Noch im April war die NVL „Therapie des Typ-2-Diabetes“ in der Kurzfassung im Internet (www.diabetes.versorgungsleitlinien.de) verfügbar. Jetzt nicht mehr. Dr. Martin Lederle erklärt und kommentiert.

Als Arzt muss ich mich fragen: Muss ich diese Behandlungsleitlinie beachten oder kann ich mich in der Patientenversorgung auf die ärztliche Therapiefreiheit berufen. Die Therapiefreiheit ist ein grundlegendes Element der ärztlichen Professionalität und wurde auch immer wieder in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes so gewürdigt. Ich bin als Arzt immer dem individuellen Patienten verpflichtet, auf dessen Besonderheiten ich eingehen muss.

Therapiefreiheit bedeutet nicht Therapiebeliebigkeit

Dennoch bedeutet Therapiefreiheit nie Therapiebeliebigkeit. Beschränkt wird die ärztliche Therapiefreiheit vom medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets zum Zeitpunkt der Behandlung. Dabei gilt als Standard das, was im betreffenden Fachgebiet als gesicherter Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung anerkannt ist. Grundlage sind wissenschaftliche Studien, langjährige Praxiserfahrung, medizinische Leitlinien oder Therapieempfehlungen.

Als Vertragsarzt muss ich zusätzlich die Inhalte des Sozialgesetzbuches V (SGB V) beachten: Qualität und Wirksamkeit der von mir veranlassten Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2, SGB V) und die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12, SGB V).

Entscheidungshilfen für die Therapiewahl

Medizinische Leitlinien sind somit systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene Vorgehensweise bei der Patientenbehandlung; sie definieren „Handlungskorridore”, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder auch muss. Davon unterscheiden sich Richtlinien, die von einer rechtlich legitimierten Institution (z. B. dem Gemeinsamen Bundesausschuss = G-BA) konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen.

Als Vertragsarzt bin ich z. B. verpflichtet, die vom G-BA beschlossene Arzneimittelrichtlinie einzuhalten: so hat der G-BA am 17. 6. 2010 beschlossen, Glitazone (Pioglitazon und Rosiglitazon) zur Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 von der Verordnung auf GKV-Rezept auszuschließen. Im Einzelfall kann ich mich aber auch über diese Richtlinie hinwegsetzen, denn in § 31, SGB V heißt es im Absatz 1, Satz 4: „der Vertragsarzt kann Arzneimittel, die auf Grund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen.“

Keine Einigung auf gemeinsamen Therapiealgorithmus

Das Besondere der nun vorgelegten NVL für die Therapie von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 ist, dass für die Durchführung der medikamentösen Stufentherapie 2 unterschiedliche Algorithmen dargestellt werden (Abb. 1): die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) bzw. die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) auf der einen Seite und die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) bzw. die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) (vertreten durch die DDG) auf der anderen Seite konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Therapiealgorithmus einigen.

Die kompakte Darstellung der beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen erscheint zunächst etwas unübersichtlich. Auch stellt sich die Frage: Wo sind denn die Unterschiede?
Schauen wir uns einmal die 2. Behandlungsstufe genauer an: Beim einzusetzenden Mittel der 1. Wahl sind sich beide Gruppen noch einig: Metformin. Bei der Frage, welches Medikament eingesetzt werden soll, wenn eine Metformin-Unverträglichkeit oder eine Kontraindikation für diese Substanz besteht, gehen die Vorschläge auseinander (siehe Flowchart).

DEGAM/AkdÄ

Dies wird wie folgt begründet: Primär werden nur die Substanzen oder Vorgehensweisen empfohlen, für die es einen positiven Studienbeleg auf Basis von Studien mit klinischen Endpunkten und methodisch hoher Zuverlässigkeit gibt (je nach Fragestellung sind dies RCTs bzw. Kohortenstudien). Erst dann werden Substanzen/Vorgehensweisen vorgeschlagen, für die es Nutzens-Schadens-Belege nur auf Basis von sogenannten Surrogatparametern – wie hier HbA1c – gibt bzw. die eine geringere methodische Zuverlässigkeit aufweisen.

Insbesondere bei Empfehlungen zu Substanzen/Vorgehensweisen, die auf einer weniger zuverlässigen Studienevidenz basieren, wird dann nochmals auf Basis weiterer Quellen (Studien noch niedrigerer methodischer Zuverlässigkeit) zu gewünschter und unerwünschter Wirkung entschieden, ob sich eine Reihenfolge in den Vorschlägen ergibt.

DDG/DGIM

Die alphabetische Auflistung der oralen Antidiabetika wurde ganz bewusst gewählt, weil alle Medikamente Vor- und Nachteile besitzen und diese in Abhängigkeit von der Multimorbidität mit jedem Menschen mit Typ-2-Diabetes einzeln besprochen und die Patientenpräferenzen berücksichtigt werden sollen. Vor- bzw. Nachrangigkeit würde jedem Therapeuten die individuelle Entscheidung weitgehend abnehmen. Entscheiden Sie selbst: liegen die Standpunkte weit auseinander? Beide Gruppen haben „ihre Sicht“ der Dinge zu allen Bereichen des Therapie-Flowcharts ausführlich dargestellt.

Noch keine belastbaren Daten

Informationen über die Wirkstärke bzw. die vorhandene Datenlage der bzw. zu den einzelnen Substanzen bzw. Substandgruppen finden Sie in Tabelle 1, die der Konsultationsfassung vom 29. 8. 2012 entnommen ist. Da manche Substanzen erst seit wenigen Jahren als Medikamente zur Verfügung stehen, können belastbare Daten zu klinisch relevanten Endpunkten noch gar nicht vorliegen.

Zum Thema „Dreifach-Kombinationstherapie“ fand sich in der Konsultationsfassung folgende Formulierung:

„Zu Dreifach-Kombinationen mit oralen Antidiabetika liegen keine Studien mit diabetesrelevanten Endpunkten vor und das Sicherheitsprofil wird durch steigende unerwünschte Arzneimittelinteraktionen eingeschränkt. Dreifach-Kombinationen werden daher im Konsens aller beteiligten Fachgesellschaften nicht empfohlen.“

Dieser Konsens ist für die endgültige Fassung auf der Strecke geblieben.

Die Formulierung von DEGAM/AkdÄ dazu lautet:

„Zu Dreifach-Kombinationen mit oralen Antidiabetika liegen keine Studien mit diabetesrelevanten Endpunkten vor, und das Sicherheitsprofil wird durch steigende unerwünschte Arzneimittelinteraktionen eingeschränkt. Dreifach-Kombinationen werden daher nicht empfohlen.“

Die Formulierung von DDG/DGIM dazu lautet:

„Zur Dreifach-Kombination mit oralen Antidiabetika liegen keine Studien mit diabetesrelevanten Endpunkten vor und das Sicherheitsprofil und die Therapie-Adhärenz werden durch mögliche steigende unerwünschte Arzneimittelinteraktionen eingeschränkt. Dennoch können im Einzelfall Dreifach-Kombinationen wünschenswert und sinnvoll sein, insbesondere wenn sie keine hypoglykämisierenden Substanzen enthalten.“

Nach meiner Ansicht beschreibt diese Formulierung der DDG/DGIM genau das Wesen einer Behandlungsleitlinie (vom dargestellten Handlungskorridor kann und soll in begründeten Fällen abgewichen werden) und ist somit eine Selbstverständlichkeit.

Neue Entwicklung

Seit dem 30. 4. 2013 ist die Versorgungsleitlinie auf der o. g. Internetseite nicht mehr verfügbar. Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), das mit der Durchführung des Nationalen Leitlinienprogramms von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften beauftragt wurde, hat die Kurzversion mit folgender Begründung zurückgezogen:

„Im Vorfeld der Veröffentlichung der NVL „Therapie des Typ-2-Diabetes“ sind Versionen der Leitlinie in Umlauf gebracht worden, die von den Trägern des NVL-Programms nicht autorisiert sind. Wir weisen darauf hin, dass nur solche Dokumente als offizielle Publikationen des NVL-Programms anzusehen sind, die auf der Internet-Seite www.versorgungsleitlinien.de veröffentlicht wurden.“ (www.aezq.de)

Meine Meinung

Die meisten Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 werden in Deutschland in hausärztlichen Praxen betreut. Wie auf Seite 12 der NVL nachzulesen ist, richten sich die dargelegten Empfehlungen somit besonders auch an Hausärzte. Diese Adressatengruppe erwartet natürlich von einer NVL zum Thema „Therapie von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2“ eine gewisse Eindeutigkeit. Bei der Beschäftigung mit der nun vorgelegten NVL werden möglicherweise viele Hausärzte mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass es 2 unterschiedliche Therapiealgorithmen gibt. Beide mögliche Vorgehensweisen werden ausführlich erläutert.

Der Hausarzt, der mit Hilfe der NVL „seine“ Patienten entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts behandeln muss/will, muss sich nun für die eine oder andere Variante entscheiden. Auf welcher Grundlage wird er diese Entscheidung treffen? Weiterführendes Literaturstudium?, Vertrauen auf die „eigene“ wissenschaftliche Heimat (DEGAM oder DDG), Bauchgefühl? oder „Münze werfen“? Da die NVL in diesem wichtigen Punkt der „Therapieplanung“ nicht eindeutig ist, könnte es auch passieren, dass sie im Versorgungsalltag als nicht anwendbar wahrgenommen und damit nicht beachtet und somit nicht genutzt wird.

Wenn ich mir die Positionen der beiden Gruppierungen genau ansehe, dann sind die Unterschiede nicht unüberbrückbar groß. Wenn ich mir in Erinnerung rufe, was eine Behandlungsleitlinie darstellen soll, nämlich das Aufzeigen von „Handlungskorridoren“, dann würde ich mir wünschen, dass sich die an der Erarbeitung der NVL beteiligten Personen doch noch auf einen einheitlichen Therapiealgorithmus einigen könnten. Das würde der NVL gut tun und würde dazu beigetragen, dass sie in der Patientenversorgung auch genutzt wird. Noch ist Zeit dafür.

Hier finden Sie einen Kommentar des ÄZQ.


Autor:
Dr. med. Martin Lederle, Stadtlohn

Diabetologische Schwerpunktpraxis, Wüllener Str. 101, 48683 Ahaus,
Tel.: (0 25 61) 99 25 00, Fax: (0 25 61) 99 25 06, E-Mail: dr.lederle@freenet.de