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Seit ca. 20 Jahren stehen der Diabetestherapie kontinuierliche Gewebezuckermesssysteme zur Verfügung. Der Nutzeranteil dieser Systeme war überschaubar. Bei fehlender Kostenübernahme durch die Krankenkassen konnte ein Zuwachs der Anwenderzahlen zunächst nicht verzeichnet werden. Dies änderte der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu real-time-CGM (rtCGM) im September 2016 [Gemeinsamer Bundesausschuss 2016].

Der GB-A-Beschluss definiert in § 1 "Beschreibung der Methode" rtCGM wie folgt:
Bei der Intervention der Kontinuierlichen interstitiellen Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) wird mittels eines Sensors kontinuierlich der Glukosegehalt in der interstitiellen Flüssigkeit des Unterhautfettgewebes gemessen. Anschließend überträgt ein mit dem Sensor verbundener Transmitter die Messwerte automatisch an das Empfangsgerät. Es werden kontinuierlich Messwerte und der Trend zum Glukosegehalt ausgegeben. Anhand einer Alarmfunktion mit individuell einstellbaren Grenzwerten warnt das Gerät vor dem Erreichen zu hoher oder zu niedriger Glukosewerte.

Abkürzungen
  • AID: Automated Insulin Delivery
  • CGM: kontinuierliches Glukosemonitoring
  • FGM: Flash Glukose Monitoring
  • G-BA: Gemeinsamer Bundesausschuss
  • GKV: gesetzliche Krankenversicherung
  • IQWiG: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
  • iscCGM: intermittent-scanning-CGM
  • KBV: Kassenärztliche Bundesvereinigung
  • KV: Kassenärztliche Vereinigung
  • NUB: neue Untersuchungs- und ­Behandlungsmethode
  • rtCGM: real-time-CGM
  • SMBG: Selbstmessung der Blutglukose

Im Jahr 2014 wurde das Gewebezuckermesssystem FreeStyle Libre (intermittent-scanning-CGM, iscCGM) in Deutschland eingeführt. Die Art der Einführung war unkonventionell. Das Unternehmen nutzte die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Diabetes, um öffentlichen Druck zu erzeugen. Mit dem Slogan "Warum Stechen, wenn man auch Scannen kann …" wurde der Wunsch vieler auf eine unblutige Messung geweckt. Unkonventionell war hierbei die rasante Informationsverbreitung über die öffentlichen Medien direkt zum Patienten für ein Medizinprodukt. Die Patienten wurden unabhängig von den betreuenden Ärzten informiert und erhielten Zugang zu einem Medizinprodukt. Der Run auf das FreeStyle-Libre-System war groß, was zu Lieferengpässen und Wartelisten führte. Zum Zeitpunkt der Produkteinführung wurden die Kosten für das System nicht von den Krankenkassen erstattet. Im Gegensatz zu den bis dato auf dem Markt befindlichen rtCGM-Systemen hatte das FreeStyle Libre einen günstigeren Abgabepreis. Technisch unterschied sich das FreeStyle Libre von den anderen auf dem Markt befindlichen Gewebezuckermesssystemen. Es war werkskalibriert, es erfolgte keine automatische Datenübermittlung an ein Empfangsgerät und es hatte keine Alarmfunktionen. Zum Anzeigen der aktuellen Glukosewerte, der rückblickenden Glukosekurve und des vorhersagenden Trendpfeils musste ein Scan erfolgen. Den Schwerpunkt der Vermarktung setzte das Unternehmen daher initial auf den neu generierten Begriff "Flash Glukose Monitoring" (FGM) und betonte den Unterschied: FGM ist kein rtCGM. Das FreeStyle Libre fiel nicht unter die Definition des G-BA-Beschlusses zu rtCGM Systemen. Daher wurden Einzelverträge zwischen dem Unternehmen und verschiedenen Krankenkassen geschlossen. Eine Vergütung des zeitlichen Aufwands für die schulenden Zentren und Schwerpunktpraxen bestand für die iscCGM- und rtCGM-Systeme nicht.

In der Alltagsanwendung von Menschen mit Diabetes bedeutet die iscCGM-Nutzung eine Mischung aus Blutzuckermessung und rtCGM. Es muss eine aktive Handlung (Scan) erfolgen, um Glukosedaten auf dem Display zu erhalten. Die Informationen, die durch diese Handlung angezeigt werden, entsprechen jedoch denen eines rtCGM-Systems. Das heißt, der Aufwand zur Einweisung und Schulung der iscCGM- und rtCGM-Systeme ist annähernd identisch. Im Alltag von ambulanten und stationären Diabeteseinrichtungen bedeutet dies, dass die gleiche Zeit zur Vermittlung von Schulungsinhalten für iscCGM- und rtCGM-Systeme benötigt wird. Eine adäquate Vergütung der erbrachten Leistungen für Diabeteseinrichtungen bestand jedoch nicht. Die zwischenzeitlich eingeführte EBM-Ziffer für die Anleitung zur Selbstanwendung von rtCGM ist ausschließlich für rtCGM-Systeme abrechenbar.

Zum Jahreswechsel 2018/2019 erfolgte die Markteinführung des FreeStyle Libre 2. Das FreeStyle-Libre-2-System ist weiterhin werkskalibriert, es erfolgt weiterhin keine kontinuierliche Datenübertragung und Anzeige der Glukosewerte auf dem Display eines Empfangsgeräts, aber es ist neu mit einem Hoch- und Tiefalarm versehen. Zum Anzeigen der kompletten Glukoseinformationen wie Glukosewert, Glukosekurve und Trendpfeil ist das Scannen weiterhin erforderlich. Auch wenn ein Alarm ertönt, ist ein Scan zum Anzeigen der Daten nötig. Die Hoch- und Tiefalarme besitzen unterschiedliche akustische Signale. Aufgrund der Alarmfunktion besteht eine kontinuierliche Kommunikation zwischen Sensor und Empfangsgerät beim FreeStyle Libre 2, jedoch keine kontinuierliche Anzeige auf dem Empfangsgerät. Die bisherigen rtCGM-Systeme besitzen zu den Schwellenwertalarmen Hoch/Tief noch Änderungsraten- und Voralarme. Für das FreeStyle-Libre-2-System erfolgte eine Antragstellung des Unternehmens zur Listung in das Hilfsmittelverzeichnis in der rtCGM-Kategorie.

Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) nahm mit Bescheid vom 14. Mai 2019 den Antrag auf die Listung von FreeStyle Libre 2 in das Hilfsmittelverzeichnis an. Der Beschluss wurde im Bundesanzeiger am 23. Juli 2019 veröffentlicht [GKV-Spitzenverband 2019] (Procedere siehe Kasten). Die Sonderstellung des iscCGM als FGM ist damit aufgehoben.

Im aktuellen Fall des FreeStyle Libre 2 ist der GKV-Spitzenverband der Meinung, dass das FreeStyle Libre 2 einen Großteil der Anforderungen, die für rtCGM-Systeme im G-BA-Beschluss definiert sind, erfüllt. Somit wurde das FreeStyle Libre 2 in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen unter der Kategorie rtCGM.

Dieser Sachverhalt hat wie jede Veränderung positive Seiten, aber auch negative. Es kommt hier ganz auf den Blickwinkel des Betrachters an. Unter medizinischen Gesichtspunkten ist die alleinige Kategorie rtCGM im Hilfsmittelverzeichnis nicht ausreichend. Eine übergeordnete Kategorie CGM mit den Unterkategorien rtCGM und zum Beispiel iscCGM wäre sinnvoll und würde den verschiedenen CGM-Produkten gerecht werden. Es ist gut vorstellbar, dass im Verlauf noch weitere Unterkategorien aufgenommen werden wie implantierbare CGM-Systeme oder CGM für Systeme zur automatischen Insulindosierung (AID-Systeme). Gemeinsam haben alle CGM-Systeme die Messung der Gewebeglukose. Zurzeit bestehen die Unterschiede zwischen rtCGM und iscCGM in der Bereitstellung der Glukoseinformation. Dieser Unterschied ist besonders bei einer drohenden Hypoglykämie oder bestehenden Hypoglykämie hervorzuheben. Die Patienten erlernen Handlungsanweisungen für das Verhalten während einer Hypoglykämie. Der Fokus in diesen Situationen liegt hierbei darauf, den Handlungsablauf so einfach wie möglich zu gestalten, da Hypoglykämien Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bedingen. Daher ist es möglich, dass zusätzliche Handlungen (Scannen) bei Hypoglykämien nicht immer zielsicher ausgeführt werden können. So ist jede zusätzliche Handlung während einer Hypoglykämie medizinisch eher kritisch zu sehen.

Hinsichtlich Schulung bestehen dagegen viele Gemeinsamkeiten der rtCGM- und iscCGM-Systeme. Die unterschiedliche Bereitstellung der Glukoseinformation macht am Ende keinen Unterschied im Schulungsaufwand. Die Anwender müssen sowohl bei rtCGM- als auch bei iscCGM-Systemen prinzipiell ein Verständnis für die Interpretation von Gewebeglukose entwickeln, ebenso den Umgang mit der Glukosekurve verstehen und den Trendpfeil deuten können.

Da eine ausreichende Vergütung des Schulungsaufwands bisher für CGM-Systeme nicht vorliegt, ist die Anwendung der EBM-Ziffern die einzige Möglichkeit einer minimalen Vergütung des Aufwands in der Betreuung mit CGM-Systemen. Die EBM-Ziffer ist nur für rtCGM-Systeme anzuwenden. Mit der Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis Kategorie rtCGM sollte jetzt auch für das FreeStyle Libre 2 die EBM-Ziffer Gültigkeit besitzen. Eine Anfrage bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zu diesem Sachverhalt wurde gestellt, konnte aber durch die KBV noch nicht abschließend geklärt werden. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.

Procedere eines Antrags auf Aufnahme ins Hilfsmittelverzeichnis
Das Procedere und der Ablauf eines solchen Antrags ist im Hilfsmittel- und Heilmittelreformgesetz von 2017 festgelegt. Hilfsmittel, die zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis beim GKV-Spitzenverband beantragt werden, sind durch diesen in einer Frist von 3 bis 6 Monaten zu prüfen. Es ist zu entscheiden, ob eine wesentliche Änderung zu einer bereits bewerteten Methode vorliegt, also ob eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) vorliegt. Kommt der GKV-Spitzenverband zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist, wird der Antrag positiv beschieden und das jeweilige Hilfsmittel findet Einzug in die Regelversorgung. Bestehen Zweifel beim GKV-Spitzenverband, wird der G-BA angefragt. Dieser hat dann 6 Monate Zeit zur Beratung. Sollte der G-BA ebenfalls zu dem Schluss kommen, dass keine NUB vorliegt, geht der Antrag wieder zurück an den GKV-Spitzenverband. Der GKV-Spitzenverband wird dann das beantragte Hilfsmittel positiv bescheiden und es erfolgt die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis. Sollte der G-BA zu dem Schluss kommen, dass es sich doch um eine NUB handelt, kann ein langjähriges Methodenverfahren beim G-BA unter Einbezug des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) eingeleitet werden. Der Hersteller hat jedoch die Möglichkeit, seinen Antrag zur Listung in das Hilfsmittelverzeichnis innerhalb eines Monats zurückzunehmen.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Niedersachsen hat auf Anfrage einer Stellungnahme zu dem Sachverhalt "Ist ein iscCGM ein rtCGM" geantwortet:


FreeStyle Libre 2 beinhaltet als Weiterentwicklung von FreeStyle Libre nun auch eine Alarmfunktion. Beide Geräte zählen zu den iscCGM (intermittierendes Scannen eines Sensors zum kontinuierlichen Glukosemonitoring) -Geräten, die auch als Flash-Glukosemonitoring (FGM)-Geräte bezeichnet werden. Der Unterschied zu den Real-Time-Messgeräten (rtCGM-Geräten) besteht darin, dass die Messwerte nicht automatisch, sondern nur durch vom Patienten initiiertem Scannen übertragen werden. Laut KBV fällt FreeStyle Libre 2 danach nicht unter den G-BA-Beschluss vom 16. Juni 2016 zur "Kontinuierlichen interstitiellen Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) zur Therapiesteuerung bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus". Seit Aufnahme von FreeStyle Libre 2 (Empfänger und Sensoren) in das Hilfsmittelverzeichnis ist aber dennoch eine Verordnung von FreeStyle Libre 2 auf Muster 16 zu Lasten der GKV möglich. Denn in § 4 Absatz 1 der Hilfsmittel-Richtlinie heißt es:
§ 4 Hilfsmittelverzeichnis
1 Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen erstellt gemäß § 139 SGB V ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelverzeichnis, in dem von der Leistungspflicht umfasste Hilfsmittel aufgeführt sind.
2 Das Hilfsmittelverzeichnis ist nicht abschließend.
Gemäß § 30 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) Abs. 3 Satz 1 bedarf die Abgabe von Hilfsmitteln aufgrund der Verordnung eines Vertragsarztes der Genehmigung durch die Krankenkasse, soweit deren Bestimmungen nichts anderes vorsehen.

Aus dem Blickwinkel der Verordnungsfähigkeit besteht jetzt Klarheit. Eine Verordnung des FreeStyle Libre 2 ist auf Muster 16 zu Lasten der GKV möglich (Abb. 1). Laut G-BA-Beschluss von 2016 sind rtCGM-Systeme nur von qualifizierten Ärzten mit diabetologischer Weiterbildung verordnungsfähig. Ist dieses jetzt auch zutreffend für FreeStyle-Libre-2-Systeme? Oder kommt hier der Inhalt der weiterhin bestehenden Einzelverträge zwischen dem Unternehmen und den Krankenkassen zum Tragen? So lässt der Blickwinkel der Verordnung noch offene Fragen zurück. Der Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit und der Blickwinkel der Krankenkassen ist für die Verordnung ebenfalls interessant. Bedeutet die Kategorie rtCGM im Hilfsmittelverzeichnis für FreeStyle Libre 2, dass aus Wirtschaftlichkeitsgründen nur noch FreeStyle-Libre-2-Systeme von den Krankenkassen genehmigt werden, wenn ein rtCGM-System verordnet wird? Oder trifft hier der Ansatz der KBV zu: "iscCGM ist nicht rtCGM"? Eine zeitnahe Klärung der offenen Punkte durch die entsprechenden Institutionen sollte erfolgen, um einen störungsfreien Ablauf im Alltag aller Beteiligten zu gewährleisten.

Erst die Entwicklung von Selbstkontrollmöglichkeiten im häuslichen Umfeld hat die moderne Diabetestherapie, wie wir sie heute praktizieren, möglich gemacht. Die Weiterentwicklung und Nutzung der technischen Möglichkeiten sollten nicht durch regulatorische Vorgänge verzerrt, verzögert oder gar verhindert werden. Der verordnende Arzt muss weiter gemeinsam mit dem Patienten frei entscheiden können, welches Messsystem das geeignetste für die unterschiedlichen Menschen mit Diabetes in deren individuellem Alltag ist (Abb. 2).


Literatur
Gemeinsamer Bundesausschuss: Methodenbewertung. Kontinuierliche Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten künftig GKV-Leistung für insulinpflichtige Diabetiker. Pressemitteilung, 16.06.2016. http://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/623/ (letzter Zugriff: 16.08.2019)
GKV-Spitzenverband: Hilfsmittelverzeichnis: Produktliste zur ausgewählten Produktart, Gruppennummer 21, Messgeräte für Körperzustände/-funktionen. https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/produktlisteZurArt_input.action?paramArtId=7066# (letzter Zugriff: 16.08.2019)
Heinemann L, Deiss D, Siegmund T, Schlüter S, Naudorf M, von Sengbusch S, Lange K, Freckmann G: Glukosemessung und -kontrolle bei Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Praxisempfehlung der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Diabetologie 2018; 13 (Suppl 2): S97-S119



Korrespondenzadresse
Sandra Schlüter
Diabetespraxis Northeim
Mühlenstraße 26
37154 Northeim
E-Mail: sa.schlu@t-online.de

Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2019; 28 (5) Seite 274-279