Bundesernährungsminister Cem Özdemir holte sich auf der DDG-Herbsttagung in Leipzig Unterstützung für seinen langwierigen Kampf um Einschränkungen bei der Werbung für ungesunde Lebensmittel.

Sport-Metaphern sind in der Politik sehr beliebt. Bundesernährungsminister Cem Özdemir gab auf der DDG-Herbsttagung einen Klassiker aus diesem Rhetorik-Bereich zum Besten: "Lassen Sie uns gerne gemeinsam hart an dem Thema arbeiten, im Wissen darum, dass es kein Sprint ist, sondern wohl eher ein Marathon", appellierte der Grünen-Politiker auf dem Symposium "Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung: Wird Deutschland vom Schlusslicht zum Vorreiter?" an die Diabetologie. In seiner Rede auf der von der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) ausgerichteten Veranstaltung gab Özdemir mehr als einen Hinweis darauf, dass die Arbeit am "Gesetz zum Schutz von Kindern vor Werbung mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt" eher kein Wettlauf, sondern ein Ringen ist – mit klarer Tendenz zum Schlammcatchen.


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Bundesernährungsminister Cem Özdemir auf der DDG-Herbsttagung in Leipzig.

Dieses Ringen um ein Verbot von an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel findet auf mehreren Ebenen statt, wie man am Statement des Ministers auf der Herbsttagung klar erkennen konnte. Zum einen geht es gegen die Lobbyverbände, die von diesem Verbot betroffen wären, zum anderen geht es gegen politische Widerstände, auch und vor allem aus den Reihen der eigenen Koalitionspartner. Hier wünschte sich Özdemir ganz offen mehr Unterstützung durch die SPD. Denn bisher sei die öffentliche Debatte in der Ampel nur ein Zweikampf: "Die Partei, der ich angehöre, will, dass da etwas passiert. Dann gibt es eine andere Partei, die FDP, die sagt: ‚Das sehen wir alles ein bisschen kritisch.‘" Özdemirs Wunsch war hier klar mehr Teamplay: "Da ist doch noch eine dritte Partei, ich komme gerade nicht auf den Namen, sie stellt glaube ich sogar den Kanzler. Wie wäre es denn, wenn man die mal fragt: ‚Was ist denn eure Meinung dazu?‘ Und würdet ihr die mal äußern? Ihr könntet zur Abwechslung doch mal sagen: ‚Das steht auch in unserem Parteiprogramm drin. Wir haben das mit ausverhandelt in der Koalitionsvereinbarung.‘ Dann hätte ich eine ganz andere Verhandlungsmacht, dann wären wir einen großen Schritt weiter", erklärte er.

Als so einen großen Schritt hatten DANK und die dahinterstehenden Organisationen den ursprünglichen Referentenentwurf zum Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz (KLWG) gelobt, als dieser im Februar 2023 öffentlich wurde. Davor hatten dieselben Organisationen den Stillstand kritisiert, der aus ihrer Sicht bei dem Vorhaben zu beobachten war, nachdem die Ampel es Ende 2021 in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen und dafür schon viel Applaus erhalten hatte. Auf der Herbsttagung Mitte November berichtete Özdemir vom Stand des Gesetzgebungsverfahrens: Der Entwurf seines Ministeriums stecke noch in der Ressort-Abstimmung innerhalb der Bundesregierung. "Manch einem dauert es zu lang. Dem Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft dauert es auch zu lang", gestand Özdemir und forderte, schnell mit einem Ressort-abgestimmten Entwurf in die Länder- und Verbändeanhörung und ins parlamentarische Verfahren zu kommen. "Ich habe mich bereits bewegt", erinnerte der Minister an im Juli letztes Jahr bekannt gewordene Änderungen am Gesetzentwurf, zum Beispiel, was die Zeiten angeht, in denen Werbe-Einschränkungen gelten sollen. "Wir erwarten jetzt allerdings auch, dass sich andere bewegen", forderte der Minister. Klar sei aber, dass man in der jetzigen Regierungskonstellation ohne Kompromisse nicht zu einem Ergebnis komme. "Da will ich Ihnen an der Stelle auch nichts Falsches vormachen, das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Aber Kompromiss bedeutet auch nicht, dass man faktenfrei alles in einen Topf werfen kann", übte er Kritik am Stil, in dem die Diskussion mitunter geführt wird.

Wechselseitige Fakten-Checks

Schon im Frühjahr 2023 hatten sich DANK und die betroffenen Industrien nach Veröffentlichung des Gesetzentwurfs ein Duell der Fakten-Checks geliefert. Im November lieferten sich die Organisationen einen neuerlichen Schlagabtausch zu den aktuellen Argumenten. DANK kritisiert unter anderem die Aussage der Branchenverbände, das Kinderlebensmittel-Werbegesetz erfasse weiterhin schätzungsweise 70 Prozent aller Lebensmittel. Eine realistische Größenordnung liege bei etwa 40 bis 50 Prozent, nicht zuletzt weil das Ministerium nicht mehr das ursprüngliche WHO-Nährwertmodell zur Definition "ungesunder" Lebensmittel zugrunde lege, sondern eigene Grenzwerte für Kalorien, Zucker, Fett oder Salz.

Der Lebensmittelverband hat in einer Replik auf den DANK-Faktencheck die von DANK zum Abfedern finanzieller Folgen des Werbeverbots vorgeschlagene Änderungen an der Zusammensetzung der betroffenen Lebensmittel als "staatlich verordnete Rezepturvorgaben" kritisiert. Eine Reduzierung des Zuckers um 20 Prozent oder des Salzes um 30 Prozent sei technologisch nur mit viel Forschungs- und Entwicklungsaufwand und damit also finanziellen Mitteln möglich ist und funktioniere nur bei wenigen Produkten. Zudem habe eine solche Rezepturveränderung enorme Auswirkungen auf den Geschmack, die Textur, die Haltbarkeit und schließlich den Preis des Produkts. Und es sei nicht klar, wie diese Produkte dann von den Verbrauchern akzeptiert werden.

Dass die Lösung des ewig erscheinenden Konflikts um das Werbeverbot im Kompromiss liegen könnte, legt auch ein Bericht der Lebensmittelzeitung von Anfang Dezember nahe. Das Bundeskanzleramt habe sich in den Streit um das Gesetzesvorhaben eingeschaltet, Ende November habe dort auf der Suche nach einer Lösung ein Gespräch mit Verbandsvertretern stattgefunden. Laut eines Gesprächsvermerks will das Kanzleramt das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag "nicht fallen lassen" und noch in dieser Legislaturperiode umsetzen. Einerseits kann man in dieser Rückendeckung aus dem Bundeskanzleramt das von Özdemir auf der Herbsttagung gewünschte Engagement der SPD sehen. Allerdings gilt diese Rückendeckung nicht uneingeschränkt, die geplanten Verbote würden in der Regierungszentrale als zu weitgehend gelten, berichtet die Quelle. Die Beamten des Bundeskanzleramts würden anregen, den Passus Paragraf 4 Absatz 2 aus dem Gesetzentwurf zu streichen, der die Regelung auf Werbung ausweitet, die sich nach zeitlichem, inhaltlichem oder räumlichem Kontext an Kinder richtet. Das Blatt zitiert dazu auch Stellungnahmen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) und des Lebensmittelverbands Deutschland, wonach diesen Kritikern der Kompromissvorschlag keineswegs ausreicht. Auch in der Regierung scheint die Konsenssuche weiter schwierig zu sein: Ein bereits terminiertes Gespräch auf Ministerebene, um den Koalitionsstreit beizulegen, ist nach Informationen der Lebensmittelzeitung jüngst kurzfristig vom FDP-geführten Digitalministerium abgesagt worden.

Weil das ernste Spiel um die Kindergesundheit also noch offen ist, warb der Minister auf der Herbsttagung klar um die anhaltende Unterstützung der im Raum anwesenden Akteure im Gesundheitswesen: "Bringen Sie sich bitte weiterhin mit Ihrem geballten Wissen, mit Ihrer großen Glaubwürdigkeit in die Debatte ein!"

Plädoyer für Regulierung

Özdemir verteidigte in Leipzig das Gesetzesvorhaben auch grundsätzlich gegen Kritik. Rund 15 Prozent der Drei- bis Siebzehnjährigen in Deutschland, das sind knapp zwei Millionen Kinder und Jugendliche, sind laut Özdemir übergewichtig, darunter knapp sechs Prozent adipös. Und Übergewicht, das man im Kindesalter erwirbt, bleibt, bei Adipositas mit bis zu 80 Prozent, ein Leben lang bestehen. "Da kann mir dann niemand mehr sagen, dass das den Staat nichts angeht. Wenn das den Staat nichts angeht, dann frage ich mich wofür es einen Staat gibt." Dass neben den primär verantwortlichen Eltern auch der Staat für Kindeserziehung zuständig ist, sehe man schon an der Schulpflicht. "Oder wollen wir die jetzt auch diskutieren?", fragte er rhetorisch.

Özdemir argumentierte in seiner Rede auch mit der gesundheitspolitisch erwünschten Möglichkeit für die Industrie, gesündere Lebensmittel anzubieten. "Der eine oder andere Verband verkauft seine eigenen Unternehmen auch unter Wert, wenn er sich so faktenbasiert darstellt. Unsere deutsche Wirtschaft kann das besser!" Er habe auf der Kölner Nahrungsmittel-Leitmesse Anuga erlebt, wie viele Unternehmen neue Wege gehen, "indem sie hochinnovativ sind, auf weniger Zucker, Fett, Salz setzen. Die können das! Wenn sie wollen, und manchmal auch wenn sie müssen", verdeutlichte der Minister und ergänzte, dass für solche zucker-, fett- und salzärmeren Produkte dann auch wieder Werbung möglich wäre.

Wichtiger Baustein

Der Minister skizzierte vor den Experten in Leipzig auch die Rolle des geplanten Werbeverbots im Gesamtkontext: "Wir sind uns sicher einig: Ein Gesetz alleine macht noch keine gesunde Ernährung. Es ist aber ein wichtiger Baustein von einer Vielzahl von Maßnahmen, die wir als Gesellschaft angehen müssen." Özdemir verwies dazu auf den von ihm vorgelegten Entwurf einer Ernährungsstrategie der Bundesregierung, der Mitte Januar auch verabschiedet worden ist (siehe Kasten). Und auch auf Schulsport, der wirklich stattfindet, ein gutes warmes Essen in Kita und Schule "darf in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt nicht am Geld scheitern", forderte er. Als "kleiner Werbeblock des Landwirtschaftsministers" folgte der Wunsch, diese Mahlzeiten am besten direkt vor Ort mit saisonalen, regionalen und mehr Bio-Zutaten zuzubereiten. Darüber hinaus plädierte Özdemir für zeitgemäße Bildungsangebote, die vermitteln wie gutes, gesundes und nachhaltiges Essen aussieht. "Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen! Nur so kommen wir voran", wendete der Minister sich gegen das Ausspielen der Maßnahmen gegeneinander.

Kabinett beschließt Ernährungsstrategie

Am 17. Januar hat das Bundeskabinett die Ernährungsstrategie der Bundesregierung beschlossen. Sie trägt den Titel "Gutes Essen für Deutschland" und wurde federführend vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erarbeitet. Die Stategie bündelt rund 90 geplante und bestehende ernährungspolitische Maßnahmen. Formuliert sind darin sechs Ziele:

  • Verbesserung der Gemeinschaftsverpflegung
  • Reduzierung der Lebensmittelverschwendung
  • Stärkung einer pflanzenbetonten Ernährung
  • Sozial gerechter Zugang zu gesunder und nachhaltiger Ernährung
  • Unterstützung einer angemessenen Nährstoff- und Energieversorgung und Bewegung
  • Erhöhung des Angebots nachhaltig und ökologisch produzierter Lebensmittel

Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes Dr. Carola Reimann attestierte der Ernährungsstrategie gute Ansätze, sie bleibe aber zu schwammig. "Ob die Ernährungswende mit den beschriebenen Aktivitäten erreicht werden kann, ist fraglich", kommentierte sie und kritisierte: "Teilweise bleibt das Strategie-Papier hinter den Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung und des wissenschaftlichen Beirats am Bundesernährungsministeriums zurück – zum Beispiel bei der Bürgerrats-Forderung nach Subventionen für Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte und der Weiterentwicklung der Kennzeichnungsregeln. Die Bundesregierung sollte diese Empfehlungen aufgreifen und die Ernährungsstrategie auf dieser Basis weiterentwickeln."

Auch Barbara Bitzer, DANK-Sprecherin und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), lobte einerseits die "wegweisende Handlungsoptionen", wie das wichtige Ziel gutes Essen für alle Menschen in Deutschland möglich zu machen erreicht werden kann. Den alarmierenden Zahlen zu ernährungsbedingten Erkrankungen werde mit der Ernährungsstrategie endlich gegengesteuert. "Dennoch hält sich unsere Euphorie in Grenzen, denn steuerliche beziehungsweise fiskalische Instrumente, beispielsweise die Streichung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse oder die Einführung einer Herstellerabgabe auf stark gesüßte Getränke, sucht man in der Strategie vergeblich", kritisierte sie und machte klar: "Eine Ernährungsstrategie ohne fiskalische Instrumente greift zu kurz!"

Anlässlich der Verabschiedung der Ernährungsstrategie forderte Bitzer auch, die geplanten Regelungen zum Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung endlich umzusetzen und sich dabei an einer umfassenden Uhrzeitenregelung zu orientieren. "Andernfalls bleibt die Ernährungspolitik des Bundes eine Politik für die Interessen von Unternehmen und nicht für die Kindergesundheit. Das wäre eine verpasste Chance", mahnte Bitzer.

Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, eine Ernährungsstrategie insbesondere mit Blick auf Kinder und Jugendliche zu beschließen. Eckpunkte dazu hatte das Kabinett im Dezember 2022 verabschiedet. Die Erarbeitung der Ernährungsstrategie war als partizipativer, transparenter und – im Rahmen der Vorgaben aus dem aktuellen Koalitionsvertrag – ergebnisoffener Prozess angelegt.

Der Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands, Christoph Minhoff, beschrieb in seinem Kommentar die Position des Verbands: "Wir haben uns deshalb während des Prozesses zur Erarbeitung einer Ernährungsstrategie stets dafür eingesetzt, dass weder einzelne Lebensmittel noch damit verbundene Lebenswirklichkeiten diskreditiert werden." Minhoff warnte vor hohem bürokratischem Aufwand, unter Umständen ohne Effekt auf die Nachfrage der Verbraucher, und forderte: "Die Ernährungsstrategie muss sich am Ende des Tages an ihrer Praktikabilität, Realisierbarkeit und Finanzierbarkeit messen lassen."


Autor:
© privat
Marcus Sefrin
Redaktion MedTriX GmbH
Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (1/2) Seite 6-8