Großbritannien hat jetzt, was in Deutschland lange vergeblich versucht wurde: einen Werbebann für ungesunde Lebensmittel in TV und Netz. Einen langen Atem brauchte man aber auch im Land of Hope and Glory dafür.

Ob Prof. Emma Boyland aus Liverpool vor Cem Özdemirs Rede auf der DDG-Herbsttagung 2023 in Leipzig oder Prof. Jean Adams aus Cambridge vor dem Vortrag von Renate Künast im Rahmen der Herbsttagung 2024 in Hannover: Es ist kein Zufall, dass die Experten, was Maßnahmen der Verhältnisprävention angeht, aus Großbritannien kommen. Denn das ehemalige EU-Mitglied ist auf diesem Feld recht regelungsfreudig und hat zum Beispiel 2018 eine "Zuckersteuer" auf Softdrinks eingeführt, die eigentlich eine Herstellerabgabe ist und gestaffelt nach Zuckerzusatz 18 oder 24 Pence pro Liter beträgt.

Zum 1. Oktober hat das Vereinigte Königreich beim Kampf gegen ungesunde Lebensverhältnisse nachgelegt: In Großbritannien dürfen seit diesem Stichtag Werbespots für ungesunde Lebensmittel nur noch nach 21 Uhr im Fernsehen laufen, online sind sie ganz verboten. Gerade bei deutschen Diabetes-Organisationen streut dieser Schritt Salz in die Wunden, denn in der vergangenen Legislaturperiode hatte der damalige Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) ebenfalls versucht, ein Werbeverbot für zu salz- oder zuckerreiche Lebensmittel durchzusetzen. Doch der Gesetzesvorschlag scheiterte, der Widerstand kam, daraus machte Özdemir zum Beispiel bei seinem Auftritt im Rahmen der DDG-Herbsttagung kein Geheimnis, vom Koalitionspartner FDP. Mit dem Bruch der Ampel-Koalition verschwand das Thema von der parlamentarischen Agenda, die aktuelle schwarz-rote Bundesregierung hat keine solchen Pläne in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Genau umgekehrt ist es vielsagenderweise in Großbritannien: Die 2024 ins Amt gekommene Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer hat das Vorhaben des Junkfood-Werbeverbots von ihrer konservativen Vorgängerregierung übernommen.

Die britische Regierung will mit den nun in Kraft getretenen Maßnahmen Fettleibigkeit und Karies bei Kindern bekämpfen und Milliarden im Gesundheitssystem NHS (National Health Service) sparen. "Adipositas raubt unseren Kindern den bestmöglichen Start in das Leben, sorgt für lebenslange Gesundheitsprobleme und kostet den NHS Milliarden", erklärte der britische Gesundheitsminister Wes Streeting Ende 2024 bei der Bekanntgabe von Details des Werbeverbots.

11 Milliarden Adipositas-Kosten in Großbritannien

Laut dortigem Gesundheitsministerium sollen Kinder in Großbritannien durch die Maßnahme langfristig rund 7,2 Milliarden Kilokalorien pro Jahr weniger konsumieren. 20 000 Fälle von kindlicher Adipositas sollen so verhindert werden. Nach Zahlen des NHS ist fast jedes zehnte Kind im Vereinigten Königreich schon mit vier Jahren fettleibig. Im Alter von fünf Jahren leiden danach 23,7 Prozent der Kinder bereits an Karies, was das Gesundheitsministerium einem "exzessiven Zuckerkonsum" zuschreibt. Auf 11 Milliarden Pfund beziffert es die jährlichen Kosten durch Adipositas für das nationale Gesundheitssystem.

"Wir haben schon immer gesagt, dass der NHS seine Rolle dabei spielen kann, Menschen, die adipös sind, zu unterstützen, ein gesünderes Gewicht zu erreichen, aber wir müssen mit dem Rest der Gesellschaft zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst übergewichtig werden", betonte der medizinische Direktor des britischen Gesundheitssystems Prof. Dr. Stephen Powis.

Welche Produkte sind betroffen?

Die Werbeeinschränkungen für Fernsehen und Internet betreffen offiziell "weniger gesunde Lebensmittel und Getränke". Etwas aussagekräftiger ist schon die in einem Leitfaden zu der Richtlinie ebenfalls verwendete Bezeichnung "Produkte mit hohem Gehalt an Fett, Salz oder Zucker". Welche Lebensmittel genau unter das Werbeverbot fallen, regelt eine zweistufige Bewertung: Betroffen sind nur bestimmte Produkt-Kategorien und auch nur, wenn ihr Nährwert-Profil nach dem Nutrient Profiling Model (NPM) einen Wert von mindestens 4 für Nahrungsmittel oder 1 für Getränke erreicht.

Insgesamt listet die Richtlinie 13 Kategorien, darunter Softdrinks, Knabberprodukte, Frühstückszerealien, Süßigkeiten, Eiskrem, Kuchen, Kekse, Pudding, Joghurt, Pizza, Kartoffelprodukte, Fertigmahlzeiten und Sandwiches.

Altersgrenze für Energydrinks angekündigt
Auch beim Thema Energydrinks hat Großbritannien die regulatorische Nase vorn: Anfang September hat die Regierung ihrer Majestät ein Verkaufsverbot der Trend-Getränke an unter 16-Jährige angekündigt. Damit folgt sie dem Beispiel anderer europäischer Länder wie Polen oder Rumänien. "Nur Deutschland hinkt mal wieder meilenweit hinterher, wenn es um den Schutz der Kindergesundheit vor den Profitinteressen der Industrie geht", kritisierte Foodwatch anlässlich der britischen Ankündigung. Die Verbraucherorganisation fordert auch in Deutschland eine Altersbeschränkung für die aufputschenden Getränke, auch der Bürgerrat Ernährung hatte 2024 eine Altersgrenze für Energydrinks auf seiner Prioritäten-Liste, als Empfehlung Nummer acht von neun. Fairerweise muss man sagen, dass die britische Regierung noch kein konkretes Startdatum für die Altersbeschränkung genannt hat. Gesundheitsminister Wes Streeting sagte die Regelung werde aber "viel früher" als zum Ende der Legislaturperiode kommen; das war bisher das Versprechen der regierenden Labour-Partei. In Deutschland hat die Ende August publizierte Edkar-Studie die Diskussion um Energydrinks und Kindergesundheit wieder angeheizt: Sie fand keine signifikanten oder klinisch relevanten Unterschiede bei den untersuchten kardiologischen Parametern bei chronisch hohem Energydrink-Verzehr von Jugendlichen. In einem Brief an das European Journal of Epidemiology, das die Studie veröffentlicht hat, kritisierten Kinderkardiologen die Studie aber als methodisch mangelhaft und wenig aussagekräftig. Die Studie war 2020 von der damaligen Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) in Auftrag gegeben worden und wurde vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und der Charité durchgeführt. Ziel war, eine Entscheidungsgrundlage zu liefern, ob und wie Minderjährige vor einem übermäßigen Konsum von Energydrinks geschützt werden müssen. Foodwatch spricht von einer "willkommene Ausrede, um nichts zu tun".

Das Nutrient Profiling Model wurde bereits 2004 von der britischen Food Standards Agency (FSA) entwickelt, und zwar auch schon als Werkzeug, um sich an Kinder richtende Fernsehwerbung besser auszubalancieren. Schon 2007 führte die britische Rundfunkregulierungsbehörde Ofcom mit Hilfe dieses Modells Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel ein. Beim NPM handelt es sich um ein einfaches Punktesystem, bei dem der Nährstoffgehalt pro 100 Gramm bewertet wird. Punkte gibt es für sogenannte A-Nährwerte, das sind der Energiegehalt, gesättigte Fette, Gesamtzucker und Natrium, und C-Nährwerte, das sind der Gehalt an Obst, Gemüse und Nüssen, Ballaststoffe und Protein. Der NPM-Score wird dann errechnet, indem die Summe der C- von der Summe der A-Nährwerte abgezogen wird – je höher er ist, umso "ungesünder" ist also ein Produkt.

Für die Berechnung des NPM für die neuen, gesetzlichen Werbebeschränkungen wird auf eine technische Umsetzungs-Richtlinie des britischen Gesundheitsministeriums zum NPM aus 2011 verwiesen.

Verzögerung durch Gegenwind

Auch in Großbritannien bleiben Maßnahmen wie das Werbeverbot nicht ohne Gegenwind. Uneinigkeit zwischen Behörden und Unternehmen der Lebensmittel-Industrie und des Lebensmittel-Handels besteht noch darin, inwiefern Kampagnen, die statt eines konkreten Produkts die dahinterstehende Marke bewerben, vom Verbot betroffen sind. Laut einem Brief einer Gruppe von Werbekunden und Medien-Unternehmen haben viele Auftraggeber unter anderem für Weihnachten solche Kampagnen entworfen, doch die für das Durchsetzen des Verbots zuständige Behörde ASA (Advertising Standards Authority) sei nicht in der Lage gewesen, zu bestätigen, dass diese gesetzeskonform sind. Im Januar hatte das Ministerium vor dem Hintergrund dieses Streits eine Verschiebung des Verbots auf Anfang 2026 ins Spiel gebracht, was wiederum von britischen Gesundheits-Organisationen harsch kritisiert wurde. Denn zur Wahrheit der mutig gegen dickmachende Machenschaften kämpfenden Briten gehört auch, dass das zugrundeliegende Gesetz schon 2022 verabschiedet wurde und das Inkrafttreten konkreter Verordnungen von den Vorgänger-Regierungen unter Boris Johnson und Rishi Sunak bereits mehrfach verschoben wurde.

Der Vorsitzende der Royal Society for Public Health William Roberts nannte die angekündigte Verzögerung einen riesigen Rückschlag für die öffentliche Gesundheit. "Wir können es uns nicht leisten die Gesundheit der Kinder auf die lange Bank zu schieben oder die Maßnahmen im ursprünglichen Entwurf zu verwässern", kommentierte er die Ankündigung von Regierungsseite. "Ein zentraler Teil bei der Prävention eines schlechten Gesundheitszustands ist es, den Menschen Zugang zu gesünderen Alternativen zu bieten, und die Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen für Junk Food einzuschränken ist ein Kernelement davon", betonte Roberts.

Dieser Kritik zum Trotz beschloss das britische Parlament im Juni, das Inkrafttreten der gesetzlichen Werbebeschränkungen auf den 5. Januar 2026 zu verschieben. Dass der Werbebann nun trotzdem zum 1. Oktober umgesetzt wurde, spricht für ein etwas breiteres Verständnis dafür, dass klar ungesunde Lebensmittel nicht Gegenstand von Werbung insbesondere mit der Zielgruppe Kinder sein sollten. Denn in ihrem Brief im Mai kündigte die Gruppe der Betroffenen an, den unstrittigen Teil der Maßnahmen pünktlich zum Stichtag wie im Gesetz geplant umzusetzen. Ohne diese Zusicherung wäre die Regierung andererseits wohl auch nicht zum Verschieben des offiziellen Inkrafttretens bereit gewesen.

Neben der Werbung im Fernsehen und Internet sind seit Oktober in England auch Preis-Aktionen für ungesunde Lebensmittel und Getränke verboten. Rabattaktionen wie "Kaufe eins, erhalte zwei" für Softdrinks sind so zum Beispiel in Supermärkten nicht mehr möglich. Gleiches gilt für den "Free refill", also das in Restaurants teilweise zu findende Angebot, für einen Softdrink einmal zu zahlen und dann den Becher nach Belieben oft wieder aufzufüllen. Diese neue Regelung gilt bislang nur im britischen Teilstaat England, Wales will im nächsten Jahr eine ähnliche Regelung einführen und Schottland hat zumindest angekündigt, diesem Beispiel zu folgen.

Effekt des Banns für Quengelprodukte

Bereits seit 2022 existieren in Großbritannien Einschränkungen beim Verkauf ungesunder Produkte an bestimmten exponierten Orten innerhalb von Verkaufsstellen und auch auf Internetseiten. Ein Beispiel sind die berühmt-berüchtigten "Quengelprodukte" an der Kasse, also Schokoriegel und Co., die beim Warten insbesondere Kinder magisch anziehen. Die Beschränkungen sind Teil genau des Gesetzes, das jetzt auch zu den TV-Werbebeschränkungen geführt hat. Anfang des Jahres hat die Universität Leeds untersucht, welche Folgen dieser Bann bisher hatte. Vorher seien 20 von 100 verkauften Produkten "ungesund" gewesen, danach waren es 19. Klingt nicht nach viel, doch die Forscher haben errechnet, dass dies zwei Millionen weniger verkaufte ungesunde Produkte bedeutet – pro Tag. Die Wissenschaftler wiesen allerdings auch darauf hin, dass es auch vor der Regelung schon einen Abwärtstrend bei diesen Produkten gegeben habe und dass die hohe Inflation auch einen Einfluss gehabt haben könnte.


Autor:
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Marcus Sefrin
Redaktion MedTriX GmbH
Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (5) Seite 6-8