Im eigentlich harmonisierten EU-Lebensmittelrecht segelt nun schon seit über fünf Jahren ein bunter Freibeuter herum: Der Nutri-Score. Kommt jetzt Bewegung in diese Nährwert-Kennzeichnung?
Der Nutri-Score ist ständig in Bewegung. Das ist erstmal überraschend, soll die bunte Form der Nährwertkennzeichnung doch eigentlich Lebensmittel eindeutig in Kategorien unterteilen und so eine "gesunde" Wahl ermöglichen. Doch Ernährungsprofis wissen, dass die Realität etwas komplizierter ist, als die fünf Schubladen des Nutri-Score glauben machen. Das sieht man zum einen am Algorithmus, mit dem der Score ermittelt wird – er wird regelmäßig angepasst, so dass er auch wirklich die Ernährungsempfehlungen widerspiegelt. Und dann ist da noch das rechtliche Umfeld: Schon von Beginn an und bis heute diskutiert die Poltik darüber, ob und wie eine "Lebensmittelampel" wie der Nutri-Score eingeführt werden soll.
Inaktivität der EU als Ansporn
Im Fokus des Bundestagswahlkampfs oder der Koalitionsverhandlungen stand die Lebensmittel-Kennzeichnung zwar nicht. Auch in den Amtsstuben der Europäischen Kommission gab es in letzter Zeit sicher Themen, die mehr für Schlagzeilen sorgten. Und so ist es wenig überraschend, dass eine aktuelle Neuigkeit zum Nutri-Score aus Brüssel eigentlich eine Nicht-Nachricht ist: Ende Februar mehrten sich die Hinweise, dass der EU-Gesetzgeber diese erweiterte Nährwert-Kennzeichnung derzeit nicht europaweit verbindlich einführen will. Das rief die Verbraucher-Organisation Foodwatch auf den Plan. "Wenn Brüssel nicht liefert, muss jetzt Berlin handeln. Die neue Bundesregierung muss den Nutri-Score verpflichtend einführen!", forderte Luise Molling, Expertin für Gesundheitsprävention bei Foodwatch Deutschland, Anfang März.
Was ist der Hintergrund? 2020 hatte die damalige Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) den Nutri-Score als freiwillige zusätzliche Nährwert-Kennzeichnung nach langem Hin und Her in Deutschland eingeführt. Hintergrund war eine Diskussion um eine "Lebensmittelampel". Geführt wurde die Diskussion ähnlich kontrovers wie die in der letzten Legislaturperiode um an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel. Befürworter und Kritiker waren in beiden Fällen ziemlich identisch, mit einer gravierenden Ausnahme: Das zuständige Ministerium wurde in der Frage der Lebensmittel-Ampel eher als Bremser wahrgenommen, bei der Kinderlebensmittel-Werbung setzte es sich unter der Führung von Cem Özdemir (Grüne) dagegen an die Spitze der letztlich erfolglosen Bewegung.
Das Bundesernährungsministerium begründete 2019 die nur freiwillige Einführung des Nutri-Scores mit dem Europa-Recht. Die Etablierung eines solchen vereinfachten Nährwert-Kennzeichnungssystems sei nach der Lebensmittelinformations-Verordnung der EU nur als Empfehlung und unter bestimmten Anforderungen zulässig. Dazu zähle, dass sie nicht national verpflichtend vorgeschrieben werden kann. "Ich habe die klare Erwartung an die Lebensmittelwirtschaft, dass sie die Kennzeichnung nutzt – die rechtlichen Voraussetzungen dafür haben wir jetzt geschaffen. Unabhängig davon setze ich mich für eine Harmonisierung der erweiterten Nährwertkennzeichnung auf EU-Ebene ein", hatte Klöckner 2020 bei der Einführung des Nutri-Score in Deutschland erklärt.
Einen Vorschlag für eine EU-weit einheitliche und verbindliche Nährwert-Kennzeichnung will die EU-Kommission schon lange vorlegen. Als Ende November 2024 nach den Europawahlen die neue EU-Kommission vom EU-Parlament bestätigt wurde, blickten Beobachter daher auch auf Anzeichen für Bewegung in dieser Frage. Doch in den kürzlich veröffentlichten Plänen für ihre Amtszeit erwähnten die neuen EU-Kommissare für Agrarpolitik, Christophe Hansen, und für Gesundheit, Olivér Várhelyi, den Nutri-Score kaum oder gar nicht, berichtete Foodwatch.
Auf einer Pressekonferenz Anfang März gab die EU-Kommission auf mehrfache Nachfragen keine klare Aussage zur Zukunft des Nutri-Scores ab: Es gebe "keine gemeinsame Lösung" mit den Mitgliedstaaten. Vielmehr betonte eine Sprecherin, dass man gemerkt habe, wie komplex eine transparente Information für Verbraucher ist, die man natürlich nach wie vor anstrebe. Nach Auffassung von Foodwatch machen die Lebensmittel-Industrie und einige EU-Länder unter Führung Italiens seit Jahren massiv Stimmung gegen die Ampel-Kennzeichnung.
Lebensmittel-Hersteller im Ursprungsland Frankreich, in Belgien und Deutschland sowie der Schweiz, den Niederlanden, Spanien und Luxemburg verwenden den Nutri-Score bereits freiwillig. Die neue Bundesregierung in Österreich hat den Nutri-Score in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, auch dort produzierte Produkte sollen die Kennzeichnung nun tragen können. Optional, eine Pflicht ist nicht geplant, auch dort mit Verweis auf die dafür zuständige EU.
Während man in deutschen Supermärkten den Eindruck gewinnen kann, dass der Nutri-Score auch ohne Verpflichtung immer häufiger auf Packungen zu finden ist, zeigt das Beispiel Schweiz, wie fragil dieser Informationsgewinn für Verbraucher ist. "Zu teuer und zu kompliziert – die Migros gibt den umstrittenen Nutri-Score auf", schrieb die Neue Zürcher Zeitung 2024. Die Kennzeichnung biete der Kundschaft zu wenig Nutzen, zudem seien die Kosten dafür zu hoch, begründete der größte Lebensmittel-Einzelhändler der Schweiz. Und erntete Widerspruch: Rund 350 Gesundheitsfachleute forderten in einem offenen Brief an die Migros-Konzernleitung die Wiedereinführung des Nutri-Scores, da sie negative Folgen für die öffentliche Gesundheit befürchten. Denn auch in der Schweiz seien bereits 43 Prozent der Bevölkerung übergewichtig oder adipös. Der Schweizer Nationalrat hatte 2024 entschieden, auf eine verpflichtende Einführung des Nutri-Score zu verzichten.
Nicht viel zu erwarten
In den hiesigen Koalitionsverhandlungen von Union und SPD fällt das Thema in die Zuständigkeit der Arbeitsgruppe 11 "Ländliche Räume, Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt". Das Zwischenergebnis, mit dem die Fachpolitiker die Verhandler in den Schlussspurt der Gespräche geschickt haben, ließ auch für Deutschland in den nächsten vier Jahren keine Änderung erwarten. Einen "Totalausfall" nannte Oliver Huizinga, Abteilungsleiter Prävention beim AOK Bundesverband, das bekannt gewordene Papier aus Sicht der Ernährungspolitik. Nur zwei dünne Sätze fänden sich zur Gesundheit und Ernährung: "Wir fördern verstärkt Bewegung und gesunde Ernährung insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Dazu prüfen wir die Empfehlung des Bürgerrats eines Verkaufs von Energydrinks erst ab 16 Jahren." Für Huizinga zeigt dieses magere Zwischenergebnis, dass es bisher nicht gelungen sei, alle politischen Lager zu überzeugen, dass wirksame Maßnahmen zur Förderung gesunder Ernährung von grundlegender Bedeutung für unsere Gesellschaft sind. "Ernährung wird als seichtes Thema verkannt", bedauert er.
Score-Anpassungen "unter der Haube"
Ermutigender als die Bestrebungen, eine transparentere Nährwertkennzeichnung verpflichtend einzuführen, verlaufen die Anpassungen des Nutri-Score Bewertungs-Algorithmus. Das Modell dahinter wurde 2016 von Wissenschaftlern im Auftrag der französischen Gesundheitsbehörde erarbeitet. Mittlerweile ist ein internationales wissenschaftliches Gremium für die Weiterentwicklung des Nutri-Scores zuständig. Die Länder, die das Kennzeichnungssystem nutzen oder daran zumindest interessiert sind, entsenden Experten in dieses Gremium. Diese Länder, derzeit Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und die Schweiz, werden nach der englischen Bezeichnung "countries officially engaged in Nutri-Score" als COEN abgekürzt. Maximal zwei Mitglieder pro Land werden von den nationalen Behörden vorgeschlagen, die dort für die Umsetzung des Nutri-Score
zuständig sind. Aus Deutschland waren an der letzten Revision Prof. Anette Buyken von der Universität Paderborn sowie Dr. Benedikt Merz vom staatlichen Max Rubner-Institut beteiligt.
Im Herbst 2022 erhielt die Berechnung des Scores für allgemeine Lebensmittel ein Update, im Frühjahr 2023 die Berechnung für Getränke. So schlagen Süßstoffe in Getränken nun negativ zu Buche. Bis zu der Änderung hatte zum Beispiel eine Coca Cola Light mit "B" eine bessere Bewertung als Apfelsaft, der aufgrund seines natürlichen Zuckergehalts nur auf ein "C" kam. Nach den neuen Regeln kommt nun auch die Light-Cola auf ein "C".
Verbraucherzentralen kritisieren, dass bei auch bei der neuen Variante des Nutri-Score für die Berechnung der Punkte des Zucker-Gehalts weiterhin ein viel zu hoher Referenzwert von 90 Gramm pro Tag zugrunde gelegt. 50 Gramm pro Tag entsprächen den aktuellen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Immerhin wird seit der Überarbeitung der Zuckergehalt von Lebensmitteln strenger bewertet: Ein Müsli-Riegel mit 22 Gramm Zucker erhält jetzt beispielsweise 6 Zucker-Punkte, vorher waren es 4. Bis zu 15 Punkte können für die Zuckermenge in einem Produkt vergeben werden, bisher waren es 10. Ebenso wird der Salz-Gehalt von Lebensmitteln im neuen Algorithmus strenger bewertet, hier können jetzt 20 Punkte vergeben werden. Je höher die Zucker-oder Salz-Punkte ausfallen, desto negativer wirkt sich das auf den Nutri-Score aus.
Bei den wünschenswerten Nährstoffen wurde der Mindestgehalt an Ballaststoffen auf 3 Gramm pro 100 Gramm angehoben; bisher reichten schon 0,9 Gramm aus. Außerdem gibt es die maximale Zahl von fünf Ballaststoff-Punkten erst ab 7,4 Gramm statt bisher 4,7 Gramm pro 100 Gramm Lebensmittel. Durch die Änderung soll zum Beispiel behoben werden, dass Weißbrote schon mit verhältnismäßig wenig Ballaststoffzusatz im Nutri-Score genauso gut abschneiden wie ernährungsphysiologisch wertvollere Vollkornbrote.
Auch mit Änderungen im Detail soll der Nutri-Score besser den aktuellen Ernährungsempfehlungen Rechnung tragen. Rotes Fleisch kann jetzt zum Beispiel höchstens 2 Punkte für seinen Protein-Gehalt erhalten – bei der alten Variante waren 5 möglich. Es bekommt damit eine schlechtere Bewertung als Geflügel und Fisch.
Die angepassten Regeln gelten zwar bereits seit Anfang 2024, für schon vorher produzierte und mit dem Nutri-Score gekennzeichnete Produkte gibt es allerdings eine Übergangsfrist bis Ende 2025.
Anreize, aber auch Schlupflöcher
Foodwatch zieht bisher eine vorsichtig positive Bilanz der Einführung des Nutri-Score-Systems: Es habe vielen Herstellern einen Anreiz geboten, den Zucker-, Fett- und Salzgehalt ihrer Produkte zu reduzieren, den Obst- und Gemüseanteil zu erhöhen und mehr Ballaststoffe hinzuzufügen. Die Organisation weiß aber auch, dass Unternehmen ebenso nach kostengünstigen Lösungen suchen, um den Nutri-Score ihrer Produkte zu verbessern, zum Beispiel durch den vermehrten Einsatz von Zusatzstoffen. "Offensichtlich kann das Label nicht alle Mängel in der europäischen Lebensmittelgesetzgebung beheben", merkt Foodwatch dazu süffisant an.
Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (2) Seite 6-8