Therapie- und Versorgungslandschaften brauchen Einheitlichkeit. Insbesondere bei der Software, fordert Diabetes-Forum-Chefredakteur Bernd Liesenfeld.

Der Kampf gegen den Kabelsalat der Glukosemesser hat eine lange Geschichte, ähnlich der des Kabelsalats der Mobiltelefone. Jeder von uns hat wahrscheinlich eine kleine Sammlung verschiedener Modelle an Telefonladekabeln zu Hause. Jährlich sind das allein in der EU 1000 Tonnen Elektroschrott. 2009 drängte die EU Hersteller ihre Stecker zu vereinheitlichen, um die Nerven der Nutzer und Ressourcen des Planeten zu schonen. Immerhin wurde die Anzahl der möglichen Varianten von 30 auf drei heruntergefahren, aber einige Firmen verweigern sich bis heute der Standardisierung.

Vor vielen Jahren zu Beginn meiner Praxistätigkeit quoll mein Schreibtisch über mit verschiedenen Verbindungskabeln für Glukosemessgeräte. Zeitweise türmten sich auch Umschaltboxen darauf, um nicht jedes Mal für ein anderes Kabel unter den Tisch kriechen zu müssen. Das erste CGMS 1999 hatte zu allem Überfluss eine geräumige Schale zum Auslesen was meinen Platzmangel akut ins Chaos führte. Natürlich hatte jeder Hersteller auch noch eine eigene Software zum Auslesen der Geräte zur Hand.
Die Hersteller begründeten diese chaotische Mannigfaltigkeit eigener Hard- und Softwareprodukte damit, jeweils einzigartige und zeitsparende Auswertungen aller Daten zu ermöglichen. Für die Hersteller sind diese Produkte jedoch nur Marketing Instrumente, um die diabetologisch interessierten Praxen mit hohem Rezeptaufkommen für spezifische Hilfsmittel an ihre Teststreifen, Sensoren und Pumpen zu binden. So gibt es immer noch Hersteller die sich mit kryptischen Datenformaten, inkompatibler Hardware oder fortgesetzten Lizenzstreitigkeiten einer einheitlichen Lösung verschließen. Immer ist mindestens eine Pumpe von Firma A, ein Sensor von Hersteller B oder ein Blutzuckermessgerät von C gerade nicht mit der angebotenen Software kompatibel. Dies schadet erheblich der Entwicklung innovativer Therapie- und Versorgungslandschaften, die heute unter den Begriffen „Digitalisierung“ oder „smarte Ökosysteme“ zusammengefasst werden.

Immer neue digitalisierte Hilfsmittel wie Insulin Pens, Blutdruckmesser oder Schrittzähler drängen mit unkontrollierten Standards auf den Markt und erschweren ohne Not die Anwendung dieser begrüßenswerten Neuerungen. Parallel dazu versuchen neue, bislang unbekannte Dienstleister, eigene Cloud-Lösungen mit „umfassenden“ und kostenpflichtigen Angeboten zur Datenintegration und unübersichtlichen therapeutischen Gadgets (Coaching) auf dem Markt zu platzieren.

Allein der Nutzen für Patienten und Behandler sollte die Messlatte für die Hersteller von Hard- und Software des Ökosystems Diabetes sein, nicht die Vorgaben der Marketingabteilungen. Die Konnektivität dieser Geräte muss standardisiert werden, sowohl bezüglich der auszutauschenden Datenformate wie der Übertragungswege. Notwendig ist auch die Regelung des sicheren Zugriffs in zentralen oder dezentralen Plattformen mit offenem Zugang für alle Akteure des Versorgungsprozesses, vom spezialisierten Facharzt bis zur Pflegekraft der häuslichen Versorgung. Die Kosten können, wie bislang noch üblich, nicht allein den Praxen und Gesundheitsdienstleitern aufgebürdet werden, sondern sind als Teil der Verkaufskosten der Produkte als gesetzliche Anforderung zu kalkulieren.

Die Anzahl der Stecker und Boxen auf meinem Schreibtisch haben sich nach dreißig Jahren zwar deutlich reduziert, nicht aber die Barrieren der Standardisierung. Der EU Kommission platzte bei den Telefonkabeln 2018 der Kragen. Eine gesetzliche Regelung zur Verordnung eines Fortschritts, gegen den Willen bestimmter Hersteller, trotz aller Unkenrufe der Lobbyisten, wurde nun auf den Weg gebracht. Dieser Tage verabschiedete das EU Parlament ein Gesetz, welches ab 2024 nur noch einen einzigen Stecker (USB-C) für Mobiltelefone, Tablets, Kameras und etliche weitere elektronische Peripheriegeräte festlegt. Die Zustimmung der Länder gilt als Formsache. Danke dafür.

Wieso ist so etwas für Datenstandards und Übertragungswege medizinischer Produkte im Bereich der Diabetologie nicht möglich? In der IT Branche gibt es den Begriff des Vorwärtsscheitern. Danach birgt eine Weiterentwicklung immer die Gefahr des Scheiterns, aber zumindest auch die Möglichkeit des Lernens, bestenfalls sogar einen Fortschritt. Vorausgesetzt man unternimmt den Versuch.

Das 2021 begonnene Gaia-X Projekt der EU will ein offenes, sicheres Ökosystem der Daten in Europa schaffen. Allgemeinverbindliche Standards bilden hier die Grundlage für Anbieter und Nutzer. Gaia war die erste aus dem Chaos entstandene Gottheit der griechischen Mythologie. Ich hoffe sie bringt Licht ins Dunkel des diabetologischen Datendschungels.


Autor:
Dr. Bernd Liesenfeld
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie, Diabetologie, Angiologie
Oberarzt
Abteilung Innere Medizin II


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (12) Seite 05