Diabetes mellitus wirkt sich ganzheitlich auf den menschlichen Körper aus. Natürlich ist das Gehirn davon auch betroffen. Auf welche Weise, das erfahren Sie hier.

Der Typ-2-Diabetes mellitus ist eine der am weitesten verbreiteten Erkrankungen der westlichen Welt. Wichtige Gründe für sein häufiges Vorkommen ist neben dem zunehmenden Durchschnittsalter der Bevölkerung ein ungünstiger Lebensstil. Dieser ist geprägt von der Aufnahme zu vieler Kalorien sowie von Bewegungsmangel; beides zusammen verursacht Adipositas und Insulinresistenz. Die Insulinresistenz bezeichnet ein vermindertes Ansprechen insulinsensibler Organe auf das Hormon Insulin.

Am besten untersucht sind hierbei Skelettmuskulatur, Leber und Fettgewebe. Dieses Phänomen wird nicht erst bei manifestem Diabetes mellitus sondern bereits bei Prädiabetes beobachtet. In diesem Stadium kompensiert der Körper die Insulinresistenz noch durch eine verstärkte Produktion von Insulin. Wenn diese vermehrte Insulinausschüttung nicht mehr ausreichend möglich ist um die Blutglukose-Spiegel adäquat zu senken, entsteht ein Diabetes mellitus Typ 2.

Gehirn lange außerhalb des Fokus der Diabetes-Forschung

Da Glukose insulinunabhängig über Glukosetransporter GLUT-1 und GLUT-3 ins zentrale Nervensystem gelangt, blieb das Gehirn lange außerhalb des Fokus der Diabetes-Forschung, obwohl das Vorkommen von Insulinrezeptoren in unterschiedlichen Gehirnarealen schon lange bekannt ist. Zu diesen Bereichen des Gehirns gehören auch solche, die für Hunger und Sättigungsgefühl verantwortlich gemacht werden. Insulin tritt von der Blutbahn in das Gehirn über und ist, wenn auch in niedrigeren Konzentrationen als im Blut, im Liquor cerebrospinalis messbar.

Experimente im Tiermodell

Erste Hinweise für die Insulinwirkung am Gehirn lieferten zunächst Experimente an Nagern, bei denen das selektive Ausschalten zentraler Insulinrezeptoren zu vermehrter Nahrungsaufnahme, Übergewicht und generalisierter Insulinresistenz, und damit zu derselben Konstellation wie beim metabolischen Syndrom des Menschen, führte. Mit Hilfe von Insulin, welches als Nasenspray appliziert und danach direkt in das Gehirn aufgenommen wird, konnten beim Menschen wichtige Erkenntnisse zur Insulinwirkung erzielt werden.

Insulin wirkt beim Menschen selektiv in bestimmten Hirnarealen. Die zentralnervöse Insulinwirkung reduziert freie Fettsäuren im Blut. Interessanterweise kann die Insulinwirkung im Gehirn die Insulinsensitivität im gesamten Körper verbessern. In der Leber kommt es zu einer Verringerung des Leberfettspeichers unabhängig von peripherer Insulinämie. Folglich kann ein Einfluss auf die periphere Insulinsensitivität und den Fettstoffwechsel angenommen werden.

Die zentralnervöse Insulinwirkung wird außerdem mit postprandialer Sättigung und verminderter Aufnahme bestimmter Nahrung in Zusammenhang gebracht. So konnte ebenfalls mit Insulin-Nasenspray bei Patientinnen gezeigt werden, dass diese nach einer Mahlzeit weniger Appetit auf einen Nachtisch hatten und diesen auch als weniger gut schmeckend empfanden als solche ohne das zentralwirkende Insulin. Menschen mit guter Insulinsensitivität des Gehirns können durch Lebensstiländerung deutlich besser Gewicht abnehmen als solche mit einer zentralen Insulinresistenz.

Auch das Gehirn kann insulinresistent werden

Leider zeigten verschiedene Studien, dass auch das menschliche Gehirn (wie andere Gewebe auch) insulinresistent werden kann. Die verminderte Wirkung von Insulin wurde bei übergewichtigen Menschen und mit zunehmendem Alter mit Hilfe von bildgebenden Verfahren nachgewiesen (funktionelles MRT, Magnetenzephalographie). Mit zunehmendem Alter wird zusätzlich weniger Insulin über die Blut-Hirnschranke transportiert, es steht also auch weniger Signal zur Verfügung.

Insulin spielt somit auch im menschlichen Gehirn eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Ganzkörper-Metabolismus. Insulinsignalwege des zentralen Nervensystems scheinen eine Schlüsselrolle in der menschlichen Gewichtskontrolle einzunehmen. Bei übergewichtigen Menschen sind diese regulatorischen Signale gestört. Die zentralnervöse Insulinresistenz scheint dabei nicht nur mit Übergewicht assoziiert, sondern auch möglicher Auslöser für metabolische Veränderungen im gesamten Körper zu sein.

Gehirn als Angriffspunkt

Die Entdeckung kurz- und langfristiger Effekte von zentralnervöser Insulinwirkung auf den Energiehaushalt im gesamten Körper mit Regulation von Glukose- und Fettstoffwechsel ergeben sich vielversprechende neue therapeutische Ansätze.

Das Inkretin Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1) ist ein Hormon des Gastrointestinaltraktes. GLP-1-Rezeptoren wurden zunächst auf Zellen der Bauchspeicheldrüse entdeckt. Ihre Aktivierung führt in den β-Zellen des Inselapparates zu vermehrter Insulinsynthese und dessen Ausschüttung sowie zu einer verminderten Glukagonsekretion aus α-Zellen. Diese Wirkweise wird seit einiger Zeit in der medikamentösen Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 mit den GLP-1-Rezeptor-Agonisten genutzt. Bemerkenswerterweise konnten auch im Gehirn GLP-1-Rezeptoren nachgewiesen werden.

Über solche zentralen Mechanismen kann GLP-1 auch den Appetit und die Sättigung regulieren. Nach derzeitigem Forschungsstand wird angenommen, dass GLP-1-Agonisten über beide Wirkorte zu einem niedrigeren Blutzuckerspiegel und gleichzeitig zu einer Gewichtsabnahme bei Diabetikern führen.

Bromocriptin verbessert periphere Insulinsensitivität

Weitere Hinweise auf die Beteiligung zentraler Signalwege im Rahmen der Stoffwechselerkrankung Diabetes ergeben sich aus Beobachtungen bei der Behandlung mit dem Dopamin-Agonisten Bromocriptin. Dieser Wirkstoff kommt unter anderem bei der Behandlung von Hypophysenerkrankungen wie dem Prolaktinom und Parkinson-assoziierten Symptomen zum Einsatz. Nach heutigem Wissen hat Bromocriptin weder einen direkten Einfluss auf die Insulinsekretion noch auf die Insulinsensitivität peripherer Gewebe.

Allerdings wirkt Bromocriptin im Gehirn und verbessert über seine Wirkung dort die periphere Insulinsensitivität im gesamten Körper. Über diese zentralnervösen Signalwege hat das Medikament Einfluss auf den Blutzucker, nicht aber auf das Körpergewicht. Ein Absinken des HbA1c unter kontinuierlicher Einnahme der Substanz wurde in klinischen Studien festgestellt, so dass es in den Vereinigten Staaten zur Diabetestherapie zugelassen ist, nicht aber in Deutschland und Europa.

Eine Therapie mit Insulin selbst führt hingegen häufig zu einer Gewichtszunahme. Interessanterweise wird unter einer Therapie mit dem langwirksamen Insulinanalogon Detemir zunächst eine deutlich verminderte Gewichtszunahme beobachtet. Studien zeigen, dass Insulin Detemir die Kalorienaufnahme sogar vermindert. Es existieren derzeit verschieden Hypothesen wie es zu diesem Effekt kommt. Vermutet werden neben einer Wirkung auf periphere Organe, wie die Leber, auch direkte und indirekte Wirkmechanismen im Gehirn.

Tierexperimentelle Studien und erste Studien beim Menschen weisen darauf hin, dass Insulin Detemir präferenziell ins Gehirn aufgenommen wird und durch lokal höhere Wirkspiegel die zentralnervöse Insulinresistenz durchbrechen könnte. Ob dieser günstige Effekt im Gehirn auch längerfristig anhält, ist für den Menschen bisher nicht untersucht.

Ausblick: Ziele und Visionen

Immer mehr wird deutlich wie wichtig ein genaues Verständnis zentralnervöser Vorgänge bei Diabetes und auch Adipositas ist. Im Gehirn werden Glukose- und Energiestoffwechsel des Körpers mit physiologischen Funktionen wie Hunger und Sättigungsgefühl koordiniert und reguliert. Untersuchungen zu Insulin und anderen neuen wie auch etablierten Therapieansätzen geben zusätzliche Hinweise auf bisher unbekannte Wirkmechanismen und krankheitsspezifische Veränderungen, zum Beispiel die zentralnervöse Insulinresistenz.

Bemerkenswert ist, dass Insulin im Gehirn nicht nur eine Wirkung auf den Stoffwechsel besitzt, sondern auch Kognition und Gedächtnis beeinflusst. Umgekehrt können neurodegenerative Krankheiten begünstigt werden, wenn Insulin fehlt oder aufgrund geringer Ansprechbarkeit der Rezeptoren zentral nicht ausreichend wirken kann. Das zeigt die zusätzliche Relevanz des Themas vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft.

Viele weitere Untersuchungen sind notwendig um die Prozesse im menschlichen Gehirn und dessen Einfluss auf den Stoffwechsel genauer zu verstehen. Das hierbei gewonnene Wissen über die Pathogenese von Diabetes, Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen und auch neurodegenerativer Erkrankungen wird hoffentlich völlig neue Möglichkeiten der Prävention und Therapie dieser Erkrankungen eröffnen.


Literatur:
Literatur bei den Autoren


Autoren:
Ellen Fehlert¹, Martin Heni¹ ² ³
¹ Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Abteilung IV für Diabetologie, Endokrinologie, Nephrologie, Angiologie und klinische Chemie
² Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz Zentrums München an der Universität Tübingen (IDM)
³ Deutsches Zentrum für Diabetesforschung (DZD)

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (11) Seite 25-27