Lange hat es gedauert. Im Januar 2025 hat eine internationale Expertenkommission der anerkannten Zeitschrift Lancet eine praxisorientierte Leitlinie veröffentlicht, um die Behandlung der Adipositas besser steuern zu können (Rubino, Lancet Diab Endo, 2025). Diese wird von der Deutschen Adipositas Gesellschaft ausdrücklich unterstützt. In Zusammenarbeit mit unseren Patienten können wir unsere Strategie nun besser erklären und die Ressourcen des Gesundheitssystems besser einsetzen. Was ist neu daran?

Zunächst wird der Begriff Übergewicht verlassen und zwischen präklinischer und klinischer Adipositas unterschieden. Letztere kennzeichnet Menschen, die bereits Organschäden durch das Übergewicht erlitten haben und einer dringlicheren Behandlung bedürfen. Präklinische Adipositas andererseits kennzeichnet aktuell gesunde Menschen mit einem hohen Risiko einer zukünftigen klinischen Verschlechterung. Diese Grenze hilft bei der Indikation zur Verordnung kostenintensiver Maßnahmen. In gewisser Weise ähnelt diese Definition dem Begriff von Diabetes mellitus mit und ohne Organkomplikationen.

Neu ist auch die Abkehr vom Body-Mass-Index (BMI) als heiligem Gral der Adiposologie. Vielmehr wird er zu einem Screeninginstrument herabgestuft (Grenzwert 25), während die Diagnose durch ergänzende Methoden wie etwa der Messung des Bauchumfangs oder der Bioimpedanz bestätigt werden muss. Jeder kann sich dabei das für seine Praxis einfachste Mittel aussuchen. Wir alle kennen Menschen mit hohem BMI, beispielsweise mit Lip- oder Lymphödem, die metabolisch komplett gesund sind und deren komplexe Behandlung anderer Schwerpunkte bedarf. Andererseits hat das Fettgewebe im Bauchraum wichtige metabolische Effekte, die einer alleinigen BMI-Messung oft entgehen.

Welche Bedeutung hat diese neue Einteilung für unsere Patienten? Die Behandlung gesunder Menschen mit präklinischer Adipositas mit Inkretinen birgt auch Risiken, die in der allgemeinen Euphorie untergehen. Die Muskelmasse des Skeletts und des Herzen nehmen parallel zur Fettmasse eindeutig ab, ähnlich wie bei der bariatrischen Chirurgie. Insbesondere bei unkontrollierter, schneller Gewichtsabnahme berichten Patienten von zunehmender Muskelschwäche. Oft besteht schon vor dem Gewichtsverlust ein Mangel an Skelettmuskulatur (sarkopene Adipositas). Die möglichen Auswirkungen auf den Knochen- und Vitaminstoffwechsel sind noch nicht ausreichend untersucht. Häufig berichten Patienten über gastrointestinale Beschwerden, bei wöchentlicher Gabe besonders oft innerhalb der ersten 24 h.

Die Betroffenen haben intuitiv ihre eigene Methode entwickelt um mit den Nebenwirkungen besser umzugehen: das "Microdosing". Viele dosieren die "Wunderspritzen" nicht mehr nach unseren Dosierempfehlungen, die wir brav dem Beipackzettel und den nicht enden wollenden Broschüren der Pharmavertreter entnommen haben, sondern nutzen die "clicks" der Pens zur Steuerung von Wirkung und Nebenwirkung. Wie es auch Menschen mit starken Sehstörungen oft mit Ihren Insulinpens seit Jahren machen. Einige füllen das flüssige Gold sogar aus Einmalpens in sterile Ampullen aus dem Versandhandel, um es dann individuell mit Spritzen aufzuziehen. Das kann auch schon mal 2-3 mal pro Woche sein. Das Internet ist voll von Anleitungen von Ärzten und stolzen Anwendern die ihre Methode dokumentieren. Zunächst hielt ich das nur für eine Randerscheinung, mittlerweile beraten sogar Apotheken durch Ausgabe von Dosierlisten. Diese Listen basieren auf der Tatsache dass die verwendeten Pens je nach Hersteller eine fixe Anzahl von "clicks" haben, bis die empfohlene Dosis am Ende des Drehvorgangs erreicht wird. So durchläuft man beispielsweise 72 "clicks", bis man beim 1-mg-Pen des Marktführers die volle Dosis erreicht. So kann quasi jedwede "Microdosis" gewählt und in variablen Intervallen abgegeben werden. Dadurch steuern Patienten einer zu raschen Gewichtsabnahme oder zu starken Nebenwirkungen entgegen. Einige bleiben auch bei sehr niedrigen Dosen, da der Effekt sie bereits zufrieden stellt. Entstanden ist die Idee aus der Not vieler Betroffener heraus die teure Medikation selbst finanzieren zu müssen. Dagegen steht lediglich die begrenzte Haltbarkeit der Produkte.

Ich bin immer wieder fasziniert vom Erfindungsreichtum und intuitiven Vorgehen vieler Menschen im Umgang mit schwierigen Situationen. Es ist gut darüber Bescheid zu wissen. Weniger ist manchmal wirklich mehr.


Autor:
© privat
Dr. Bernd Liesenfeld
Chefredakteur


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (2) Seite 5