Gute Pflege orientiert sich immer an den Bedürfnissen der Patienten, weiß Alexander Friedl, Diabetologe DDG und Ärztlicher Leiter des Geriatrischen Zentrums Stuttgart. Das gilt besonders für ältere Menschen mit Diabetes.

Diabetes-Forum (DF): Mit welchen geriatrischen Beschwerden haben ältere Patienten mit Diabetes am meisten zu kämpfen?

Dr. Alexander Friedl: Bei älteren Menschen liegen oft Störungen der Sinnesorgane vor, was ihnen die Diabeteseinstellung erschweren kann. Probleme bei der Nahrungsaufnahme, die durch einen veränderten Zahnstatus und durch verminderten Appetit bedingt sind, können es wiederum schwierig machen, sich gut zu ernähren. Bei Älteren kommen auch kognitive Beeinträchtigungen häufiger vor; von Demenz sind Diabetiker besonders betroffen.

Inkontinenzprobleme treten ebenfalls vermehrt im höheren Lebensalter auf; durch eine schlechte Diabeteseinstellung werden diese noch verstärkt. Gleiches gilt für Infektionen, die bei älteren Menschen mit Diabetes öfter vorliegen. Diese haben auch ein erhöhtes Sturzrisiko. Wenn der Diabetes schlecht eingestellt ist, können sie vermehrt Schwindelgefühle haben, unsicher gehen und dadurch stürzen. Oft kommen sie ins Krankenhaus, weil sie sich etwas gebrochen haben, wie den Oberschenkelhals oder den Arm.


DF: Mit welchen Diagnosen kommen die Patienten in das Geriatrische Zentrum?

Friedl: Meist handelt es sich um multimorbide Patienten mit komplexen Krankheitsbildern, u.a. mit Oberschenkelfrakturen, Schlaganfällen oder Infektionen, wie z.B. Harnwegsinfekte oder Lungenentzündungen. Diabetiker machen etwa die Hälfte der Patienten aus. Sie sind ca. ein bis 3 Wochen hier in stationärer Behandlung. In der Geriatrischen Behandlungseinheit betreue ich 15 Betten, davon sind 4 in der benachbarten onkologischen Station, die wir gemeinsam betreuen.


DF: Wo setzt man bei diesen multimorbiden Patienten mit der Behandlung an?

Friedl:Man muss erstmal herausfinden: Wo liegen die Probleme beim Patienten? Welche funktionelle oder medizinischen Probleme hat er? Welche Krankheiten und Beeinträchtigungen liegen vor? Man muss funktionelle Defizite strukturiert erfassen. Das lässt sich z.B. mit dem Barthel-Index gut machen, einem Bewertungsverfahren der alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten.

Grundsätzlich gilt: Gute geriatrische Behandlung funktioniert nur im Team. Daher kommen u.a. auch Physio- und Ergotherapeuten zum Einsatz, die z. B. Sturzrisikotests vornehmen. Es geht um das Gesamtkonzept einer guten Pflege. Eine gute Pflegekraft schaut danach, wo der Patient Defizite hat, und wo man ihn aktiv fördern kann, um ihn wieder zu einem selbständigen Menschen zu machen. Oder wo er welche Unterstützung braucht.


DF: Wie bewerten Sie die Pflegekompetenz beim Diabetes in Deutschland?

Friedl:Bei uns ist sie sicher besonders, weil die Klinik auch einen diabetologischen Schwerpunkt hat. In anderen Fachbereichen ist das allerdings sehr unterschiedlich. Häufig gibt es bezüglich Diabetes keine sehr hohe, fachspezifische Kompetenz.


DF: Was empfehlen Sie?

Friedl:Zunächst ist es wichtig, den Diabetes bei den Patienten überhaupt zu erkennen, falls noch keine entsprechende Diagnose vorliegt. Dann muss reagiert werden. Mit welchen Therapien behandle ich? Welche Begleiterkrankungen bestehen, was sind die Therapieziele, was will der Patient? Welche oralen Antidiabetika sind geeignet oder welches Insulin, wie funktioniert die Einnahme bzw. die Injektion? Dazu braucht es genaue Kenntnisse. In der Geriatrie spielt insbesondere die Polypharmazie bei den meist multimorbiden Patienten eine wichtige Rolle. Da ist es wichtig, die Medikamente in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Ich gehe z. B. einmal in der Woche gemeinsam mit unserem Apotheker die Medikamentenlisten der Patienten durch. Fragestellungen wie die Neben- und Wechselwirkungen des Arzneimittels und die Berücksichtigung der Nierenfunktion sind hier entscheidend. Wichtig ist auch, die Kompetenz der einzelnen Berufsgruppen im Team zu nutzen. Da hilft es, wenn die Pflegekräfte entsprechende Diabeteskenntnisse erworben haben.

Es gibt ja das Bemühen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) ein Fortbildungskonzept Basisqualifikation Diabetes für Pflegekräfte aufzulegen. An dessen Entwicklung bin ich selbst beteiligt. Wir entwickeln zur Zeit die Kriterien für Schulungen, mit denen Pflegekräfte strukturiert geschult werden können und zum Abschluss einen Nachweis erhalten.


DF: Wie werden die Diabetespatienten weiterbehandelt, wenn sie die Klinik verlassen?

Friedl:Das ist sehr unterschiedlich. Viele haben bereits einen Pflegedienst, der z. B. zum Spritzen nach Hause kommt oder Angehörige erledigen das. Oft findet sich da eine gut funktionierende Lösung. Es kommt aber auch immer wieder vor, dass wir eine Überforderung oder auch mangelnde Therapietreue des Patienten feststellen. Da unterstützen wir natürlich und organisieren entsprechende Hilfen für zu Hause bzw. schulen die Angehörigen. Man muss vor allem bei insulinspritzenden Patienten darauf achten, ob sie überhaupt richtig spritzen können. Sonst liegt eine hohe Gefährdung für Unterzuckerungen bzw. Überzuckerungen vor.

Ein großes Problem ist hierbei die Demenz, die bei Diabetespatienten häufiger auftreten kann. Auch diese Erkrankung muss man erstmal erkennen. Vielen Patienten merkt man im Alltag merkt die Demenzprobleme nicht gleich an. Hier helfen strukturierte Tests, um dies zu erkennen.


DF: Sie sprachen es eben schon an: Ein großes Thema bei älteren Patienten, insbesondere mit Diabetes, sind "Stürze". Wie kann man denen am besten vorbeugen?

Friedl:Eine gute Diabeteseinstellung ist besonders wichtig für den Heilungsverlauf, z. B. bei Vorliegen von Frakturen. Nur so kann der Patient wieder fit und mobil werden. Sonst kann es zur Exsikkose kommen – durch vermehrten Flüssigkeitsverlust – und zu Schwindel. Wenn der Zucker schlecht eingestellt ist, tritt auch vermehrt eine Inkontinenz auf. Der Patient muss dann eilig zur Toilette und stürzt dann eventuell.

Auch Infektionen können die Sturzgefahr erhöhen, sie können bis zur Benommenheit bzw. zum Delirium führen. In der Geriatrie gibt es entsprechende Übungsmaßnahmen, um Stürze zu vermeiden. Wenn der Patient eine Treppe im Haus hat, übt man gezielt mit ihm, auf was er beim Treppensteigen achten soll. Sturzprophylaxe ist sehr wichtig.


DF: Wie sieht eine gute Schmerztherapie bei Diabetespatienten aus?

Friedl:Hier ist das Problem, dass Patienten häufig nicht über ihre Schmerzen reden. Sie denken: Im Alter ist es normal, Schmerzen zu haben und die muss man eben aushalten. Da ist es wichtig, dem Patienten zu sagen, dass er sich zu seinen Schmerzen äußert, diese nicht aushalten muss, und es heute gute Schmerzmittel gibt. Manche haben da große Bedenken wegen Nebenwirkungen und man muss mit Vorurteilen aufräumen. Es gibt ja klare Standards der Weltgesundheitsorganisation WHO bzgl. der verschiedenen Stufen einer Schmerztherapie. Hilfreich sind auch Schmerzskalen.

Bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie, die ein gemindertes oder gar kein Schmerzempfinden mehr haben, ist es hingegen entscheidend, auf Rötungen und Entzündungen an den Füßen zu achten.


DF: Was raten Sie Pflegekräften im täglichen Umgang mit Diabetespatienten?

Friedl:Das Ziel der Geriatrie ist ja immer eine hohe Selbständigkeit und damit Lebensqualität des Patienten zu erhalten. Deshalb ist es so wichtig, ganz genau und individuell beim Patienten hinzuschauen. Was sind seine Fähigkeiten, seine Defizite, wie sind seine Lebensumstände, welche Hilfsmöglichkeiten braucht er zu Hause? Man kann nicht sagen: diese oder jene Therapie ist die beste. Man muss sich fragen: Was ist das für ein Mensch, was sind seine Ziele und Bedürfnisse? Und dann quasi ein maßgeschneidertes Konzept finden, mit dem er sich möglichst wohlfühlt und gleichzeitig von diabetologischer Seite her gut versorgt und betreut ist.



Das Interview führte Angela Monecke
Redaktion Diabetes-Forum, Kirchheim-Verlag
Kaiserstraße 41, 55116 Mainz
Tel.: 06131/96070-0, Fax: 06131/9607090

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2016; 28 (4) Seite 46-47