Wie wird sich Digitalisierung im Gesundheitswesen entwickeln? Was gibt es zu tun? Und welche Tools haben das Potential, die Therapie zu verbessern? Katrin Hertrampf wagt eine Prognose.

Zur Digitalisierung wird in der Fachwelt rege debattiert. Das im Dezember 2015 verabschiedete eHealth-Gesetz mit drohenden Sanktionen hat Schwung in die Diskussion gebracht. Fast zeitgleich wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Förderkonzept Medizininformatik ins Leben gerufen, mit der Zielsetzung, IT-Lösungen voranzubringen, den Austausch und die Nutzung von Versorgungs- und Forschungsdaten miteinander zu verknüpfen.

Inzwischen fördert das BMBF sieben Konsortien (ADMIRE, DIFUTURE, HD4CR, HIGHmed, MIRACUM, share-it!, SMITH) unter Einbindung von Universitätskliniken, Krankenhäusern, Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen. Strategien für gemeinsame Datennutzung, gebündelten Datenaustausch und medizinische Anwendungsfälle sollen entwickelt werden. Die Konsortien werden vom Nationalen Steuerungsgremium (NSG) beraten.

Der Medizinische Fakultätentag (MFT), der Verband der Universitätsklinika Deutschlands e.V. (VUD) und die Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF) begleiten den Prozess. Es ist Bewegung im System. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat 2013 die Kommission Telemedizin gegründet. Seit 2017 existiert die Task Force Mobile Health. Derzeit wird eine Stiftungsprofessur Digitale Medizin ausgeschrieben. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat angekündigt, Digitalisierung gestalten zu wollen.

Potenzial vorhanden – Evidenz gefordert

Die Vielfalt an Projekten und Dienstleistungen im Health-IT-Bereich wächst. Einerseits gibt es Produkte, die für den freien Markt entwickelt werden, andererseits definierte Anwendungen für ein bestimmtes Gesundheitsproblem. Zu letzteren zählen medizinische Applikationen (Gesundheits-Apps) für Tinnitus (Tinnitracks), Diabetes mellitus (mySugr) oder Migräne (M-sense). Diese adressieren ein konkretes Problem, sie können das Selbstmanagement von Betroffenen erleichtern. Auch spielerische Elemente werden therapeutisch genutzt, um Wunschverhalten zu fördern (Gamification).

Serious Games (for Health) werden u.a. zur Verbesserung der Motorik nach Schlaganfall (Rehabilitation Gaming System), in der kognitiven Verhaltenstherapie bei depressiven Verstimmungen (SPARX) und zur Steigerung der Therapieadhärenz bei Kindern mit Krebs (Re-Mission) eingesetzt. Die Kombination von Patientenrückmeldung (electronic Patient Reporting Outcome: ePRO) und Gamification findet sich bei CANKADO – einem virtuellen Netzwerk in der Onkologie zur Therapiekontrolle durch den Arzt in Echtzeit.

Mobile, drahtlose Geräte (Wearables: Smartwatch, Fitnessarmband) zur Aufzeichnung, Speicherung und Weiterverarbeitung von eigenen Daten wie Puls, Blutdruck, Temperatur und Hautwiderstand können den Gesundheitszustand optimieren. Selftracking mit digitalen Helfern hat Potenzial.

Wirksamkeit von Gesundheits-Apps noch nicht belegt

Für die Wirksamkeit von Gesundheits-Apps gibt es bislang noch keinen Beleg, hat CHARISMHA (Chances and Risks of Mobile Health Apps) [1] im letzten Jahr gezeigt. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hatte die Studie, in der Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Chancen analysiert wurden, in Auftrag gegeben. Zu den Handlungsoptionen gehört, dass Standards und Qualitätskriterien in einem breiten Konsensverfahren entwickelt werden.

Die wissenschaftliche Evaluation ist notwendig, um Evidenz zu schaffen. Hersteller sollten zur Qualitätssicherung und zum Zulassungsverfahren angehalten werden. Die Zweckbestimmung einer App und die Abgrenzung als Medizinprodukt sind deutlich herauszustellen.

Komplexe Anwendungen unter eHealth

Beim Thema eHealth ist die Trennschärfe nicht eindeutig und Felder können sich überlappen. Der Ausschuss Telematik der Bundesärztekammer (BÄK) hat dazu einen Vorschlag gemacht. Danach lässt sich eHealth wie folgt zusammenfassen:

  • eCare (Telemedizin-Telekonsultation-Telemonitoring):ärztliche Diagnostik, Therapie und Entscheidungsberatung über räumliche Distanz unter Einsatz von Kommunikationstechnologien
  • eAdministration (administrative Prozesse): elektronische Patientenakte, elektronische Medikation, elektronischer Arztausweis
  • ePrevention (Prävention): altersgerechte Assistenzsysteme (Ambient Assisted Living: AAL; z.B. Sturzprävention im Alter), Tele-Coaching und Apps (z.B. Gewichtsreduktion)
  • eResearch (Forschung): Big Data-Analysen (Genomforschung, Epidemiologie), maschinelles Lernen
  • eLearning (Lehre): technische und fallbasierte Simulation (analog zum Flugsimulator), Internet-Lernplattformen für medizinische Aus- und Weiterbildung, Microteaching über Telekonsultation

Jeder einzelne dieser Bereiche ist komplex. Big Data zum Beispiel ist ein gigantisches Thema. Beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) liegt das Datenvolumen bei 11 Terabytes täglich. Durch Next Generation Sequencing (NGS) wird es möglich, das komplette Erbgut von Patienten zu entschlüsseln.

Außerhalb von Conventional Big Data gibt es Daten, die in der klinischen Routine per se erfasst, in Krankenhausarchiven aufbewahrt und nicht systematisch genutzt werden (Unused Big Data). Mit Private Big Data können Daten generiert werden, die Informationen (z.B. Bewegungsintensität, Herzfrequenz, Glukosechip unter der Haut) zur Verlaufskontrolle und Risikoabschätzung liefern.

Telemedizin kann Arzt nicht ersetzen

Telemedizin ist an die Leistungserbringung durch den Arzt gekoppelt - es ist ärztliche Diagnostik und Therapie zur Überbrückung einer räumlichen Distanz mithilfe von Kommunikationstechnologien. Der Indikationsbezug muss gegeben sein. Telemedizin ist keine Fachdisziplin, es gibt nur telemedizinische Methoden in Fachgebieten.

Tele-Tumorboards, Tele-Röntgenkonsile, Remote Patient Management (RPM) mit nichtinvasivem oder invasivem Telemonitoring und die Versorgung im telemedizinischen Netzwerk sind Realität. Der Weg in die Regelversorgung ist allerdings weit. Neben Machbarkeit, Akzeptanz und Sicherheit müssen Effektivität und Evidenz nachgewiesen sein.

Nutzen muss nachgewiesen sein

Neue technische Möglichkeiten führen mitunter zu überhöhten Erwartungen, u.a. bei medizinischen Effekten (zuverlässig erfass- und verwertbare Parameter), möglichen Kosteneinsparungen (Vorhaltekosten Telemedizin-Infrastruktur) und Akzeptanz bei Patienten (Langzeitmonitoring). Unterschätzt werden Komplexität (Stabilität der Datenübertragung, Ausfallsicherung, Datenschutz) und logistische Anforderungen (Dienstmodelle, Qualifikation, begleitende Evaluation, juristische Aspekte).

2015 hat die DGIM Leitsätze formuliert, welche Kriterien telemedizinische Projekte erfüllen sollten, damit sie in die Versorgung implementiert werden können. Die zentralen Botschaften sind: Telemedizin kann die Präsenzmedizin nicht ersetzen, sie ist nur eine Ergänzung dazu. Der Nutzen muss nachgewiesen sein.

Schlaganfallversorgung im Netzwerk

Ein oft zitiertes Beispiel mit beeindruckender Datenlage ist TEMPiS (Telemedical Project for Integrative Stroke Care) zur Schlaganfallversorgung im Netzwerk mit Kliniken und Stroke Units. Hier konnten Sterblichkeit, Hospitalisierung und bleibende Behinderungen, auch im 10-Jahres-Follow-up, reduziert werden. [2], [3]

Überlegenheit zur Standardtherapie

In der Kardiologie konnte der Nutzen von RPM mit implantierbaren Devices (ICD*, CRT-D**) gezeigt werden. Die Mortalität der via Telemonitoring überwachten Patienten mit Herzinsuffizienz war niedriger als unter Standardtherapie. [4] Die Ergebnisse von TIM-HF II (Telemedical Interventional Monitoring Heart Failure II) werden noch erwartet. Ziel ist es, die Überlegenheit von RPM mit nichtinvasivem Monitoring hinsichtlich ungeplanter Hospitalisierung, Tod und Lebensqualität im Vergleich zur Standardtherapie zu belegen.

In der Diabetologie gibt es KADIS® zur Unterstützung der Entscheidungsfindung (Decision Support), basierend auf Identifikationsmodul (Alter, Geschlecht, Diabetestyp), Bewertungsmodul (72 Stunden-CGM zur Schwachstellenanalyse) und Vorhersagemodul (Mahlzeiten, Sport, Medikation). Andere Konzepte setzen beim Tele-Coaching an. HbA1c-Senkung und Gewichtsreduktion konnten bestätigt werden.

Weg in die Versorgung finden

Potenzial, die Versorgung von Patienten zu optimieren und flächendeckend zu gewährleisten, haben Netzwerke, in denen Behandlungspartner über Sektorengrenzen hinweg eingebunden sind. Im Fußnetz Bayern wird der Wund- und Behandlungsverlauf des diabetischen Fußes in einer Fallakte dokumentiert, die von Diabetologen, Gefäßchirurgen, Orthopädieschuhmachern, Podologen und Pflegekräften geführt wird. Der Berufsverband Deutscher Dermatologen (BVDD) hat bundesweit in Arztpraxen Online-Sprechstunden mit Bildübertragung erprobt.

Die Rhön Klinikum AG investiert in virtuelle Ambulanzen, die an universitären Einrichtungen mit Patientenversorgung angesiedelt sind. Von dort soll die Kompetenz unter Einbindung der niedergelassenen Ärzte in die Fläche gebracht werden. In Schleswig-Holstein soll demnächst die virtuelle Diabetes-Ambulanz für Kinder und Jugendliche an den Start gehen. In Hamburg gibt es die Kooperation von niedergelassenen Kardiologen und Hausärzten mit CardioGo.

In Niedersachsen wurde NTX 360° zur Nachsorge Nierentransplantierter aktiviert. Aus Aachen kommen TIM (Telematik in der Intensivmedizin) und TemRas (Telemedizinische Rettungsassistenz), aus Berlin STEMO (Stroke-Einsatz-Mobil) und aus Sachsen CCS Telehealth (Tele-Stroke, Tele-Coaching, Tele-Pathologie) oder Gesundheitsnetz24/7 (Wundtherapie).

Idealerweise sollten die Projekte mit Forschung begleitet, die Ergebnis- und Prozessqualität evaluiert werden. Das erhöht zumindest die Chance, den Weg in die Versorgung zu finden.

Verkürzte Dauer bis zur Diagnose

Ein Projekt, das nach Pilotphase breit ausgerollt wurde, ist Päd-Expert®. Hier konnte die Dauer bis zur Diagnosestellung deutlich verkürzt werden. Der Pädiater mit Spezialisierung, insbesondere für chronische und seltene Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, ist nicht an jedem Ort verfügbar. Päd-Expert® vernetzt allgemeinärztlich tätige Pädiater mit spezialisierten Experten, um Diagnose und Therapie zeitnah zu ermöglichen.

Die Rückmeldung erfolgt 24 Stunden nach Konsultation des anfragenden Arztes. Bei jeder Indikation ist genau definiert, welche Informationen mitgeliefert werden müssen. Laut Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) kommt durch PädExpert® in 65 % aller Fälle eine korrekte Diagnose zustande. 400 hausärztlich tätige Kinderärzte und 100 Fachärzte sollen an die Plattform angebunden sein.

Perönliche Daten von medizinischen trennen

Ursprünglich waren vier Vergütungspauschalen pro Indikation vorgesehen, derzeit werden Anfrage und Auskunft des Arztes mit je 50 Euro vergütet (Selektivvertrag AOK Bayern, bundesweit Barmer GEK). Die persönlichen Daten des Patienten sind von medizinischen Daten getrennt. Mit Private Key kann der Arzt die Patientendaten zuordnen und entschlüsseln (Programm-Download lokal auf Arzt-Rechner). Die Übertragung von Informationen erfolgt auf separaten Servern (Data Split®: persönliche Daten, medizinische Daten, Anhänge) mit Rechenzentrum in Deutschland.

Fazit: Es gibt eine Reihe "intelligenter" Konzepte im Bereich Telemedizin und Vernetzung mit neuen Technologien. Der Nutzen und letztlich die Anwender werden entscheiden, ob digitale Lösungen überzeugend sind und die Versorgung verbessern können.

Leitsätze zur Implementierung telemedizinischer Leistungserbringung
Indikationsbezug: Telemedizinische Angebote sollen vorrangig zur Kompensation erkennbarer Versorgungs- und Qualitätsdefizite entwickelt werden. Eine Priorisierung von Handlungsfeldern ist unter dem Gesichtspunkt einer Soll-Ist-Bedarfsanalyse in Abhängigkeit medizinischer und technischer Machbarkeit unumgänglich.

Nutzen: Telemedizinische Leistungen müssen vor allem Nutzen für Patienten zeigen. Nutzenkriterien sind Verringerung von Mortalität und Morbidität, Verbesserung von Lebens- und Versorgungsqualität, aber auch prozessuale oder wirtschaftliche Optimierung.

Akzeptanz: Telemedizin verknüpft die Patienten mit den Akteuren im Gesundheitswesen, vorrangig den Ärzten in Klinik und Praxis. Im Regelfall sollten Pflegekräfte, Apotheker, industrielle Anbieter und Kostenträger eingebunden werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist die Bereitschaft zur Mitwirkung durch indikationsbezogene Einbindung aller Beteiligten bereits in der Projektphase.

Qualitätssicherung: Virtuelle Leistungserbringung muss indikationsbezogene Qualitätsindikatoren berücksichtigen und sich mit dem allgemeinen Leistungsgeschehen "benchmarken". Grundgedanke ist das "Best practice"-Prinzip, um zu verhindern, dass Substitutions- und Wirtschaftlichkeitsdruck Telemedizin instrumentalisieren und zu einer Aushöhlung etablierter Qualitätsstandards führen.

Standesvorbehalt: Ärztliche Leistungserbringung in der virtuellen Anwendungsumgebung muss den gleichen ethischen und rechtlichen Prinzipien wie in der Präsenzmedizin folgen. Die Akteure sind zu einer anwendungsbezogenen Umsetzung dieses Äquivalenzprinzips aufgerufen, die die ärztliche Kontrolle telemedizinischer Leistungserbringung sicherstellt.

Exzellenz: Jedwede Entwicklung telemedizinischer Leistungsangebote ist am wissenschaftlichen Erkenntnisstand, idealerweise in Leitlinienhinterlegung zu orientieren. Dabei ist aufgrund der medialen Pluralität von Telemedizin zu fordern, dass die Fortentwicklung des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns besonders zeitnah einzupflegen ist.

Transparenz: Telemedizin entwickelt neue Leistungsangebote unter Inanspruchnahme innovativer, teils systemfremder Produkte und Strukturen, die über den Begriff der ärztlichen Leistungserbringung hinausgehen. Ohne Regulation besteht die Gefahr proprietärer Systemlösungen, die zu Monopolstrukturen führen können. Eine solche Entwicklung muss vermieden werden. Gerade unter dem Anspruch der Übernahme in die Regelversorgung besteht die Notwendigkeit eines strikten Transparenzgebotes als Grundlage einer angemessenen Verhandlungssymmetrie zwischen den Akteuren.

Kommission Telemedizin der DGIM (2015): Vorsitzender: Diethelm Tschöpe (Diabetologie - Endokrinologie), Stellvertreter: Friedrich Köhler (Kardiologie), Mitglieder: Peter Albers (Urologie), Heinrich Audebert (Neurologie), Timo Schinköthe (Onkologie), Christiane Erley (Nephrologie), Walter E. Haefeli (Pharmakologie), Irmtraut Koop (Gastroenterologie), Martin Middeke (Kardiologie), Klaus Reinhardt (Allgemeinmedizin), Max Reinshagen (Gastroenterologie), Michael Pfeifer (Pneumologie), Elisabeth Steinhagen‐Thiessen (Geriatrie) mit Beteiligung Ausschuss Telematik der BÄK (Franz-Joseph Bartmann, Johannes Schenkel)

Literatur
[1] Albrecht U.-V. (Hrsg.); Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover (PLRI). 2016: Chances and Risks of Mobile Health Apps (CHARISHMA)
[2] Audebert HJ et al; Long-Term Effects of Specialized Stroke Care With Telemedicine Support in Community Hospitals on Behalf of the Telemedical Project for Integrative Stroke Care (TEMPiS). Stroke 2009; 40: 902-908
[3] Müller-Barna P et al; TeleStroke units serving as a model of care in rural areas: 10-year experience of the TeleMedical project for integrative stroke care (TEMPiS). Stroke 2014; 45: 2739-2744
[4] Hindricks G et al; IN-TIME study group. Implant-based multiparameter telemonitoring of patients with heart failure (IN-TIME): a randomised controlled trial. Lancet 2014; 384: 583-590


Autorin: Katrin Hertrampf
Pressestelle Stiftung DHD (Der herzkranke Diabetiker)
Georgstr. 11, 32545 Bad Oeynhausen

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2017; 29 (7/8) Seite 22-25