Gegessen wird immer. Dass das als Existenzberechtigung nicht ausreicht, weiß auch die Lebensmittelbranche – und entwirft neue Produkte sowie Marketingmaßnahmen. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der Kinder vor Werbung für ungesundes Essen schützen soll – und für viel Streit sorgt.

Genau eine Woche nach Rosenmontag und damit zu Beginn der Fastenzeit hat das Bundesernährungsministerium einen Gesetzentwurf für eine Beschränkung der Lebensmittelwerbung für Kinder vorgelegt. Ob es gewollte Symbolik war, ist unklar – die öffentliche Aufmerksamkeit war dem Papier auch so schon sicher. Denn zahlreiche Organisationen aus dem Gesundheits- und Verbraucherschutzbereich setzen sich schon lange für eine stärkere Regulierung dieser Werbung ein und warteten ungeduldig auf die Umsetzung der Vorgabe aus dem Koaltitionsvertrag in eine konkrete rechtliche Regelung.

Der Ende Februar dieses Jahres vorgelegte Entwurf sieht laut Ministerium Folgendes vor: Nach Art, Inhalt oder Gestaltung an Kinder adressierte Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt soll in allen für Kinder relevanten Medien (darunter fällt auch das Influencermarketing) und als Außenwerbung nicht mehr zulässig sein.

Zudem soll Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt nicht mehr zulässig sein, wenn sie Kinder zwar nicht nach Art, Inhalt oder Gestaltung, jedoch aufgrund des Werbeumfeldes oder des sonstigen Kontextes adressiert. Gemeint ist, wenn Werbung zwischen 6 und 23 Uhr betrieben und damit bewusst in Kauf genommen wird, dass sie regelmäßig insbesondere auch von Kindern wahrgenommen wird oder werden kann, wenn sie im Kontext mit auch Kinder ansprechenden Inhalten betrieben wird, wenn sie in Form von Außenwerbung im Umkreis von 100 Metern betrieben wird zu Freizeiteinrichtungen, die ihrer Art nach oder tatsächlich vor allem von Kindern besucht werden, oder Schulen, Kindertageseinrichtungen oder Spielplätzen.

An Kinder gerichtetes Sponsoring für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt soll ebenfalls nicht mehr zulässig sein. Die Beurteilung eines hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehaltes soll sich an den Anforderungen des Nährwertprofilmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientieren. Als Kinder werden alle unter 14-Jährigen definiert.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Das Wort "Meilenstein" war in vielen Stellungnahmen zu lesen, mit denen Organisationen auf das Papier reagierten. "Der Entwurf von Bundesernährungsminister Cem Özdemir ist ein Meilenstein für die Kindergesundheit", lobte zum Beispiel Barbara Bitzer, Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Das international anerkannte WHO-Nährwertmodell sei die ideale Grundlage für die Werbebeschränkung, und die vorgeschlagenen Uhrzeiten stellen einen umfassenden Schutz der Kinder unter 14 Jahren sicher. "Die schädlichen Einflüsse der Lebensmittelwerbung können nur mit einem solch umfassenden Ansatz wirksam eingedämmt werden. Wir appellieren an die Koalitionspartner, diesen aus wissenschaftlicher Sicht richtigen und wichtigen Vorschlag des Ministers zu unterstützen", so Bitzer weiter.

"Die heute auf den Weg gebrachten Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel sind ein Meilenstein im Kampf gegen Fehlernährung und Übergewicht", befand auch Luise Molling von der Verbraucherorganisation Foodwatch. "Ernährungsminister Cem Özdemir macht endlich Schluss mit dem von der Bundesregierung jahrelang vorgelebten, erfolglosen Prinzip der Freiwilligkeit. Der Minister nimmt die Lebensmittelindustrie in die Pflicht, die mit aggressiven Marketingtricks Kindern Burger, Süßigkeiten und Limonaden andreht", machte sie den Standpunkt der Organisation deutlich. Es sei richtig, dass auch Influencer adressiert werden, die für Kinder Idole und "beste Freunde" zugleich seien. "Jetzt kommt es darauf an, dass das Gesetz innerhalb der Ampelkoalition – insbesondere vom Koalitionspartner FDP – nicht verwässert wird und der Kinderschutz gegen die Interessen der Werbewirtschaft und der Junkfood-Industrie durchgesetzt wird", blickte Molling voraus.

Bereitschaft zur Rezeptur-verbesserung gefordert

Das Bundesernährungsministerium selbst kritisiert den Status quo ebenfalls klar: An Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung preise sehr häufig hochverarbeitete Lebensmittel an, die zu viel Zucker, Fett oder Salz enthalten würden. Der übermäßige Verzehr solcher Lebensmittel trage zu ernährungsmitbedingten Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes bei, die hohe gesellschaftliche Kosten verursachen würden. "Werbetreibende können auch weiterhin gegenüber Kindern für Lebensmittel werben, die keinen zu hohen Gehalt an Zucker, Fett oder Salz haben", wies Özdemir die Richtung. "Und genau dahin sollte der Trend gehen: Weniger ist mehr! Wir setzen auf die Bereitschaft der Lebensmittelwirtschaft, Rezepturen zu verbessern."

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen laut DDG und Dank, dass viele der beliebtesten Sendungen bei Kindern unter 14 Jahren keine Cartoons sind, sondern Familienshows und Fußballübertragungen. Eine Werbebeschränkung light, die nur im Umfeld klassischer Kindersendungen greift, wäre zum Scheitern verurteilt. "Es ist außerordentlich erfreulich, dass der Bundesernährungsminister diese Erkenntnisse aus der Medienforschung bei seinen Plänen berücksichtigt", kommentierte Bitzer. Auch Foodwatch betont in seiner Stellungnahme, wie wichtig es sei, dass das Gesetz nicht nur klassische Kindersendungen umfasst: Unter den bei Kindern beliebtesten Sendungen sei jede dritte ein Familienformat.

Laut einer Studie der Uni Hamburg sieht jedes Kind zwischen 3 und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel, erinnern Foodwatch und BMEL unisono. 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, vermarkte Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten. Kinder essen etwa doppelt so viel Süßigkeiten, aber nur halb so viel Obst und Gemüse wie empfohlen, mahnen beide.

Duell der Faktenchecks

Wie wenig mit dem Gesetzentwurf des Ministeriums bereits endgültig klar ist beim Werbeverbot, lässt sich an den medialen Versuchen ablesen, die öffentliche Meinung zum Thema zu beeinflussen. Ein regelrechtes Duell der Faktenchecks liefern sich dabei DANK und die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE). Ende März ist die Branchenorganisation, unterstützt von der Dachorganisation Lebensmittelverband, mit der Website lieber-mündig.de an den Start gegangen, der Tenor lässt sich an der Internetadresse selbst gut ablesen. Am 11. April hat DANK dann einen Faktencheck zu den auf lieber-mündig.de getätigten Aussagen veröffentlicht. Und am 14. April kam die Erwiderung des BVE unter dem Titel "Irreführender Faktencheck der DANK zur Kampagne #liebermündig".

Das WHO-Nährwertmodell

Das WHO-Nährwertmodell wurde 2015 veröffentlicht und 2023 überarbeitet. Es soll Staaten dabei unterstützen, Regeln für Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung zu schaffen. Lidl Deutschland, Aldi Süd sowie mehrere Staaten (Portugal, Türkei, Slowenien) machen das Modell bereits zur Grundlage für freiwillige oder verbindliche Beschränkungen der Werbung für Lebensmittel, weitere Staaten wie Spanien planen es laut DANK (lesen Sie dazu auch den VDBD-Beitrag ab Seite 46).

Das WHO-Modell teilt Lebensmittel in 18 Gruppen ein und definiert kategorienspezifische Grenzwerte beispielsweise für Zucker, Fett, Salz oder Süßstoffe, um die Produkte mit einer hohen Nährwertqualität zu identifizieren. Für diese soll laut BMEL-Gesetzentwurf weiterhin uneingeschränkt geworben werden dürfen – auch im Kinderprogramm.

Die BVE wiederholt dort ihr Argument, es gehe um ein komplettes Werbeverbot für 70 Prozent aller Lebensmittel zwischen 6 und 23 Uhr, zum Beispiel auch für Gouda, Schinkenwurst, Marmelade, Brezeln, Müsli, Backmischungen, Olivenöl, Butter, Mandelmus oder Joghurt (3,5 Prozent Fett). "Da bleibt am Ende außer Blattsalat und Leitungswasser nicht viel übrig, für das Unternehmen werben könnten", beklagt der Verband plakativ, vor allem verarbeitete und verzehrfertige Lebensmittel würden aus der Öffentlichkeit verbannt. In ganzseitigen Anzeigen in WELT und BILD stellte die BVE "Cem Özdemirs Verbotskatalog" vor und zeigte Lebensmittel, für die angeblich nicht mehr geworben werden dürfe.

DANK nannte die Kampagne "irreführend auf allen Ebenen", die Ernährungsindustrie bediene sich eins zu eins der Strategien der Tabaklobby, kritisierte das Bündnis. "Mit ihrer Kampagne versucht die Ernährungsindustrie das Problem zu verharmlosen, Zweifel an den Gegenmaßnahmen zu säen und Verantwortung auf andere abzulenken", konterte Bitzer. "Der Großteil der Werbeausgaben im Ernährungsbereich entfällt nicht auf Gnocchi, Dosenananas oder Maultaschen, sondern auf Süßwaren, Snacks oder Limonade. Das trägt nachweislich zum ungesunden Ernährungsverhalten der Kinder bei – auch wenn die Ernährungsindustrie es leugnet", so die DDG-Geschäftsführerin. Dass noch keine belastbaren Untersuchungen des Einflusses von Werbebeschränkungen auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren, sei nicht anders zu erwarten, verteidigt DANK. Zum einen sind die einzigen umfassenden gesetzlichen Regelungen in Chile und Portugal erst vor wenigen Jahren in Kraft getreten. Belastbare epidemiologische Messungen zur Entwicklung des Gewichtsstatus bei Kindern und Jugendlichen seien sehr aufwändig und werden oft nur etwa zehnjährlich erhoben, erinnert das Bündnis. Zu behaupten, es gebe keine Wirksamkeitsstudien, sei aber irreführend, die Auswirkungen von Werberegulierungen auf das Kaufverhalten seien beispielsweise gut dokumentiert. Eine weltweite Studie, die die Junkfood-Verkaufszahlen aus 79 Staaten mit verbindlichen Werbebeschränkungen, freiwilligen Selbstverpflichtungen und ohne Werbebeschränkung vergleicht, zeigt laut DANK, dass in Ländern mit gesetzlichen Werbebeschränkungen (n=16) der Junkfood-Verkauf im Zeitraum 2002 bis 2016 um 8,9 Prozent gesunken, in Ländern ohne Werbebeschränkungen (n=30) um 13,9 Prozent gestiegen und in Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen um 1,7 Prozent gestiegen war.

Das Schreckensszenario der Kritiker impliziere zudem, die Werbung für Lebensmittel wäre der Eckpfeiler der Medienfinanzierung und sie würde im Falle einer Werberegulierung komplett wegbrechen. Beides sei nicht der Fall, betont DANK. Die von der BVE in ihrer Anzeigenkampagne gebrachten Beispiele für Werbeverbote laufen nach Darstellung von DANK alle ins Leere: Bei den meisten genannten Produkten wie Gnocchi oder Dosenobst könne von einem kategorischen Werbeverbot keine Rede sein, vielmehr filtern die WHO-Kriterien wie gewünscht ernährungsphysiologisch vorteilhafte Vertreter der Kategorie heraus, für die nach wie vor geworben werden dürfte. Die Lebensmittel der Kategorien Laugengebäck sowie verarbeitetes Fleisch und Schinkenwurst würden die WHO-Kriterien in der Regel tatsächlich nicht einhalten, das spreche aber für die Validität des Modells – Werbeverbote seien für diese Lebensmittel ernährungsphysiologisch gut begründbar.

In ihrer Replik betont die BVE, auch sie sei für Kinderschutz in der Werbung. "Der aktuelle Gesetzesentwurf erfüllt dieses Ziel unserer Auffassung nach nicht, weil Lebensmittel betroffen sind, die sich weder speziell an Kinder richten noch speziell von Kindern verzehrt werden." Einen solchen Entwurf zu erstellen, obwohl "noch keine belastbaren Untersuchungen auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren" (hier zitiert die BVE den DANK-Faktencheck), sei politisch fragwürdig und nicht verhältnismäßig.

Großbritannien und Chile

Beim Vergleich der Adipositaszahlen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und Großbritannien räumt die BVE ein, dass sie sich aufgrund unterschiedlicher Messmethoden und unterschiedlicher Altersgruppen nicht direkt miteinander vergleichen lassen. Auf lieber-mündig.de hatte der Verband behauptet, in Großbritannien gebe es bereits seit mehr als 15 Jahren Werbeverbote und die Übergewichts- und Adipositasraten der Zielgruppe seien dadurch nicht gesunken. Aus dem Beispiel Chile versucht die BVE aber durchaus etwas abzuleiten. Dort gebe es umfassende Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel in Folge eines 2016 in Kraft getretenen Gesetzes, jährlich würden anthropometrische Daten von einer zuständigen Behörde des Bildungsministeriums erhoben. Diese Studie sei zwar nicht repräsentativ, umfasse aber die große Mehrheit aller Kinder (rund 90 Prozent). Die Daten der letzten fünf Jahre zeigen laut BVE, dass die Übergewichtsrate nicht stagniert, sondern sogar weiter gestiegen ist.

Was isst Thomas Müller?

Özdemir verteidigt seinen Gesetzentwurf ebenfalls. In einem Interview forderte er die Lebensmittelindustrie auf, aus der Schmollecke herauszukommen, Rezepturen zu verändern und so einen Beitrag zur Kindergesundheit zu leisten. "Die Werberegulierung ist ja noch ein vergleichsweise moderates Mittel", drohte er indirekt. Auf die Einwände, dass die angeprangerte Werbung gar nicht die ihr zugesprochene verheerende Wirkung habe, entgegnete er: "Natürlich wissen wir alle, dass es wirkt, wenn etwa ein Fußballer für einen Schokoaufstrich wirbt. Und das Schlimme: Diese Sachen würde er selbst nie essen, weil er sonst Stress mit dem Ernährungsberater seines Vereins bekommt, weil es sich auf seine Leistung auswirkt."


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (5) Seite 6-8