Ein Interview mit Professor Bernhard Kulzer (PRIMAS, HyPOS, INPUT, MEDIAS 2, FLASH) – darüber, wie Schulungsprogramme entstehen, was eine gute Schulung ausmacht, welche Programme fehlen, wie die Zukunft aussieht und welches Programm derzeit für ihn das beste ist.

Professor Dr. Bernhard Kulzer ist leitender Psychologe des Diabetes-Zentrums Mergentheim und hat als Geschäftsführer des FIDAM (Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim) Diabetes-Schulungsprogramme wie PRIMAS, HyPOS, INPUT, MEDIAS 2 und FLASH mitentwickelt.

Herr Professor Kulzer, Sie waren an der Entstehung einiger Schulungsprogramme beteiligt. Schulen Sie auch selbst?
Nein, das ist ja der Job von Diabetesberatern. Wenn wir Elemente für Schulungsprogramme entwickeln, fragen wir jedoch häufig die Patienten unserer Klinik nach ihrer Meinung.
An der regulären Schulung in unserer Klinik bin ich schon auch beteiligt, aber eher dann, wenn es um psychologische Themen geht.

Bei der Neuentwicklung von Programmen werden also Patienten einbezogen?
Ja. Normalerweise gehen wir so vor: Wir von FIDAM erstellen erst einmal ein grobes Konzept, das wir mit Experten diskutieren. Dadurch kriegen wir quasi Arbeitsaufträge und entwickeln auf dieser Basis das Programm weiter. Bei PRIMAS, HyPOS und INPUT waren jeweils über 100 Ärzte und Diabetesberater in der Expertengruppe. Bei INPUT, dem Schulungsprogramm für die Insulinpumpentherapie, das bald erscheinen wird, haben sich durch die Zusammenarbeit mit den Experten z. B. das Konzept, der Umfang der Schulung und der Name geändert.

Nach einem weiteren Arbeitstreffen und weiteren Änderungen haben wir eine Art vorläufiges Programm – und das testen wir. Durch diese Vorgehensweise profitieren wir von der Erfahrung der Berater, sie können uns sagen, ob das Programm funktioniert oder nicht. Und wir profitieren ebenfalls von der Erfahrung der Patienten, die wir ja auch zum Programm befragen. Dann können wir noch leicht nachjustieren, bevor das fertige Schulungsprogramm auf den Markt kommt.

Sowohl die Entwicklung als auch die Schulungsprogramme selbst sind sehr strukturiert. Wurde früher anders geschult?
Früher – und heute ist das in der Praxis leider auch noch häufig so – hat jeder die Schulung nach eigenem Gusto gemacht. Jeder dachte, er muss was Eigenes machen, mit selbstgemachten Folien und Inhalten. Aber: Wenn man gründlich nachdenkt, wenn man diskutiert und immer wieder Feedback bekommt, kriegt man viel besser heraus, welche Inhalte an welcher Stelle wichtig sind und welche Themen unbedingt mit rein müssen.

Wir haben auch gelernt, dass wir eine Struktur, ein Curriculum, haben müssen, aber auch immer mehr versuchen müssen, die Schulung individuell zu gestalten, indem man z. B. die Ziele des Patienten abfragt. So stehen den Schulenden viele Folien zur Verfügung – aber die müssen nicht alle aufgelegt werden. Es hängt davon ab, welche Bedürfnisse die Gruppe hat.

Wie wichtig sind die Schulenden? Welche Eigenschaften sollten sie mitbringen?
Es ist schon wichtig, ein gutes Curriculum und gute Materialien zu haben, aber es kommt natürlich auch sehr auf die Persönlichkeit dessen an, der schult. Wir kennen das alle aus der Schule: Es ist immens wichtig, dass ein Lehrer begeistern kann.

Wir sind in Deutschland in der glücklichen Situation, dass wir über 10.000 gut ausgebildete Schulungskräfte (Diabetesberater, Diabetesassistenten) haben. Rund ein Drittel des Ausbildungs-Curriculums für Diabetesberater hat etwas zu tun mit Pädagogik, Psychologie, Wahrnehmung des Patienten, Kommunikation… Für jedes Programm werden die Schulenden noch einmal extra trainiert. In diesem Training geht es eben nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Art und Weise, wie man die Inhalte mit der Gruppe erarbeitet.

Was kann mit Schulung erreicht werden? Was ist Ihre Idealvorstellung, z. B. für INPUT?
Bei INPUT haben wir gesehen: Der HbA1c-Wert verbessert sich, die schweren Unterzuckerungen werden weniger und – und das ist auch ganz, ganz wichtig – der Patient hat ein höheres Ausmaß an Empowerment, er hat also das Gefühl, seinen Diabetes besser steuern zu können. Außerdem reduzieren sich die diabetesspezifischen Belastungen und die Patienten nutzen die technischen Möglichkeiten der Pumpe besser. Zudem geht bei INPUT die Schulung in Richtung Coaching: Das Wichtigste ist, dass die Teilnehmer am Ende der Schulung einen guten Plan haben, wie sie besser mit ihrem Diabetes umgehen können.

Was fällt auf, wenn man ein 20 Jahre altes Programm mit einem von heute vergleicht?
Die Programme sind nicht miteinander vergleichbar. Früher bedeutete Schulung primär Wissensvermittlung. So funktioniert das aber nicht. Wir wissen heute, dass die Senkung des HbA1c-Werts und auch eine Gewichtsreduktion fast nichts mit Wissen zu tun haben. Die Korrelation liegt bei fast Null. Die Variable Wissen ist eben nicht das Wichtigste, sondern wie jemand im Alltag mit diesem Wissen umgeht, wie motiviert er ist, wie sehr er das Gefühl hat, den Diabetes selbst steuern zu können, wie weit er es schafft, Routinen zu entwickeln. Das sind ganz andere Prozesse als der Erwerb von Wissen.

Das kennt jeder: Man liest einen Artikel mit tollen Tipps und macht doch weiter wie bisher …
Ja, weil der Alltag so bestimmend ist, weil ein Patient sich jeden Tag motivieren muss, sich gut um seinen Diabetes zu kümmern. Man muss den Patienten da abholen, wo er im Alltag steht, wo er Schwierigkeiten hat. Früher haben wir mit der Schulung letztendlich nicht nur Positives angerichtet, weil wir den Teilnehmern oft sehr hohe Ziele mitgegeben haben. Ziele vorzugeben, die die allerwenigsten erreichen können, macht keinen Sinn. Irgendwann wird das nicht mehr ernst genommen, oder der Patient denkt: Ich bin ein Versager, weil ich das Ziel nicht erreiche.

Wie wichtig ist die Begleitung nach der Schulung?
Na ja, man muss sagen: Der Patient soll nach der Schulung schon viel selbst machen. Es soll ja so sein, dass er durch die Schulung dazu befähigt ist, im Alltag selbstverantwortlich mit dem Diabetes umzugehen. Trotzdem ist die Unterstützung des Teams weiterhin wichtig.

Wie sieht die Schulung der Zukunft aus?
Ein wichtiger Punkt ist, dass man die heutigen technischen Möglichkeiten auch nutzt. Ich glaube aber nicht, dass die Schulung, wie wir sie heute kennen, vollständig durch ein digitales Angebot ersetzt werden kann. Denn: Der Austausch der Betroffenen untereinander oder auch der Austausch mit den Diabetesberatern ist immens wichtig. Ich glaube aber, dass man durch digitale Hilfen eine Schulung optimieren kann, z. B. durch neue und modernere Formen der Wissensvermittlung. Gut wäre es auch, dem Patienten dann eine Lösung für ein Problem anzubieten, wenn er das Problem wirklich hat. Es geht um passgenaue Informationen.

Die Entwicklung von Schulungsprogrammen kostet Zeit und Geld. Wie kann ein Partner von außen helfen, z. B. ein Unternehmen wie Berlin Chemie?
Mit Berlin-Chemie, das muss man wirklich sagen, haben wir deshalb einen guten Partner, weil sich das Unternehmen in die Inhalte der Schulung zu 0 Prozent einmischt. Es gibt keine Einflussnahme auf die Themen, auf Inhalte, Länge und Art und Weise eines Schulungsprogramms. Das finde ich sehr positiv; es ist eine gute Beziehung. Ich finde auch gut, dass es bei Berlin-Chemie eine gewisse Kontinuität gibt, so ein Commitment für Aufklärung, für Patientenedukation. Das ist eine strategische Ausrichtung, die über lange Jahre verfolgt wird, und nicht wie bei anderen Firmen nur ein kurzzeitiges Strohfeuer.

So wurde etwa bei PRIMAS gefragt: Was brauchen Typ-1-Diabetiker noch an Schulung, wo erleben Diabetesberater Defizite bei den Schulungsangeboten? So sind die Zusatzmodule entstanden, außerdem der Erstschulungsfolder für Patienten, die neu den Diabetes bekommen haben. Das sind alles sehr sinnvolle Sachen, finde ich.

Was denken Sie, welche Programme fehlen noch?
Was fehlt, ist ein Programm für Patienten mit Fußproblemen. Sicher werden wir irgendwann auch ein Programm zum Artificial Pancreas brauchen. Und die Schulung beim Gestationsdiabetes kann noch verbessert werden.

Was ist mit einem Schulungsprogramm nur für Angehörige?
Ein solches Programm wird gerade vom VDBD entwickelt. Die Angehörigen sind tatsächlich eine Gruppe, die man besser schulen könnte. Ich finde nach wie vor, dass auch das Thema Migration und Schulung noch nicht gut gelöst ist. Und ich finde auch, dass Patienten, die sehr belastet sind, bisher mit Schulungsprogrammen noch nicht besonders gut versorgt sind. Damit meine ich z. B. Patienten mit Depressionen oder mit Ängsten aufgrund des Diabetes und Patienten mit sehr starken Ess- oder Akzeptanzproblemen.

Welches Programm ist für Sie derzeit das beste?
Ich glaube, ich bin im Moment am meisten begeistert von INPUT, weil es weltweit das erste evaluierte Schulungsprogramm ist, weil es tatsächlich unheimlich modern ist, weil es Schulung und Behandlung wirklich integriert. Der Patient wird begleitet, gecoacht – das ist innovativ. Wir werden zu INPUT auch eine App machen. Das Programm ist auch deshalb so notwendig, weil Pumpenpatienten in vielen Studien keine deutlich besseren Ergebnisse aufweisen als ICT-Patienten – obwohl sie die bessere Technik haben. Oftmals liegt das an sogenannten "Human factors", also der Art und Weise, wie Menschen mit der Technik umgehen – und deshalb brauchen die Nutzer von Insulinpumpen eine Schulung.

Haben Sie denn auch Einblick in die Schulungsprogramme anderer Länder?
Ich glaube, da müssen wir uns überhaupt nicht verstecken. Ich würde sogar selbstbewusst sagen: Wir haben weltweit die besten Schulungsprogramme. Da gibt es nicht viele, die besser sind. Was in anderen Ländern allerdings sehr viel mehr gepusht wird, sind Online-Schulungsprogramme. Das ist manchmal gut, weil die Entfernungen z. B. in Schweden und Norwegen sehr groß sind. Man muss aber ein bisschen aufpassen, dass Online-Schulungen nicht einen Rückschritt bedeuten, denn Informationen alleine machen das Kraut wie gesagt nicht fett.

Gibt es schon ein konkretes neues Projekt, das Sie in Bad Mergentheim verfolgen?
Wir überlegen uns derzeit, wie wir die bestehenden Schulungsprogramme mit digitalen Möglichkeiten unterstützen können. Wie können wir eine App schaffen für PRIMAS, für MEDIAS, wie können wir die Nutzer digital unterstützen, wie können wir die Schulungen auf einen aktuellen Stand bringen, so dass die Schulungskraft viele Möglichkeiten hat? Alles verbessern und auf den neuesten Stand bringen – daran arbeiten wir.

Partner in der Entwicklung von Schulungsprogrammen: FIDAM und die Berlin-Chemie AG
Das Unternehmen Berlin-Chemie hat schon einige der Schulungsprogramme unterstützt, die durch das Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) entwickelt worden sind. Das Unternehmen möchte "mehr als moderne Medikamente" bieten und engagiert sich deshalb langfristig im Bereich Schulungsprogramme und in der Patientenaufklärung.

Professor Bernhard Kulzer schätzt Berlin-Chemie als guten Partner – und betont, dass es "keine Einflussnahme auf die Themen, Inhalte, Länge und Art und Weise eines Schulungsprogramms" von seiten des Unternehmens gibt. Das Unternehmen unterstützt auch Seminare für Schulende, möchte allgemein Partner der Ärzte und Diabetesteams sein und helfen, Versorgungslücken bei Schulungen/Schulungsprogrammen zu schließen.

Durch die Zusammenarbeit zwischen FIDAM und Berlin-Chemie sind diese Programme entstanden:
  • PRIMAS – Schulungs- und Behandlungsprogramm für ein selbstbestimmtes Leben mit Typ 1. Zielgruppe des Programms sind Erwachsene mit Typ-1-Diabetes. Sie sollen mit PRIMAS lernen, selbständig und erfolgreich mit dem Diabetes umzugehen. Neben dem Basisprogramm gibt es sechs spezifische Schulungsmodule zu den Themen Reisen, Folgeerkrankungen, Ernährung, Sport, Partnerschaft und Soziales. Mehr unter www.primas-schulungsprogramm.de.
  • HyPOS – Hypoglykämie: Positives Selbstmanagement ist gedacht für insulinbehandelte Diabetiker mit Hypoglykämieproblemen und eingeschränkter oder fehlender Hypoglykämiewahrnehmung. Das Programm vermittelt Strategien für einen besseren Umgang mit Hypoglykämien (Selbstmanagement-Ansatz). Mehr unter diabetes-schulungsprogramme.de.
  • Mit INPUT – Insulinpumpen-Schulungsprogramm werden Menschen mit Typ-1-Diabetes in Zukunft produktunabhängig im Umgang mit der Insulinpumpe geschult. Ziel ist eine bessere Umsetzung der Insulinpumpentherapie und die optimale Nutzung der technischen Möglichkeiten, die eine Insulinpumpe bietet.

Die Materialien zu allen Schulungsprogrammen sind erhältlich unter kirchheim-shop.de. Beim Kommunikationskonzept TheraKey, das Patienten laienverständliche Informationen zu diversen Indikationen zur Verfügung stellt, ist das FIDAM Partner der Berlin-Chemie AG. Die Thera-Key-Zugangsdaten erhalten Patienten vom Arzt.


Interview: Nicole Finkenauer
Redaktion Diabetes-Forum
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2018; 30 (4) Seite 42-46