Die Techniker Krankenkasse (TK) hat gerade Inhaber vieler Diabetes-Praxen in Sachen Abrechnungsüberprüfung schockiert. Was es damit auf sich hat, erklärt Diabetes-Forum-Chefredakteur Dr. Martin Lederle.

Anfang März 2021 erhielten die anerkannten Diabetes­praxen in Westfalen-Lippe (WL) Post von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) WL: Die Techniker Krankenkasse (TK) hat für das 1. Quartal 2017 eine Abrechnungsprüfung gemäß § 106d SGB  V initiiert, da sie der Auffassung ist, dass die Diabetespraxen Leistungen aus der „Vereinbarung zur Optimierung der Versorgung von Typ-1- und Typ-2-Diabetikern im Rahmen strukturierter Behandlungsprogramme nach § 137f SGB  V“ abgerechnet hätten, obwohl diese Leistungen nicht hätten abgerechnet werden dürfen, da die betroffenen Patienten zum Zeitpunkt der Abrechnung nicht in einem Diseasemanagementprogramm (DMP) Diabetes mellitus Typ 1 bzw. Typ 2 eingeschrieben gewesen wären.

Die betroffenen Praxen sollten innerhalb von vier Wochen zu diesem Vorwurf des Abrechnungsbetruges Stellung beziehen. Wenige Tage später erhielten die Diabetespraxen erneut ein Schreiben der KV WL mit gleichem Inhalt, jetzt bezogen auf das 1. Quartal 2019. Der § 106d SGB V regelt die Abrechnungsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung. In dem Paragraphen heißt es unter anderem:


„Die Krankenkassen prüfen die Abrechnungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen insbesondere hinsichtlich …. des Bestehens und des Umfangs ihrer Leistungspflicht.“

Nach der aktuellen Gesetzeslage besteht dafür eine Frist von 2 Jahren („Die Maßnahmen, die aus den Prüfungen nach den Absätzen 2 bis 4 folgen, müssen innerhalb von zwei Jahren ab Erlass des Honorarbescheides festgesetzt werden“). Bis Ende 2018 galt dafür noch eine Frist von 4 Jahren. Dies erklärt, warum die TK die Abrechnungsprüfung für das 1. Quartal 2017 und im Prinzip zeitgleich für das 1. Quartal 2019 in Gang gesetzt hat; sie will natürlich die jeweils gesetzlich gültige Frist einhalten.

Mit weiteren Prüfungen ist zu rechnen

Es ist davon auszugehen, dass die TK für alle weiteren Abrechnungsquartale ab dem 2. Quartal 2017 ebenfalls eine Abrechnungsprüfung mit gleich lautender Begründung initiieren wird. Dies ist natürlich eine erhebliche finanzielle Bedrohung für die Diabetespraxen in WL, da es in jedem Quartal um eine Rückforderung von einigen 1.000  Euro je betroffener Praxis geht. Falls die TK mit den jetzt in Gang gesetzten Verfahren erfolgreich sein und diese auf 16 Quartale (2017 – 2020) ausdehnen sollte, dann werden die Diabetespraxen in WL durch mögliche Honorarrückforderungen im 5 stelligen Euro-Bereich in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.

Die ersten „Sonderverträge“ für Diabetespraxen wurden in WL schon ab 1995 vereinbart. Die regionalen Vertragspartner (auf der einen Seite die KV WL, auf der anderen Seite zunächst nur einige gesetzliche Krankenversicherungen) waren sich darin einig, dass die in einer Diabetespraxis angebotenen spezifischen Leistungen der Patientenversorgung („sprechende Medizin“) mit den dafür erforderlichen nichtärztlichen Fachkräften (zunächst Diabetesberater/innen, im weiteren Verlauf Diabetesassistenten/innen) durch die „normale“ Vergütung nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) nicht kostendeckend abgebildet werden konnten und es deshalb erforderlich war, die Infrastruktur einer Dia­betespraxis neben der EBM-Vergütung durch Sonderverträge zu finanzieren.

In einem Artikel des Deutschen Ärzteblattes (DÄB) vom 27. September 2002 heißt es dazu:


„Die Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der ambulanten Versorgung von Diabetikern war Ziel einer Vereinbarung der KV WL mit der Barmer Ersatzkasse (BEK) im Juli 1998. Rechtsgrundlage ist § 63 Sozialgesetzbuch (SGB) V. Neben der angestrebten Reduzierung diabetesbedingter Komplikationen und stationärer Einweisungen sollen BEK Versicherte mit Diabetes durch ihre Teilnahme in die Lage versetzt werden, ihre Lebensführung auf Dauer an die Erfordernisse ihrer Erkrankung anzupassen. [...]“


„Da der Kooperationsvertrag im Kern bereits wesentliche Bausteine eines Disease-Management-Programms aufweist und hinsichtlich der erzielten Veränderungen auf Patientenebene positiv beurteilt werden kann, sollte eine Überführung des Vertrages in ein solches Programm ohne größere Schwierigkeiten möglich sein.“

Im Laufe der letzten 26 Jahre haben sich die gesetzlichen Grundlagen für die „Diabetesverträge“ mehrfach geändert und so mussten jeweils die Vereinbarungen, die letztendlich die wirtschaftliche Grundlage der Diabetespraxen in WL (und natürlich auch in anderen Regionen in Deutschland) darstellen, immer wieder angepasst werden. Aktuell ist der § 137f SGB V, der auch die DMP regelt, die einzige mögliche rechtliche Grundlage, die vom Gesetzgeber momentan für Diabetesverträge vorgesehen ist.

Start der DMP in Deutschland

Mit der Vierten Verordnung zur Änderung der Risikostruktur-Ausgleichsverordnung (4. RSA-ÄndV) vom 27. Juni 2002 fiel in Deutschland der Startschuss für das erste DMP für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. Im Vorblatt zum Referentenentwurf zur 4. RSA-ÄndV wurde als Zielsetzung formuliert:


„Eines der zentralen Ziele des Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Versicherter. Zu diesem Zweck soll die Durchführung strukturierter Behandlungsprogramme für chronisch Kranke im Risikostrukturausgleich finanziell gefördert werden.“

Diese Verordnung trat mit Unterschrift der damaligen Bundesministerin für Gesundheit Frau Ulla Schmidt am 1. Juli 2002 in Kraft. In WL ging am 2. Juni 2003 die Vereinbarung zur Umsetzung des DMP Dia­betes mellitus Typ 2 an den Start. Der bis zu diesem Zeitpunkt gültige Dia­betes-Strukturvertrag wurde, wie auch in anderen KV-Bereichen, durch den neuen Vertrag abgelöst.

Stellungnahmen der TK zum DMP Diabetes mellitus Typ 2

Am 14. Juni 2002 veröffentlichte die TK folgende Stellungnahme zum Start der DMP in Deutschland:


„Die TK begrüßt ausdrücklich Anstrengungen, mit Hilfe von strukturierten Behandlungsprogrammen die Versorgung chronisch kranker Versicherter in der gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern. Durch die Verknüpfung von Disease-Management-Programmen mit dem Risikostrukturausgleich (RSA) entstehen jedoch keine Anreize zur qualitativen Verbesserung der Versorgung, sondern vielmehr Fehlanreize. Für eine Kasse steht nicht mehr die Verbesserung der Versorgung im Vordergrund, sondern die Verbesserung der jeweiligen RSA-Position durch die Einschreibung möglichst vieler Versicherter in ein möglichst kostengünstiges Programm.“

Am 2. Dezember 2003 veröffentlichte die TK ein von ihr selbst in Auftrag gegebenes Gutachten des Instituts für Gesundheits- und Sozial­forschung (IGES) aus Berlin. Darin heißt es unter anderem:


„Sie kosten viel und bringen wenig - die Behandlungsprogramme für chronisch Kranke in ihrer heutigen Konstruktion sind enttäuschend. Statt nach dem „Gießkannenprinzip“ zu verfahren, sollten die Programme stärker die Verhaltensänderung in den Mittelpunkt stellen und sich auf diejenigen Patienten konzentrieren, bei denen Behandlungserfolge zu erwarten sind.“

Laut IGES-Direktor Professor Dr. Bertram Häussler müssten für eine intensivierte Diabetiker-Betreuung, bei der verhaltensändernde Maßnahmen im Vordergrund stehen und die sich auf Patienten beschränkt, bei denen Erfolge zu erwarten sind, jährlich etwa 260 Millionen Euro investiert werden. Den Einspareffekt bezifferte er auf 120 Millionen Euro pro Jahr. Es kommt darauf an, die Anreize so zu setzen, dass die Aufnahme in aufwändige Programme nur für Patienten erfolgt, die davon profitieren. Daher sollten die Programme anders als heute nicht mit dem Risikostrukturausgleich verwoben werden.

Am 11. März 2011 wurden im DÄB in einem Artikel Daten vom Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) publiziert. Dafür wurden Routinedaten der TK aus den Jahren 2006 – 2008 ausgewertet. Die Autoren kamen zu folgendem Ergebnis:


„Hinsichtlich der Inzidenz relevanter Komorbiditäten zeigten sich keine deutlichen Unterschiede zwischen den DMP-Teilnehmern und der Kontrollgruppe. Die Zahl der Notfalleinweisungen und die Kosten für stationäre Aufenthalte waren bei den DMP-Teilnehmern etwas niedriger. Die DMP-Teilnehmer haben in allen untersuchten Quartalen mehr Arzneimittelverordnungen eingelöst, häufiger niedergelassene Ärzte kontaktiert und mehr Leistungen nach Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) in Anspruch genommen.“

Sie zogen daraus folgende Schlussfolgerung:


„Das DMP T2DM ist in der momentan in Deutschland praktizierten Form nicht ausreichend effektiv. Insgesamt ist ein medizinischer Nutzen durch die DMP-Teilnahme nicht klar erkennbar.“

Systematik der DMP

Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass die medizinischen Inhalte für DMP vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt werden. In einer Pressemitteilung des G-BA vom 20. April 2017 heißt es dazu:


„Patientinnen und Patienten mit bestimmten chronischen Krankheiten können sich bei ihrer Krankenkasse in ein strukturiertes Behandlungsprogramm, ein Disease-Management-Programm (DMP), einschreiben lassen. Damit werden sie ambulant und stationär auf dem aktuellen medizinischen Forschungsstand behandelt. Ein koordiniertes Vorgehen soll dazu beitragen, unnötigen Komplikationen, Krankenhausaufenthalten und Folgeschäden vorzubeugen. Anforderungen an solche strukturierten Behandlungsprogramme beschließt der G-BA. Träger der Programme sind die gesetzlichen Krankenkassen, die sie für ihre chronisch kranken Versicherten anbieten.“

Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS; es hieß bis zum 31.12.2019 Bundesversicherungsamt) muss DMP zulassen. Auf der Internetseite des BAS finden sich dazu folgende Informationen:


1. Definition
„Disease Management Programme (DMP) sind strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen, die vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) zuzulassen sind. Die Behandlungs- und Betreuungsprozesse von Patienten werden über den gesamten Verlauf einer (chronischen) Krankheit und über die Grenzen der einzelnen Leistungserbringer hinweg koordiniert und auf der Grundlage wissenschaftlich gesicherter aktueller Erkenntnisse (medizinische Evidenz) optimiert.“


2. Sinn und Zweck
„Vorrangiges Ziel der DMP ist die Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Versicherter. Insbesondere sollen durch die chronische Krankheit bedingte Folgeschäden und Komplikationen bei den betroffenen Versicherten vermieden werden. DMP sollen somit helfen, eine bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung sicherzustellen und bestehende Versorgungsmängel wie Über-, Unter- und Fehlversorgung in unserem Gesundheitssystem abzubauen. Angestrebt wird insoweit auch eine Reduzierung der Gesamtbehandlungskosten durch Vermeidung von Komplikationen, Krankenhausaufenthalten und Folgeschäden.“


3. Verknüpfung mit dem Risikostrukturausgleich
„Infolge des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) und der damit verbundenen Einführung eines „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ sowie des Gesundheitsfonds erhalten die Krankenkassen – unabhängig von der Teilnahme an einem DMP – seit dem 1. Januar 2009 für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Diese erhöht bzw. verringert sich durch Zu- bzw. Abschläge zum Ausgleich des nach Alter, Geschlecht und Krankheit unterschiedlichen Versorgungsbedarfs.“ [...]


„[...]“


5. Umsetzung
„Das BAS kann strukturierte Behandlungsprogramme nur zulassen, wenn sie den auf der Grundlage des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), der Risikostruktur-Ausgleichsverordnung (RSAV) sowie der DMP-Anforderungen-Richtlinie (DMP-A-RL) an sie gestellten Anforderungen genügen. [...] Der G-BA ist zudem damit beauftragt, die Ausgestaltung der DMP regelmäßig zu überprüfen und zu aktualisieren. [...] Um den besonderen Qualitätsanforderungen gerecht zu werden, die an die DMP gestellt werden, sind die zugelassenen Programme durch Verträge der Krankenkassen bzw. Kassenverbände mit geeigneten Leistungserbringern umzusetzen. [...]“


„[...]“


7. Teilnahme
„Die Teilnahme an einem DMP ist freiwillig und für die Versicherten kostenlos. Der Versicherte kann seine Teilnahme jederzeit widerrufen. Zu den Voraussetzungen einer DMP-Teilnahme gehören neben einer gesicherten Diagnose durch den behandelnden Arzt auch die Bereitschaft des Versicherten, aktiv am DMP teilzunehmen, sowie seine Einwilligung in die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung seiner persönlichen und medizinischen Daten. [...]“


„DMP sind sowohl für die anbietende Krankenkasse als auch für die eingeschriebenen Versicherten attraktiv: Neben der Verbesserung der medizinischen Versorgung gibt es auch finanzielle Anreize für Versicherte. So hat die Krankenkasse im Rahmen der Wahltarife in ihrer Satzung für Versicherte, die an einem DMP teilnehmen, besondere Tarife anzubieten. Die Krankenkassen können ihrerseits versuchen, durch effektive und effiziente Betreuung der Versicherten im DMP die tatsächlich anfallenden Kosten unter den für die Berechnung des Morbiditätszuschlags geschätzten Kosten zu halten. Effektiv gestaltete DMP können dazu beitragen, die Erhebung von Zusatzbeiträgen zu vermeiden und die Gesamtkosten pro Versicherten zu reduzieren. Sie können ferner als Wettbewerbsinstrument eingesetzt werden.“

Zum 30. Juni 2020 waren Laut BAS in Deutschland 4.384.702 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und 239.117 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 in ein DMP eingeschrieben.

Geldflüsse aus dem Gesundheitsfonds nach dem Risikostrukturausgleich (RSA): ein Blick zurück

Im Gesundheitspolitischen Konsens von Lahnstein wurde 1992 mit dem Gesundheitsstrukturgesetz der Grundstein für mehr Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenkasse gelegt. Durch diesen politisch induzierten Wettbewerb unter den Gesetzlichen Krankenkassen kam es zu einer bedeutsamen Mitgliederwanderung zwischen den verschiedenen Krankenkassen: Versicherte mit einem geringen gesundheitlichen Risiko wanderten zu Krankenkassen mit einem niedrigen Beitragssatz (z.B. zur TK), Versicherte mit einem hohen gesundheitlichen Risiko blieben bei den so genannten Versorgerkassen, insbesondere den Allgemeinen Ortskrankenkassen.

Diese Mitgliederverschiebung hatte natürlich große Auswirkungen auf die Ausgaben und somit auch auf die Beitragssätze der einzelnen Krankenkassen: Kassen, die viele Mitglieder mit „guten“ Risiken hatten, konnten ihre Beiträge immer weiter absenken und Kassen, denen die Versicherten mit „schlechten“ Risiken erhalten blieben, mussten ihre Beiträge weiter erhöhen. Die Schere zwischen den Beiträgen der verschiedenen Kassen wurde immer größer. Diese Entwicklung hätte absehbar bei einigen Krankenkassen zu einem finanziellen Kollaps geführt.

Um diese finanziellen Verwerfungen, die ja durch den politisch gewünschten Wettbewerb verursacht worden sind. wieder auszugleichen, griff die Gesundheitspolitik erneut ein: 1994 wurde per Gesetz der RSA zwischen den gesetzlichen Krankenkassen eingeführt. Alle gesetzlichen Krankenkassen führen seither aus den Pflichtbeiträgen der Versicherten einen definierten Betrag in den Gesundheitsfonds ab. Das BAS führt nach festgelegten Regeln den morbiditätsorientierten RSA durch, wobei verschiedene Faktoren (z.B. Alter) berücksichtigt werden müssen, unter anderem auch das Vorliegen von bestimmten Erkrankungen wie z.B. Diabetes mellitus.

Da der Diabetes mellitus ohne und mit Komplikationen vorliegen kann und verschiedene Ausprägungen unterschiedliche Behandlungskosten verursachen, wurde diese Erkrankung (so wie alle anderen Erkrankungen auch) in unterschiedliche Hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG) eingeteilt. Für den Diabetes mellitus wurden die sechs HMG015 bis HMG020 definiert und ihnen vom BAS die in der Tabelle (Seite 37) dargestellten Ausgleichsbeträge jeweils zugeordnet.

Diese Summen wurden an die gesetzlichen Kostenträger für Patienten mit den HMG015 – HMG020 pro Jahr aus dem Gesundheitsfonds ausgezahlt, unabhängig davon, ob der Patient in einem DMP eingeschrieben war. Für Patienten, die in einem DMP eingeschrieben waren, erhielten die Krankenkassen zusätzlich die Programmkostenpauschale für Dokumentations- und Koordinationsleistungen. Sie betrug 2017 145,68 Euro und 2019 145,32 Euro je eingeschriebenen Versicherten.

Code Bezeichnung Bewertung 2017 in Euro Bewertung 2019 in Euro
HMG015 Diabetes mit multiplen Manifestationen oder Ketoazidose, Koma 1.582,00 € 1.508,52 €
HMG016 Diabetes mit Krankheitserscheinungen der Nieren, Nerven, der peripheren Gefäße oder anderen näher bezeichneten Komplikationen 1.011,92 € 945,74 €
HMG017 Diabetes mit Manifestationen am Auge oder anderen nicht näher bezeichneten Komplikationen 643,31 € 644,51 €
HMG018 Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1 unter 12 Jahre 5.719,26 € 6.566,22 €
HMG019 Diabetes ohne Komplikationen 377,15 € 362,78 €
HMG020 Insulintherapie 2.321,66 € 2.439,98 €

Der Geldfluss aus dem Gesundheitsfonds an die gesetzlichen Krankenkassen hängt somit neben anderen Faktoren auch von den jeweils für die Patienten dokumentierten Diagnosen ab.
Nach § 295 SGB V (Übermittlungspflichten und Abrechnung bei ärztlichen Leistungen) sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen verpflichtet,


„[...] in den Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen die von ihnen erbrachten Leistungen einschließlich des Tages [...], bei ärztlicher Behandlung mit Diagnosen [...] aufzuzeichnen und zu übermitteln. Die Diagnosen [...] sind nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung zu verschlüsseln.“

Laut DMP-Bericht 2019 der KV WL wurden 2019 insgesamt 430.830 Patienten in dem DMP Diabetes mellitus Typ 2 betreut; das war somit ein Anteil von etwa 76 bis 83 Prozent der mutmaßlich an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankten, gesetzlich krankenversicherten Patienten in WL. Die Betreuung dieser Patientengruppe erfolgt bei 88,8 Prozent in hausärztlichen Praxen. Bei 43,6 Prozent dieser Patienten wurden keine Folgeerkrankungen dokumentiert. Bei 24,3 Prozent wird eine Insulintherapie durchgeführt.

Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 werden nach den DMP-Vorgaben an Diabetespraxen zur zeitweisen Mitbetreuung überwiesen, wenn bestimmte Probleme (sind im DMP als „Schnittstellen“ definiert) vorliegen. Die Diabetespraxen erheben und dokumentieren die beim jeweiligen Patienten vorliegenden Diagnosen, um die aktuell existierende Morbidität auch umfassend abbilden zu können.

Dies liegt im Selbstverständnis der Diabetespraxen, da sie damit belegen können, dass sie ihrem Auftrag als 2. Behandlungsebene = Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und definierten Fragestellungen auch nachkommen. Eine ureigenste Aufgabe der Diabetespraxis ist – falls dies erforderlich ist – der Beginn mit einer Insulintherapie. Der Patient wird dafür in Einzelberatungen und in Gruppenschulungen umfassend angeleitet, um diese Therapie selbständig durchführen zu können.

Wie oben dargestellt, hat die umfassende Dokumentation der beim Patienten vorliegenden Diagnosen und der Beginn mit einer Insulintherapie (dokumentiert durch das Verordnen eines Insulinpräparates) erhebliche Auswirkungen auf den Geldfluss aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkasse des Versicherten.

Aufgaben der Krankenkassen im DMP-Prozess

Wie oben schon dargelegt hat der Gesetzgeber die gesetzlichen Krankenkassen zu den Trägern der DMP bestimmt. In einer Richtlinie des ­G-BA zur Zusammenführung der Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogramme nach § 137f Absatz 2 SGB V, die am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist, heißt es dazu:


„§ 2 Anforderungen an Qualitätssicherungsmaßnahmen“


„(4) Im Rahmen der Verträge zu den strukturierten Behandlungsprogrammen sind Maßnahmen vorzusehen, die eine Erreichung der vereinbarten Ziele unterstützen. Hierzu gehören insbesondere:
Maßnahmen mit Erinnerungs- und Rückmeldungsfunktionen für Versicherte und Leistungserbringer, strukturiertes Feedback auf der Basis der Dokumentationsdaten für Leistungserbringer mit der Möglichkeit einer regelmäßigen Selbstkontrolle, gegebenenfalls ergänzt durch gemeinsame Aufarbeitung in strukturierten Qualitätszirkeln sowie Maßnahmen zur Förderung einer aktiven Teilnahme und Eigeninitiative der Versicherten.“


„(5) Die Krankenkasse informiert Leistungserbringer und Versicherte über Ziele und Inhalte der strukturierten Behandlungsprogramme. Hierbei sind auch die vertraglich vereinbarten Versorgungsziele, Kooperations- und Überweisungsregeln, die zu Grunde gelegten Versorgungsaufträge und die geltenden Therapieempfehlungen transparent darzustellen.“


„(6) Im Rahmen der Verträge sind außerdem strukturierte Verfahren zur besonderen Beratung von Versicherten durch die Krankenkassen oder von ihnen beauftragten Dritten vorzusehen, deren Verlaufsdokumentation Hinweise auf mangelnde Unterstützung des strukturierten Behandlungsprozesses durch die Versicherten enthält.“

Aus dieser Richtlinie leitet sich meiner Ansicht nach für die gesetzlichen Krankenkassen, die ihren Versicherten eine Teilnahme an einem DMP anbieten, die Verpflichtung ab, sich aktiv an dem geregelten Ablauf dieser Programme zu beteiligen und Maßnahmen zu ergreifen, um einerseits Patienten dazu anzuhalten, sich in ein solches Programm einzuschreiben und andererseits dafür zu sorgen, dass Patienten, die aus welchen Gründen auch immer aus einem Programm herausgefallen sind, unter Beachtung der festgelegten Fristen wieder in das Programm eingeschrieben werden.


Mein Kommentar zur den von der TK initiierten Abrechnungsprüfungen

Die TK wirft den Diabetespraxen in WL Abrechnungsbetrug vor und verlangt eine Rückerstattung der schon geflossenen Vergütung für Leistungen, die in den Diabetespraxen mit der erforderlichen Qualität erbracht worden sind, mit der Begründung, dass die betreffenden Patienten nach Ansicht der TK zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht in einem DMP eingeschrieben gewesen wären. Wie oben dargelegt sind ein großer Anteil der Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 in WL in einem DMP eingeschrieben.

Wenn ein Patient zur zeitweisen Mitbetreuung in eine Diabetes-praxis überwiesen wird, dann kann davon ausgegangen werden, dass der Patient auch in einem DMP eingeschrieben ist. Alleine die Krankenkasse des Patienten weiß, ob er zum aktuellen Zeitpunkt in einem DMP eingeschrieben ist. Diese so wichtige Information könnte ohne Probleme sofort auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) des Patienten gespeichert werden.

Bei jedem Stammdatenabgleich könnte somit sofort überprüft werden, ob der Patient in einem DMP eingeschrieben ist. Einige wenige Krankenkassen haben diese Information inzwischen auf der eGK schon hinterlegt. Falls der Patient aus irgendeinem Grund noch nicht oder nicht mehr im DMP eingeschrieben ist, dann ist es die Pflicht der Krankenkasse sich darum zu kümmern.

Auch wenn der Patient nicht in einem DMP eingeschrieben sein sollte, entgeht der Krankenkasse durch die zeitweise Mitbetreuung des Patienten in einer Diabetespraxis allenfalls die Programmkostenpauschale. Wie oben ausführlich dargelegt, wird durch die umfassende Kodierung der beim Patienten vorliegenden Erkrankungen der Geldfluss aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkasse erheblich beeinflusst.

Insbesondere der Beginn einer Insulintherapie hat eine große Auswirkung: die zusätzlichen Mittel müssten für die qualifizierte Versorgung des Patienten genutzt werden. Diese Leistungen werden in der Diabetespraxis auch erbracht. Mit dem formalen Hinweis, dass der Patient zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht im DMP eingeschrieben gewesen wäre, will die TK die erbrachten, diabetologischen Leistung aber nicht bezahlen.

In der Anlage, die der Abrechnungsprüfung beigefügt ist, sind die Patienten aufgelistet, bei denen die TK ein Abrechnungsproblem unterstellt. Die TK geht ja davon aus, dass diese Patienten zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht oder nicht mehr in einem DMP eingeschrieben gewesen wären. Nach Maßgabe der oben zitierten G-BA Richtlinie hätte die TK als Träger der DMP Maßnahmen ergreifen müssen, um diese Patienten dahingehend zu beraten, sich neu bzw. erneut in das DMP einzuschreiben. Die TK hat meines Wissens bisher keinen Nachweis vorgelegt, dass sie diesem gesetzlichen Auftrag auch nachgekommen ist.

Wie oben dargelegt hat die TK von Beginn an die DMP abgelehnt. Meiner Ansicht nach sind dafür vor allem finanzielle Gründe verantwortlich. Durch den vom Gesetzgeber verordneten RSA wurde die TK wie auch andere Ersatzkassen zu „Nettozahlern“ im Gesundheitsfonds (sie haben über Jahre mehr einbezahlt, als sie zurückerstattet bekamen). Dies ist Folge der Versichertenklientel der betroffenen Kassen. Diese Situation darf aber nicht dazu führen, dass Diabetespraxen in WL (und auch in anderen Regionen) dafür jetzt finanziell zur Verantwortung gezogen werden sollen.

Der von der TK veröffentlichten Erkenntnis, dass das DMP Dia­betes mellitus Typ 2 bisher nicht ausreichend effektiv wäre, stehen Publikationen von anderen Krankenkassen gegenüber, die für ihre Versicherten mit DMP-Teilnahme sehr wohl Vorteile sehen. Nur die Krankenkassen selbst können die Daten von Patienten mit und ohne Einschreibung in einem DMP direkt miteinander vergleichen, denn nur sie verfügen über diese Daten.

Vor kurzem wurde unter dem Titel „Versorgungssituation und Mortalität von Patienten in Deutschland innerhalb und außerhalb des DMP Typ-2-Diabetes: eine kritische Analyse“ von Krankenkassen übergreifenden Daten publiziert. Die Autoren kommen dabei zu folgenden Ergebnissen:


„In dieser Arbeit werden Mortalitätsdaten von T2D-Patienten aus der Routineversorgung mit Mortalitätsdaten der Allgemeinbevölkerung und vonT2D-Patienten aus verschiedenen Studienkollektiven verglichen. Die Sterblichkeit der deutschen T2D-Patienten insgesamt ist etwa 3,1-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Sterblichkeit von deutschen T2D-Patienten innerhalb des DMP ist 2,4-fach höher. Inwieweit sich dieser Mortalitätsunterschied durch einen Selektionsbias oder durch die Teilnahme am DMP selbst erklären lässt, ist mit den verfügbaren Daten nicht eindeutig zu beantworten.“


„Zusammenfassend sprechen die hier vorgestellten Daten dafür, dass die Übersterblichkeit von T2D-Patienten in Deutschlanddurch eine adäquate Therapie des Diabetes und seiner bedeutenden Komorbiditäten deutlich gesenkt werden kann. Das DMP hat dazu sicher schon einen Beitrag geleistet, der vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse für die Zukunft erhebliches Verbesserungspotenzial aufweist.“

Ich frage mich, welche Intention bei der TK hinter dieser Maßnahme steht. Durch die mögliche Rückforderung von Vergütung für Leistungen, die in 16 Quartalen in den Diabetespraxen in WL mit der geforderten Qualität erbracht worden sind, können Praxen in eine erhebliche wirtschaftliche Schieflage mit allen Konsequenzen für die weitere Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus kommen.

Die Diabetespraxen werden zusammen mit dem BDSWL (Berufsverband der niedergelassenen Diabetologen in WL) und der KV WL alle denkbaren und möglichen Maßnahmen ergreifen, um diesen drohenden Regress abzuwehren. Dazu gehört natürlich auch die Kommunikation mit den Versicherten der TK über diese Angelegenheit. Will die TK dies wirklich?

Liebe Leserinnen, liebe Leser, geht es Ihnen in anderen KV-Bereichen genauso, wie hier von Dr. Martin Lederle geschildert? Bitte melden Sie sich bei uns! Wir werden diesen Artikel auch dem Vorstandsvorsitzenden der TK und dem Vorsitzenden des BVND zur Stellungnahme vorlegen.

Autor:
Dr. Martin Lederle
Chefredakteur Diabetes-Forum
Arzt für Innere Medizin, Diabetologie
MVZ Ahaus, Fachbereich Diabetologie
Wüllener Straße 101, 48683 Ahaus


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2021; 33 (5) Seite 32-40