Das Schulungsprogramm HyPOS ("Hypoglykämie – Positives Selbstmanagement") richtet sich an insulinbehandelte Diabetiker, die ihre Unterzuckerungen schlecht oder erst spät wahrnehmen, sowie an Patienten, die häufig schwere Hypoglykämien haben.

Das vom Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) mit Unterstützung des Unternehmens Berlin-Chemie entwickelte Programm HyPOS vermittelt Strategien für einen besseren Umgang mit Hypoglykämien und motiviert die Teilnehmer, ihre persönliche Einstellung zum Diabetes zu hinterfragen. Außerdem soll sich mit Hilfe von HyPOS die Hypoglykämiewahrnehmung verbessern. Ziel ist es, die Häufigkeit von Hypoglykämien zu reduzieren und persönliche Belastungen zu verringern.

HyPOS umfasst fünf Kurseinheiten von 90 bis 120 Minuten Länge. Themen sind u. a. ein plausibles Erklärungsmodell für die Hypoglykämiewahrnehmung, die Zeichen für eine Unterzuckerung, die Wahrnehmung der Zeichen und die systematische Selbstbeobachtung. Außerdem wird die Behandlung von Unterzuckerungen erklärt, es wird nach Ursachen gesucht und die Insulintherapie analysiert, und es geht auch um Einflussfaktoren, Risikosituationen und die bessere Bewältigung von Hypos im Alltag. Den Abschluss bildet eine Wiederholungseinheit; zu dieser Stunde können Angehörige hinzukommen.

Wirksamkeit bestätigt

In einer prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studie in bundesweit 23 Studienzentren wurde die Wirksamkeit von HyPOS evaluiert. Bereits nach sechs Monaten zeigte sich bei den Kursteilnehmern eine signifikant verbesserte Wahrnehmung für Hypoglykämien; der Anteil milder Hypoglykämien war signifikant reduziert. Eine Zwei-Jahres-Katamnese ergab, dass sich das Risiko für das Auftreten schwerer Unterzuckerungen für HyPOS-Teilnehmer um 60 % reduzierte.

"Die persönlichen Belastungen, z. B. im Familien- oder Berufsalltag, die durch Unterzuckerungen entstehen, können durch das Schulungsprogramm ebenfalls vermindert werden", resümiert Prof. Dr. Bernhard Kulzer, leitender Psychologe des Diabetes-Zentrums Mergentheim und HyPOS-Autor.

Abrechenbar in allen KV-Regionen

Das Schulungsprogramm HyPOS ist eine der Hilfestellungen, mit der das Unternehmen Berlin-Chemie den Praxisalltag erleichtern und den Therapieerfolg sicherstellen möchte. Damit verfolgt Berlin-Chemie einen ganzheitlichen Ansatz und möchte Praxen neben Medikamenten auch Beratung und zusätzliche Leistungen anbieten.

Die Durchführung der Schulung ist ambulant und stationär möglich. Das Programm ist von der DDG zertifiziert und durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS; bis 2019: Bundesversicherungsamt (BVA)) für den Einsatz innerhalb von DMP-Programmen akkreditiert. Es ist abrechenbar in allen KV-Regionen. Mehr unter diabetes-schulungsprogramme.de; alle HyPOS-Materialien unter kirchheim-shop.de.

Interview

HyPOS-Schulung: systematisch sensibler werden für sich selbst


Ulrike Dewenter arbeitet im "Zentrum für Diabetes und Gefäßerkrankungen" in Münster, einer großen diabetologischen Schwerpunktpraxis. Seit 2006 hat sie mit HyPOS schon etwa 150 Diabetiker mit Hypoglykämie-Wahrnehmungs­störungen geschult. Zudem weist sie Diabetesberaterinnen in HyPOS ein.

Frau Dewenter, was verbindet die Patienten, die an einer HyPOS-Schulung teilnehmen?

Ulrike Dewenter: Bei der Entstehung von Hypo-Wahrnehmungsproblemen spielt die Diabetesdauer eine große Rolle. Es kommen nicht die ganz Jungen in eine HyPOS-Schulung, sondern diejenigen, die schon viele Jahre Diabetes haben. In letzter Zeit beobachte ich aber auch, dass die Patienten zu mir kommen, die sehr auf Technik setzen und sagen: "Ja, wenn ich mich doch sehr gut einstellen kann, warum sollte ich das nicht machen?" Der Preis, den sie zahlen, sind aber oft zwei bis drei Unterzuckerungen am Tag. Bei mir in der HyPOS-Schulung sitzen außerdem diejenigen, die wirklich schon eine schwere Unterzuckerung erlebt haben, dabei Fremdhilfe brauchten und im Anschluss stationär ins Krankenhaus mussten.

Mit welchen Erwartungen kommen die Patienten zu Ihnen in die Schulung?

Dewenter: Viele haben erlebt, dass aufgrund einer schweren Unterzuckerung Sanitäter um ihr Bett standen – und wollen das nie wieder erleben. Mit so einer schweren Unterzuckerung klarzukommen, ist für die Betroffenen – und für die Angehörigen – sehr schwierig. Sie wollen deshalb lernen, eine Hypoglykämie früher wahrzunehmen.

Für manche ist eine solche schwere Unterzuckerung auch beruflich bedrohlich. Eine beispielhafte Teilnehmerin – Inge – arbeitet im Krankenhaus und kippte immer mal wieder um. Die Kollegen haben gesagt: "Na, du bist hier ja glücklicherweise gleich an Ort und Stelle", aber der Chef meinte irgendwann: "So geht das nicht mehr weiter." Ich erinnere mich auch an eine Lehrerin, die nur noch mit 300er-Werten in den Unterricht ging, weil sie solch eine Panik davor hatte, dass ihre Schüler sie in einer Unterzuckerung erleben.

Wie können sich die Teilnehmer während der Schulung ihre Hypo-Strategien erarbeiten?

Dewenter: Es geht in HyPOS ja auch um die Insulineinstellung, aber die meisten, die zu mir in die HyPOS-Schulung kommen, sind insulinmäßig perfekt eingestellt, nutzen Analoginsuline, eine Pumpe, ein CGM- oder FGM-System. Jetzt geht es darum, die Hypo-Symptome herauszufinden. Und es ist ganz faszinierend zu sehen, wie die Teilnehmer merken: "Mensch, ich kann wirklich was verändern, indem ich meine individuellen Symptome kenne." Und deshalb ist es ganz wichtig, Symptome, die verlässlich auf eine Hypo hindeuten, für sich zu entdecken.

Was die Teilnehmer dabei als sehr große Hilfe erleben, ist das HyPOS-Tagebuch. Das ist so aufgebaut, das erst ein Schätzwert eingetragen und erst dann gemessen oder der CGM- oder FGM-Wert eingetragen wird. Dieses Training kann nicht durch einen Vortrag ersetzt werden, das bestätigen auch die Teilnehmer. Es geht darum, die Sensibilität für die Körperwahrnehmung herauszukitzeln, und dafür sind die HyPOS-Materialien sehr, sehr hilfreich, weil man mit ihnen die Anzeichen für eine Hypo systematisch entdecken kann.

Ein Beispiel: Ralf geht jeden Tag spazieren. Seine Angehörigen kennen seine Route und haben ihn oftmals unterzuckert auf dem Bürgersteig aufgelesen. Seine mit HyPOS erarbeitete Strategie, schwere Unterzuckerungen zu vermeiden, ist nun, genau auf seine Umgebung zu achten. Wenn der Baum, der Turm, das Haus anders aussieht als normal, erkennt er, dass er im Unterzucker ist.

Häufig sind die Symptome einer Unterzuckerung vorhanden, aber diese Symptome auch als Unterzuckerung zu deuten und sich selbst eine Brücke zu bauen, die zum Handeln führt, lässt sich durch das HyPOS-Training lernen. Dabei helfen die Hypo-Checks. Viele werden ja auch durch einen Alarm z. B. ihres CGM-Systems gewarnt, aber der nächste Schritt ist genauso wichtig, nämlich aufgrund dieses Alarms mit der Selbstbehandlung zu beginnen. Viele sagen nach einem Alarm: "Darum kümmere ich mich später." Nein, nicht später, jetzt muss gehandelt werden!

Was nutzen Teilnehmer denn z. B. noch als Hypo-Check?

Dewenter: Bei Inge zum Beispiel, die im Krankenhaus arbeitet, dauerte es Wochen, eindeutige Unterzuckerungssymptome herauszufinden. Sie hat aber schließlich festgestellt, dass sie es an ihrer Sprache merkt. Und immer, wenn sie feststellt, es stimmt etwas nicht, sagt sie leise für sich "Papperlapapp", greift dann in die Tasche und nimmt Traubenzucker. Das "Papperlapapp" ist ihre Brücke zur Behandlung.

Gelingt es allen Teilnehmern, die persönlichen Hypo-Zeichen und die Brücke zur Behandlung herauszuarbeiten?

Dewenter: Es ist schon schwierig. Aber viele Patienten erleben es schon als sehr, sehr hilfreich, dass sie sich in der Schulung über Wochen mit diesem Thema beschäftigen. Und ich würde schon sagen, dass zum Schluss eigentlich jeder auf seinem Plakat, das am Ende eingerollt und mitgegeben wird, etwas stehen hat – eben "Meine verlässlichen Anzeichen" und "Meine Hypo-Checks".

Wichtig ist auch die Frage: Wie lange hält der Effekt von so einem Training wie HyPOS an? Viele sagen mir Monate später, dass alles wirklich noch super funktioniert, nach einem Jahr bekomme ich die Rückmeldung: "Ja, ich bin noch viel hellhöriger für die Symptome." Aber nach drei Jahren ist der Effekt vielleicht doch nicht mehr so stark und die Wahrnehmung von Unterzuckerungen muss neu trainiert werden.

Und es ist natürlich gut, eine HyPOS-Trainerin zu haben…

Dewenter: Ja, ich habe mittlerweile etwa 150 Patienten geschult und dabei enorm viele Erfahrungen sammeln können. Und ich lasse keinen aus der Schulung raus, der mir sagt: "Ja, meine Unterzuckerungen merke ich, wenn ich Kopfschmerzen habe." Derjenige muss herausfinden, was charakteristisch ist für den Kopfschmerz, den er bei einer Unterzuckerung hat!

Kommen viele Angehörige mit in die letzte Stunde?

Dewenter: Oh, dafür sorge ich! Zu den Teilnehmern sage ich immer: "Ob Ihre Lieben mitkommen, entscheiden nicht Sie, sondern Ihre Angehörigen selbst. Sie können mitbringen, wen Sie wollen, aber fragen Sie die Leute auch!" Denn wir wissen ja, dass Angehörige vor Unterzuckerungen mehr Angst haben als die Patienten selbst. Die Betroffenen haben durch die HyPOS-Schulung viel Input bekommen, aber der Angehörige zu Hause, der bleibt auf seiner Angst sitzen – und das soll nicht sein! Besonders wichtig ist das bei Leuten, die in der Unterzuckerung aggressiv werden.

In HyPOS gibt es ja auch Vorbereitungsblätter für die Angehörigen. Die kreuzen an, wie sie die Unterzuckerung erkennen, und können aufschreiben, was ihnen auffällt, was ihnen wichtig ist. Und diese Seiten sind vollgeschrieben!

Gibt es auch Elemente im HyPOS-Programm, die Sie weniger gut finden?

Dewenter: Ja, da gibt es etwas: Die Seite mit den verlässlichen Symptomen ist im Programm nur im DIN A 4-Format vorhanden – die vergrößere ich für die Patienten. Außerdem gibt es kein Arbeitsmaterial und kein Buch, so dass ich vieles für die Patienten immer wieder kopieren muss. Schöne, bunte Arbeitsblätter – die würde ich mir wünschen.

Ansonsten finde ich HyPOS sehr gut und nutze sehr viel daraus. Es enthält viele Elemente, die dabei helfen, das Thema ganzheitlich anzupacken. Gut finde ich auch die Täuschungsbilder, an denen man merkt, wie bestechlich unsere Wahrnehmung ist. Das merkt man auch an Äußerungen wie: "Ich kann jetzt nicht unterzuckern, ich bin doch noch nie um 11 Uhr morgens unterzuckert." Und der "Brief an sich selbst" hilft, längerfristig dabei zu bleiben: Was hat der einzelne Teilnehmer an sich selbst beobachtet? Was möchte er beibehalten? Diesen Brief schicke ich den Patienten drei Monate später zu und bekomme danach viele positive Reaktionen.

Eine Studie zeigt, dass sich durch HyPOS die Wahrnehmung der Hypo-Anzeichen verbessert und es zu weniger Hypoglykämien kommt. Können Sie das bestätigen?

Dewenter: Bei den 21 Patienten, die 2017 und 2018 bei mir in der HyPOS-Schulung waren, hat sich die Zahl der Unterzuckerungen deutlich verringert. Zwei hatten seitdem wieder Probleme, hatten eine schwere Unterzuckerung, das kommt leider vor. Aber: Bei den anderen ist eine schwere Unterzuckerung mit Fremdhilfe nach dem Kurs nicht mehr vorgekommen. Durch HyPOS kommt es also über einen langen Zeitraum zu einer Verbesserung.


Interview: Nicole Finkenauer


Autorin: Nicole Finkenauer
Redaktion Diabetes-Forum
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2019; 31 (1/2) Seite 46-48

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