Wenn Comicfiguren auf Lebensmittelpackungen auftauchen, ist die Zielgruppe klar: Kinder. Doch statt für gesunde Produkte werben Superhelden immer noch allzu oft für überzuckerte oder fettreiche „Leckereien“.

Kommt jetzt Bewegung in die Bemühungen um ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel?DieStaatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BEL) Silvia Bender hat am 12. August angekündigt, dass es bald einen Gesetzesentwurf dazu geben soll. Ihr Haus arbeite "mit Hochdruck daran, dass wir im Laufe dieses Jahres etwas vorlegen können", so die oberste Beamtin des Ministeriums.

Minderjährige essen 63 Prozent mehr freie Zucker als empfohlen

Dass Bender dieses Statement am 12. August machte, kam allerdings nicht ganz freiwillig. Es war die Reaktion auf eine Protestaktion von Foodwatch zum "Kinder-Überzuckerungstag". Diesen hat die Verbraucherorganisation just an dem Tag ausgerufen, an dem Kinder und Jugendliche in Deutschland rechnerisch bereits so viel Zucker konsumiert haben, wie sie laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) maximal im ganzen Jahr zu sich nehmen sollten. Denn Kinder und Jugendliche in Deutschland essen deutlich mehr Zucker, als von Fachorganisationen wie etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) empfohlen wird. Den Organisationen zufolge sollten Minderjährige maximal zehn Prozent der täglichen Kalorien durch freie Zucker aufnehmen. Tatsächlich aber nehmen Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 18 Jahren in Deutschland 16,3 Prozent ihrer Tagesenergie aus freien Zuckern auf – also 63 Prozent mehr als empfohlen. Umgerechnet erreichen die jungen Menschen damit schon am 224. Tag im Jahr, eben dem 12. August, ihr Zuckerlimit für ein ganzes Jahr. Konkret bedeutet das: Mädchen essen im Durchschnitt mehr als 60 Gramm freie Zucker pro Tag, obwohl sie maximal 38 Gramm zu sich nehmen sollten. Jungen essen im Schnitt mehr als 70 Gramm freie Zucker pro Tag, obwohl sie nicht mehr als 44 Gramm verzehren sollten.

Pausensnack immer noch auch süß

Eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag des Direktversicherers Cosmosdirekt in Deutschland hat ergeben, dass jedes fünfte Kind (21 Prozent) zwischen sechs und neun Jahren auch Süßigkeiten oder Kuchen als Pausensnack in der Schule dabeihat – trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen über gesunde Ernährung im Schulalter. In den meisten Fällen (91 Prozent) packen Eltern ihren Kindern jedoch belegte Pausenbrote oder Brötchen ein.

88 Prozent der Befragten geben ihren Kindern Obst mit. Gemüse finden 79 Prozent in ihrer Vesperdose, 42 Prozent dürfen Nüsse oder Müsliriegel snacken. 30 Prozent haben Joghurt oder Quark dabei und 14 Prozent Eier.

Wasser gewinnt klar
Bei den Getränken wird Wasser am häufigsten (90 Prozent) mitgegeben. Andere Getränke haben die Grundschüler deutlich seltener dabei: 20 Prozent der Eltern geben ihren Kindern Tee mit und 15 Prozent Saftschorle. Sieben Prozent der Schüler haben Saft oder Smoothies dabei, sechs Prozent nehmen Milch, Milchmischgetränke oder Kakao in die Schule mit. Und zwei Prozent der Eltern packen Limonade oder Eistee in den Schulranzen ihrer Kinder.

Für die bevölkerungsrepräsentative Umfrage "Taschengeld" des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des zu Generali gehörenden Direktversicherers Cosmosdirekt wurden im April und Mai 2022 in Deutschland 504 Eltern von Kindern zwischen sechs und neun Jahren befragt.

Die Fehlertoleranz der ermittelten Ergebnisse liegt bei ± 4 Prozentpunkte, so das Meinungsforschungsinstitut.

Protestaktion am Özdemir-Amtssitz

An dem symbolischen Tag hat Foodwatch mit einer Protestaktion vor dem Bundesernährungsministerium in Berlin den zuständigen Minister Cem Özdemir aufgefordert, Kinder vor sogenannter Junkfood-Werbung zu schützen. "Während Lebensmittelunternehmen saftige Profite einstreichen, sind die Folgen ungesunder Ernährung für Kinder und Jugendliche fatal: Übergewicht, Adipositas und im Erwachsenenalter Typ-2-Diabetes und Herzerkrankungen", kritisiert Saskia Reinbeck, bei Foodwatch für Kampagnen und Recherchen zuständig.

© foodwatch / Jörg Farys
Besuch von "Tony Tiger" vor dem Bundesernährungsministerium in Berlin.

Klare Regeln gegen Kindermarketing

Nicht zum ersten Mal prangert die Organisation das sogenannte Kindermarketing als Mitauslöser von Fehlernährung und Übergewicht schon bei den Kleinsten an: Die Lebensmittelindustrie werbe mit beliebten Social-Media-Influencern, Comic-Figuren und TV-Spots vor allem für ungesunde Zucker- und Fettbomben, prangert Foodwatch an. Die Folge sei, dass Kinder und Jugendliche viel zu viel Süßes essen – und viel zu wenig Obst und Gemüse. Mit der Protestaktion vor dem Bundesernährungsministerium in Berlin haben die Aktivisten ein Gesetz gefordert, das Werbung an Kinder nur noch für ausgewogene Lebensmittel erlaubt. Werbung für ungesunde Lebensmittel soll in TV und Internet grundsätzlich nur noch zwischen 23 und 6 Uhr gesendet werden dürfen. "Bundesernährungsminister Cem Özdemir muss seinen Versprechungen endlich Taten folgen lassen und die Zuckerflut stoppen: Speziell an Kinder gerichtetes Marketing für Junkfood muss verboten werden", unterstreicht Reinbeck.

Im Koalitionsvertrag angekündigt

In ihrem Koalitionsvertrag haben die Ampel-Parteien versprochen, die an Kinder gerichtete Werbung für Ungesundes beschränken zu wollen. Einen Gesetzentwurf hat die Bundesregierung jedoch bislang noch nicht eingebracht.

Am 10. August erinnerte das Bundesernährungsministerium selbst an den entsprechenden Passus im Koalitionsvertrag: "An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben." Die Länder hätten auf der 18. Verbraucherschutzministerkonferenz im Juni ihre Unterstützung des Koalitionsvorhabens zugesagt und den Bund im Rahmen seiner Regelungszuständigkeit um eine zügige gesetzliche Regulierung der an Kinder gerichteten Werbung für Lebensmittel gebeten, die nicht dem Nährstoffprofil-Modell des Regionalbüros für Europa der WHO entsprechen. Auch das schriftliche Statement auf der Internetseite des BMEL besagt, dass das Ministerium derzeit den Entwurf für eine gesetzliche Regelung vorbereite.

Als freie Zucker werden alle Zuckerarten bezeichnet, die zum Beispiel Lebensmittelhersteller ihren Produkten zusetzen, sowie der in Honig, Sirup, Fruchtsaftkonzentraten und Fruchtsäften natürlich enthaltene Zucker. Natürlicherweise in Früchten oder Milchprodukten vorkommender Zucker fällt nicht darunter.

Aktuell gelten etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen als übergewichtig und sechs Prozent sogar als adipös.

Grundlage für die Berechnung des "Kinder-Überzuckerungstags" sind Daten aus der Donald-Studie aus dem Jahr 2016, die das Ernährungsverhalten von mehr als 1.000 Kindern und Jugendlichen untersucht hat. Neuere Zahlen liefert lediglich die Studie "Eskimo II", allerdings mit Blick auf eine andere Altersgruppe (6 bis 17 Jahre). Laut dieser Studie liegt der Zuckeranteil an der täglichen Kalorienaufnahme sogar bei 20 Prozent. Dann wäre das Zuckerlimit sogar schon am 1. Juli erreicht gewesen – und der "Kinder-Überzuckerungstag" hätte entsprechend früher gelegen.

Vorschlag von DANK und Co. liegt bereits vor

Im Februar hat ein breites Bündnis an Organisationen bereits einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt, wie das Verbot für an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt denn aussehen sollte. Unterzeichnern waren der AOK-Bundesverband, die Verbraucherzentrale Bundesverband die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), der wiederum zahlreiche wissenschaftliche Fachgesellschaften angehören. Teilverbote greifen zu kurz, machte das Bündnis damals klar. Zu den Forderungen gehörte:

  • Nutzung des wissenschaftlich fundierten und international anerkannten Nährwertprofilmodells "WHO Europe Nutrient Profile Model", um die im Koalitionsvertrag als Ziel der Regelung genannte Produktgruppe "Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt"zu charakterisieren.
  • Erfassung möglichst aller Kanäle und Werbeformen des Kindermarketings, auch Social Media, In-Game- oder In-App-Advertising oder Eventmarketing.
  • Umfassende Definition der "an Kinder gerichteten" werblichen Umfelder, unter anderem durch ein Zeitfenster von 6:00 Uhr bis 23:00 Uhr bei TV-Werbung, Beschränkung von gewissen Werbeformen auf Lebensmittel, die dem genannten Nährwertprofil entsprechen, und eine Bannmeile für Außenwerbung zum Beispiel um Kitas und Schulen.
  • Sicherstellung eines effektiven, staatlichen Kontrollsystems mit adäquater Ausstattung und abschreckenden Bußgeldhöhen.
  • Methodisch solide Evaluierung der Wirksamkeit und Nachbesserung bei Maßnahmen, die sich als unzureichend erweisen

Soziale Medien mit Schlüsselrolle

In der im März 2021 veröffentlichten Studie "Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel in Internet und TV" der Universität Hamburg haben die Autoren das Gesamtausmaß der auf Kinder gerichteten Werbung für ungesunde Lebensmittel in den beiden wichtigsten Massenmedien in Deutschland untersucht. Zentrale Ergebnisse waren:

  • Ein mediennutzendes Kind im Alter von 3 bis 13 Jahren sieht in Deutschland durchschnittlich pro Tag 15,48 Lebensmittelwerbungen für ungesunde Produkte, 5,14 im Internet und 10,34 im TV.

  • Von der gesamten Lebensmittelwerbung, die Kinder im TV und im Internet rezipieren, betreffen 92 % ungesunde Produkte (Fernsehen 89 %, Internet 98 %).

  • Rund 70 % der von Kindern gesehenen Lebensmittelwerbespots im TV richten sich durch ihre Aufmachung oder das Umfeld der Ausstrahlung direkt an Kinder.

  • Die Werbefrequenz im Fernsehen nimmt zu. 2007 haben Kinder noch in einer durchschnittlichen Fernsehzeit von 152 Minuten 10,14 Spots gesehen. In der Erhebung im Zeitraum März 2019 bis Februar 2020 sahen sie fast dieselbe Zahl (10,34) in nur 120 Minuten, ein Anstieg der Werbeintensität im TV um 29 %.

  • Soziale Medien nehmen eine Schlüsselrolle im Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel ein: Im bei Kindern beliebtesten sozialen Medium Facebook erreichten Posts für ungesunde Lebensmittel bis zu 10,6 Milliarden mal pro Jahr die Zielgruppe.

  • Knapp 67 % des untersuchten bewerbenden Videocontents für ungesunde Lebensmittel auf YouTube erfolgten durch Influencer.

Die Studie wurde finanziell unter anderem durch die Deutsche Diabetes Gesellschaft, die Deutsche Adipositas Gesellschaft, den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und den AOK-Bundesverband gefördert.

Haltungskennzeichnung bereits angekündigt

Während eine Regelung gegen das Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel noch auf sich warten lässt, hat Bundesagrarminister Cem Özdemir bei einem anderen umstrittenen Thema bereits Anfang Juni seine Pläne vorgestellt: Schrittweise soll bald auf allen in Deutschland produzierten und verkauften Produkte angegeben werden müssen, unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten wurden. Doch der Entwurf des "Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes" erntete das, was wohl auch dem Gesetz gegen Kindermarketing droht: Viel Kritik.


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (9) Seite 6-8