebt werden.

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Notfall-Kit für den medizinischen Ernstfall.

"Viel hilft viel?"

Ein häufiger Fehler in der Notfallbehandlung der Hypoglykämie ist, dass zu wenig Glukoselösung oder zu niedrig konzentrierte Glukoselösung gegeben wird. Dies führt meist nur zu einem leichten Anheben der Blutzuckerwerte ohne vollständiges Aufklaren des Patienten. Daher gilt für die wirksame Behandlung einer Hypoglykämie, dass "viel auch viel hilft". Ziel ist es nicht, den Blutzucker auf Werte um 100 mg/dl anzuheben, sondern auf mindestens 150 mg/dl, da die Glukosespeicher bei Hypoglykämiepatienten entleert sind und nach Gabe von Glukoselösung sich wieder füllen. Dies führt zu einem erneuten Abfall des Blutzuckers. Daher sollten Patienten nach einer Notfallbehandlung, sofern sie zuhause bleiben, auch zeitnah Kohlenhydrate oral aufnehmen. Ziel ist es, den Blutzucker über die nächsten 24 Stunden um 150 mg/dl zu halten.

Ein wichtiger Hinweis gilt für die zunehmende Anzahl von Patienten mit einem kontinuierlichem Glukose-Mess-System (CGMS, Sensor). Diese sind nicht geeignet, bei einer Notfallbehandlung die Wirksamkeit der Glukosegabe zu bestimmen, da der Anstieg der Glukose im Unterhautfettgeweben erst zeitverzögert sichtbar wird. Dies täuscht eine fehlende Wirkung vor und führt damit verbunden zu einer Übertherapie der Hypoglykämie.


Autor:
Prof. Dr. Thomas Haak
Chefarzt Diabetes Zentrum Mergentheim
Theodor-Klotzbücher-Straße 12
97980 Bad Mergentheim


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (10) Seite 11-13