Adipositas und Diabetes sind eng verbunden, aber nicht identisch und dürfen nicht unkritisch in einen Therapietopf geworfen werden.

Der internationale Schlüssel zur Klassifizierung von Erkrankungen (ICD) kannte im Jahr 2007 gerade einmal fünf verschiedene Formen von Adipositas (E66). Heute sind es in der aktuellen Version 43 verschiedene Formen. Auffallend ist dabei, dass der am häufigst verwendete Schlüssel eine „übermäßige Kalorienzufuhr“ als Auslöser dieser Stoffwechselstörung ausmacht und damit wohlbekannte Vorurteile Dritter zur Genese dieser chronischen Erkrankung zementieren. Erst die offizielle Anerkennung der Adipositas als chronische Erkrankung im Juli 2020 im Deutschen Bundestag und der Planungsbeginns eines DMP Adipositas zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im November 2020 durch das Bundesgesundheitsministerium ebneten den Weg aus der „Schmuddelecke“.

Menschen mit Adipositas berichten eindrücklich von der Scham, Übergewicht bei Ärzten und Freunden zu thematisieren. Die daraus resultierenden Vermeidungsstrategien für Arztkontakte und die dadurch entstehenden indirekten Konsequenzen, sind Isolation und Depression. Überraschend ist für mich die häufige Feststellung das kompetente Hilfe sehr schwierig zu erhalten ist und eben viele Vorurteile auf der Seite der Behandler, die Kommunikation erschweren. Gleichzeitig ist den Betroffenen der Zusammenhang mit gesundheitlichen Konsequenzen durchaus bewusst, welches ihr Dilemma weiter vertieft. Der Krankheitsdruck steigt somit kontinuierlich an und die oft vergeblichen Versuche selbständig Essverhalten und Bewegungsarmut in den Griff zu bekommen führen zu einem Teufelskreis, der die Ausgrenzung verstärkt.

Die WHO hat am 3.5.2022 den europäischen Adipositasbericht veröffentlicht. Fast 60% der Europäer sind übergewichtig. Tendenz steigend. Kein europäisches Land hat es bisher geschafft, diese stille Epidemie in den letzten Jahrzehnten zu stoppen. Besonders alarmierend ist der Trend bei Kindern und Jugendlichen. Hier sind bereits knapp 30 % betroffen. Gründe liegen u.a. in der ungenügenden Bildung der Bevölkerung in Sachen Gesundheit („health literacy“). Die Stigmatisierung Übergewichtiger durch Therapeuten oder Familie, sowie die Verinnerlichung des Stigmas durch die Betroffenen selbst ist enorm.

Die moderne Diabetologie hat gerade unter dem Eindruck der DIRECT-Studie einen Feldzug gegen das Übergewicht gestartet und die Gewichtskontrolle als zentrales Therapieziel auserkoren. „15 % weniger Kilos“ ist der neue heilige Gral der Stoffwechseltherapie, um die gesteckten Ziele zu erreichen, welche mit dem traditionellen Schulungs- und Beratungsansatz bislang nicht zu schaffen waren. Die Erfolge der bariatrischen Chirurgie hinsichtlich der langfristigen Gewichtskontrolle, der Reduzierung von kardiovaskulären Erkrankungen, sowie der Vorbeugung von Tumorerkrankungen lassen aufhorchen. Schon hat die pharmazeutische Industrie mit den „Zwillingshormonen“ (twincretins), also den kombinierten GLP-1- und GIP-Agonisten, den Weg für eine ähnlich nachhaltige Gewichtsreduzierung mit moderatem Nebenwirkungsprofil geebnet. Dabei gerät leider immer wieder außer Acht, dass auch adipöse Menschen, aus unterschiedlichen Gründen, einen absoluten Insulinmangel haben oder entwickeln können, der statt einer anorektischen eine anabole Therapie mit Insulin erfordert. Die Erfolge von GLP-1-Agonisten in Studien adipöser Typ-1-Diabetikern sind dagegen sehr begrenzt und rechtfertigen einen breiten Einsatz in dieser Indikation eher nicht. Das Gewicht kann nicht alleiniges Ziel unserer Diabetestherapie sein.

Adipositas und Diabetes sind eng verbunden, aber nicht identisch und dürfen nicht unkritisch in einen Therapietopf geworfen werden. Leider haben die differenzierten Betrachtungen der unterschiedlichen metabolischen Ursachen und Konsequenzen, wenig Eingang in die hausärztliche Praxis gefunden. Nur so ist die Schwierigkeit der Betroffenen zu erklären, für ein so häufiges Krankheitsbild einen „Adiposologen“ zu finden. Mehr noch als in der Diabetologie, ist in diesem Fall eine strukturierte, lebenslange Begleitung notwendig. Zu hoffen bleibt, dass ein Diabetes Management Programm Adipositas hier in naher Zukunft Abhilfe schaffen wird. Die diabetologischen Schwerpunktpraxen und -kliniken werden diesbezüglich eine, im wahrsten Sinne des Wortes, „gewichtige“ Rolle spielen.


Autor:
Dr. Bernd Liesenfeld
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie, Diabetologie, Angiologie
Oberarzt
Abteilung Innere Medizin II


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (11) Seite 05