25 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt sich ein gesundheitliches Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland. Die höhere Arbeitslosigkeit und das geringere Einkommen in den neuen Bundesländern führen laut aktuellen Studien zu einem höheren Risiko, dort an Diabetes zu erkranken.

Präventionsmaßnahmen sollten deshalb über die Aufklärungsarbeit hinausgehen, so die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE. Die Organisationen fordern u.a. eine Nationale Diabetesstrategie.

Während in westlichen Bundesländern die Prävalenz von Diabetes Typ 1 und Typ 2 zwischen 4,3 und 8,5 % beträgt, haben 9,5 bis 13,5 % der Bevölkerung in Ostdeutschland Diabetes, wie der bundesweite Diabetesatlas der Barmer GEK und der Deutschen Diabetes-Hilfe zeigt. In Mecklenburg-Vorpommern z.B., einem der ärmsten Bundesländer mit einer Arbeitslosenquote von 9,6 %, wurde bei mehr als 13 % Diabetes diagnostiziert.

Im Gegensatz dazu sind besonders in den wohlhabenderen südlichen Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern nur etwas mehr als halb so viele Bundesbürger daran erkrankt.

Die bundesweit ungleiche Verteilung der Diabeteserkrankungen zeigt, dass die Verantwortlichkeit für Prävention, Therapie und Versorgung von Diabetes in der Politik gebündelt und koordiniert werden muss. "Deutschland ist in dieser Hinsicht immer noch geteilt", erklärt Prof. Dr. Baptist Gallwitz, Präsident der DDG.

Das sagen Experten aus Ost und West

Woher kommen die Unterschiede bei der Diabetes-Prävalenz zwischen Ost- und Westdeutschland? Wie sieht es bei der Versorgung aus? Was muss sich ändern? Dazu haben wir zwei Diabetes-Experten befragt. Lesen Sie im Folgenden die beiden Interviews mit Dr. Hans-Martin Reuter aus Jena sowie mit Dr. Jens Kröger aus Hamburg.

Auf Seite 2 finden Sie das Interview mit Dr. Reuter, auf Seite 3 das Gespräch mit Dr. Kröger.

Ostdeutschland

"Es gibt immer mehr Diabetiker und die Diabetesversorgung hat sich vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert", sagt Dr. Hans-Martin Reuter aus Jena. Der niedergelassene Diabetologe ist gesundheits- und berufspolitisch vielfältig aktiv.

Diabetes-Forum (DF): Wieso gibt es im Osten mehr Diabetiker als im Westen?
Dr. Hans-Martin Reuter:
Die Ursachen liegen im Bewegungs- und Ernährungsverhalten und in der demographischen Entwicklung. Im Osten gibt es eine Überalterung der Bevölkerung und viele Flächenländer, die eine vernünftige Versorgung erschweren. Von jeher war die Ernährung in Deutschland gehaltvoll, und die Menschen bewegen sich zu wenig. Eine verstärkte Aufklärung ist daher notwendig. Vor allem Ernährungsberatung sollte ein großes Thema sein – auch in der Ausbildung des mittleren medizinischen Personals und der Ärzte.

Wir erleben allerdings eine zunehmende Schulungsmüdigkeit der Bevölkerung. Über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und über die Kassen muss auf den klinischen Vorteil von Schulungen, besonders zur Ernährung, wesentlich mehr hingewiesen werden. Es muss Aufklärung, aber auch mehr Kontrollen bei der tatsächlichen Durchführung geben.

DF: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung: Wie sehen Sie die Diabetesversorgung heute?
Reuter:
Die Diabetesversorgung in der DDR war schon gut. Damals war das Augenmerk viel stärker auf den Diabetes gerichtet als heute. Dabei sind wir uns ja alle einig, dass es sich beim Diabetes um die Volkskrankheit Nummer 1 handelt. Die Erkrankungsrate hat in den letzten 25 Jahren zugenommen und die Therapie sich vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert. Zudem haben sich neue Schwerpunkte herausgebildet. Mit Zunahme der Erkrankung nimmt auch die Zahl der Komplikationen zu. Als schwerste Komplikation gilt das diabetische Fußsyndrom mit mehr als dem 10-fachen an Kosten im Vergleich zum Diabetiker ohne Komplikationen.

Wir brauchen hier eine klare Lösung für den diabetischen Fuß, können aber Fußzentren nicht einfach ausbauen, wenn die wirtschaftliche Grundlage dafür fehlt. Eine strukturierte Stufenversorgung für den Diabetes mit entsprechenden Schnittstellen hat der BVND bereits gemeinsam mit dem Deutschen Hausärzteverband entwickelt: die "Versorgungslandschaft Diabetes". Diese wird von den Kassen bislang aber nicht ausreichend gewertet.


»Wir brauchen ein bundesweites Stufenprogramm«
Dr. Hans-Martin Reuter, Jena


DF: Wie sieht es mit der Nationalen Diabetesstrategie aus? Und welche Initiativen gibt es dazu in Thüringen?
Reuter:
Es hat sich in den letzten 2 Jahren einiges bewegt – vor allem seit der Bundesratsinitiative zum Nationalen Diabetesplan. Wir haben es geschafft, dass es die Handlungsempfehlungen des Bundesrates an die Bundesregierung gibt. Wir müssen die Nationale Diabetesstrategie umsetzen, auch um langfristig die Kosten im Griff zu behalten. Die AOK in Thüringen startet jetzt z.B. eine Initiative zur Früherkennung des Diabetes – gemeinsam mit den Hausärzten und den Diabetologen. Wir sind hier auf einem guten Weg.

DF: Wie schätzen Sie die Zukunft der Diabetologie ein?
Reuter:
Wir brauchen bundesweit ein konsentiertes Stufenprogramm, das klarstellt: Was behandelt der Hausarzt, der Diabetologe, die Klinik oder die Reha-Klinik? Und wir benötigen ein vernünftiges Präventions- und Früherkennungssystem – wobei wir wieder bei der Nationalen Diabetesstrategie wären. Auch das wirtschaftliche Überleben der Diabetologen muss gesichert sein. Wir brauchen den Facharzt ,Diabetologie’.

Das sagen Experten aus Ost und West

Woher kommen die Unterschiede bei der Diabetes-Prävalenz zwischen Ost- und Westdeutschland? Wie sieht es bei der Versorgung aus? Was muss sich ändern? Dazu haben wir zwei Diabetes-Experten aus und West befragt. Lesen Sie im Folgenden die beiden Interviews mit Dr. Hans-Martin Reuter aus Jena sowie mit Dr. Jens Kröger aus Hamburg.

Auf Seite 3 finden Sie das Gespräch mit Dr. Kröger, auf Seite 1 die Übersicht.


Das Interview führte Angela Monecke.

Westdeutschland

Kurz vor dem Mauerfall nahm Dr. Jens Kröger aus Hamburg, Vorstandsmitglied von diabetesDE, am ersten Treffen von ost- und westdeutschen Diabetologen in Berlin teil – und war beeindruckt: "Die Diabeteszentren im Osten entsprachen den heutigen Schwerpunktpraxen."

Diabetes-Forum (DF): Wie ist es zu erklären, dass es im Westen deutlich weniger Diabetiker gibt als im Osten?
Dr. Jens Kröger:
Die Diabetes-Prävalenz liegt in Westdeutschland zwischen 4,3 und 8,5 %, im Osten zwischen 9,2 und 13,5 %. Mecklenburg-Vorpommern hat eine Arbeitslosenquote von 9,6 %, dort haben wir deutschlandweit zusammen mit z.B. Sachsen und Brandenburg die höchste Diabetes-Prävalenz. Bad Belzig führt mit 13,5 %, Hamburg-Blankenese, ein Stadtteil der Wohlhabenden, bildet das Schlusslicht mit 4,3 %. In Baden-Württemberg und in Bayern, wo die Bevölkerung auch relativ wohlhabend ist, hat nur etwa die Hälfte der Menschen Diabetes.

Das heißt: Diabetes hat mit dem sozialen Status und dem Einkommen zu tun. Menschen, die weniger Geld haben, kaufen sich häufig preiswertere Lebensmittel, die oft salz- und fettreicher sind, und können es sich nicht leisten, ins Fitness-Studio zu gehen. Nach dem Robert-Koch-Institut haben Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten zudem eine schlechtere Einschätzungsfähigkeit der eigenen Gesundheit.

DF: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung – was ist heute besser?
Kröger:
Die ersten Schwerpunktpraxen waren damals erst im Aufbau. Von den Diabetes-Ambulanzen im Osten war ich beeindruckt, deren Betreuungsstruktur entsprach der heutiger Schwerpunktpraxen. Bei der Blutzuckermessung haben wir z.B. deutliche Fortschritte gemacht. Neu hinzu kamen die Kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und das FGM-System. Wir werden bald den Closed-Loop haben. Wir sind auch einen großen Schritt weiter, was die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes angeht. Das ist anders als vor 25 Jahren.

Wir haben auch neue medikamentöse Therapieoptionen, gerade für den Typ 2. Beim Typ 1 können wir heute Pumpen einsetzen, und es gibt Insuline, die weniger Unterzuckerungen machen. Auch die Wertigkeit strukturierter Diabetes-Schulungen im Rahmen des Empowerments als Grundlage jeglicher Therapie hat sich verbessert. Das ist in Deutschland einzigartig.


»Diabetes hat mit sozialem Status und Einkommen zu tun«
Dr. Jens Kröger, Hamburg


DF: Wo muss man nachbessern?
Kröger:
Wir haben z.B. viel zu wenige Möglichkeiten, Menschen mit Diabetes psychologisch zu betreuen. Darüber hinaus brauchen wir eine bessere fachärztliche Betreuung auf dem Land Und wir müssen die öffentliche Aufklärung vorantreiben, insbesondere zum Typ 2 – gesellschaftlich als auch politisch.

Was gibt es Neues zur Nationalen Diabetesstrategie?
Kröger:
2014 wurde ja die Bundesrats-Initiative angestoßen, um den Diabetesplan bzw. die Diabetesstrategie bundesweit umzusetzen. Ich sehe gute Chancen, das Vorhaben auf den Weg zu bringen. Entscheidend für den Erfolg – ob Strategie oder Plan – ist die Umsetzung auf Länderebene – und zwar in allen Bereichen, die den Diabetes betreffen. Dafür sind wir weiter im politischen Gespräch.

Wie sehen Sie die Zukunft der Diabetologie?
Kröger:
Entscheidend für den Erfolg der Diabetologie ist, dass wir den Teamgedanken aller Behandler, unter der Prämisse, dass der Patient mit seinen Wünschen und Bedürfnissen bei der Bewältigung seiner chronischen Erkrankung im Mittelpunkt steht, fortführen und weiterentwickeln. Weiterhin müssen wir die Anerkennung der Diabetologie als Facharztdisziplin einfordern. Daran arbeiten wir.

Das sagen Experten aus Ost und West

Woher kommen die Unterschiede bei der Diabetes-Prävalenz zwischen Ost- und Westdeutschland? Wie sieht es bei der Versorgung aus? Was muss sich ändern? Dazu haben wir zwei Diabetes-Experten aus und West befragt. Lesen Sie im Folgenden die beiden Interviews mit Dr. Hans-Martin Reuter aus Jena sowie mit Dr. Jens Kröger aus Hamburg.

Auf Seite 2 finden Sie das Gespräch mit Dr. Reuter, auf Seite 1 die Übersicht.


Das Interview führte Angela Monecke.

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (11) Seite 6-9