Fast 95 Prozent aller stationären Behandlungen verlaufen ohne Zwischenfälle. Jeder 20. Todesfall im Krankenhaus ließe sich aber vermeiden. Das erklärt das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) und geht jetzt in die Offensive.

Druckgeschwüre, Fehldiagnosen, schwere Infektionen: Bei fünf bis zehn Prozent (ein bis zwei Mio. Patienten) pro Jahr treten "unerwünschte Ereignisse" auf. Bis zu 800.000 hätte man vermeiden können, inklusive der Todesfälle. Die Gründe für diese schockierenden Zahlen sind vielfältig.

Statt als Erfolgsfaktor wird Patientensicherheit als Kostentreiber gesehen, kritisieren das APS und der Verband der Ersatzkassen (vdek).Tiefere Einblicke in das Thema liefert das neue Weißbuch: Isolierte Maßnahmen allein reichen nicht aus, um die Patientensicherheit nachhaltig zu verbessern. Denn sie muss in alle Entscheidungen und Strukturen im Gesundheitssystem eingebunden sein.

"Weißbuch Patientensicherheit"
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS) und der Verband der Ersatzkassen (vdek) haben vor kurzem das "Weißbuch Patientensicherheit" in Berlin vorgestellt. Autor ist Prof. Dr. Matthias Schrappe von der Universität Köln. Die Organisationen fordern in dem Buch u. a. ein erweitertes Verständnis von Patientensicherheit, eine Patientensicherheitskultur in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens und eine aktive Einbindung der Patienten.

APS und vdek gehen zudem mit sieben konkreten Forderungen an die Öffentlichkeit und rufen zu einer Offensive für mehr Patientensicherheit auf. Denn darunter sei "mehr als die Vermeidung bestimmter Komplikationen" zu verstehen, betont Schrappe. "Sie muss auch als Eigenschaft von Teams, Organisationen und sogar des gesamten Gesundheitswesens verstanden werden." So wären bei 20 Mio. Krankenhausaufnahmen pro Jahr 20.000 Todesfälle vermeidbar.

Weitere Infos: www.aps-ev.de/aps-weissbuch

In den letzen Jahren habe sich hier schon viel getan, betonen APS und vdek. So gibt es etwa OP-Checklisten, die Aktion Saubere Hände, Fehlermeldesysteme und ein verpflichtendes Qualitätsmanagement in deutschen Krankenhäusern. Doch diese Maßnahmen reichten bei weitem nicht aus. "Nur wer anerkennt, dass Fehler passieren, dass Strukturen und Prozesse zu vermeidbaren Patientenschäden führen, kann Fehlerursachen finden und abstellen", sagt die APS-Vorsitzende Hedwig François-Kettner.

Die Einbindung von Patienten und Angehörigen steht für das Aktionsbündnis an erster Stelle. "Die Sicherheit der Patienten ist nicht nur unser erklärtes Ziel, es ist auch an der Zeit, die Patientenrolle mit Blick auf die Patientensicherheit neu zu definieren", erläutert sie. "Patienten und ihre Angehörigen müssen mit allen Mitteln in die Lage versetzt werden, zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen zu können."

Forderungskatalog mit sieben Punkten

Die beiden Organisationen haben nun sieben Forderungen entwickelt, um mit konkreten Schritten die heutige Situation in Sachen Sicherheit anzugehen. Handlungsbedarf bestehe vor allem bei der Hygiene und der Infektionsprävention, erklären das Aktionsbündnis und die Ersatzkassen. Eine bundeseinheitliche Hygiene-Richtlinie sei zum Beispiel längst überfällig.

Über 400.000 Patienten erkranken pro Jahr in Deutschland an einer Krankenhausinfektion, etwa 30.000 von ihnen an multiresistenten Erregern (MRE). Ein Drittel der Infektionen geht in erster Linie auf das Konto von Hygienemängeln – diese zum Teil lebensbedrohlichen Erkrankungen sind also grundsätzlich vermeidbar.

G-BA soll Hygiene-Richtlinie entwickeln

Zu einer Hygiene-Richtlinie mit verbindlichen Mindestanforderungen an die Struktur- und Prozessqualität müsse der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gesetzlich verpflichtet werden, betonen APS und vdek. Die Richtlinie soll das Gremium dann in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut (RKI) entwickeln.

Die Infektionsprävention für Patienten und Angehörige, vor allem eine bessere Erkennung von lebensbedrohlichen Blutstrominfektionen (Sepsis), soll hingegen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zu einem ihrer Schwerpunktthemen machen.

Eine weitere Forderung ist, Verantwortliche für Patientensicherheit in allen Organisationen des Gesundheitswesens einzusetzen. Auch die Teilnahme an Fehlermeldesystemen ("Critical Incident Reporting Systems", kurz: CIRS) müssten verpflichtend werden, mit denen man an Deutschlands Kliniken unerwünschte Ereignisse strukturiert erfassen und auswerten kann.

Nur so ließen sich Fehler, die sich wiederholen, vermeiden und Qualitätsprobleme aufdecken. Schon heute sind einrichtungsinterne Fehlermeldesysteme für alle Krankenhäuser Pflicht. Die Teilnahme an einrichtungsübergreifenden Systemen gehöre aber genauso dazu, so APS und vdek. Weniger als ein Drittel der Kliniken beteiligten sich allerdings bislang daran.

Register für alle

Ein Deutsches Implantateregister müsse zudem für alle Beteiligten verbindlich sein. Ein solches Register ist von der Politik geplant. Frühzeitige Erkenntnisse über Produktfehler könnten jedoch nur vollständig erfolgen, wenn man daran möglichst lückenlos teilnimmt.

Der Gesetzgeber müsse die Teilnahme an wichtigen Registern deshalb für alle verpflichtend regeln: für Hersteller, Kliniken und alle Kassen, inklusive der privaten Krankenversicherung (PKV). Sämtliche Hochrisikomedizinprodukte, wie Herzklappen, Herzschrittmacher oder bestimmte Hörprothesen (Cochlea-Implantate) sollten hier erfasst werden.

Auch in der Aus- und Weiterbildung müsse die Patientensicherheit als Thema etabliert werden. Einen Lernzielkatalog für alle Medizinberufe hat dazu das APS entwickelt. Für alle medizinisch und pflegerisch Tätigen müssten außerdem regelmäßige Fortbildungen vorgeschrieben werden.

Was kann der Patient tun?

Für mehr Sicherheit können aber auch die Patienten und deren Angehörige sorgen, denn sie kennen oft als Einzige den gesamten Behandlungsprozess. Patienten müssten außerdem über anstehende Behandlungen und mögliche Alternativen aufgeklärt werden.

Beim Erstkontakt mit einem niedergelassenen Arzt oder einer Versorgungseinrichtung, und auch im weiteren Verlauf, sollten Informationen über erfolgte Therapien und eingenommene Medikamente mit dem Patienten ausgetauscht werden: entweder im Gespräch oder anhand elektronischer Anamnesedaten. Auch hier müsse der G-BA ins Spiel kommen und entsprechende Richtlinien verabschieden.

Mehr ältere, multimorbide Patienten

Die Patientensicherheit werde in Deutschland nach wie vor fast nur aus der Perspektive der Einrichtungen diskutiert – und bezüglich operativer Akuterkrankungen, wie bei Komplikationen nach einer Hüft-OP, erklärt der Autor des Weißbuchs, Prof. Dr. Matthias Schrappe. Viel relevanter seien heute aber – mit Blick auf unsere alternde Gesellschaft – die Probleme in der Betreuung chronischer Mehrfacherkrankungen, vor allem auf regionaler Ebene.

"Patientensicherheit ist also nicht allein durch eine Zahl von Komplikationen zu beschreiben, sondern vielmehr durch die Fähigkeit von Einrichtungen in der Gesundheitsversorgung, sich in diesen komplexen Zusammenhängen mit Fehlern zu beschäftigen." Gemeint sind hier etwa verlorengegangene Laborbefunde, die in Folge zu unerwünschten Ereignissen führen können.

"Wenn man von 420.000 jährlich auftretenden Todesfällen im Krankenhaus ausgeht, bleibt festzuhalten, dass rund jeder 20. Todesfall im Krankenhaus durch Fehler im Behandlungsprozess verursacht wird", so Schrappe.

Mehrfachintervention zeigt Erfolg

Das Weißbuch verlangt daher nach praktischen Konsequenzen, wie eine komplexe Mehrfachintervention (Beispiel: die sog. Michigan-Keystone-Studie): Durch Maßnahmen wie Hygiene-Richtlinien, Team-Trainings und eine sichtbare Übernahme der Verantwortung durch die Führungsebene, ließ sich die Häufigkeit von Katheterinfektionen bei schwerkranken Intensivpatienten von 7 pro 1.000 Patiententage auf unter einen Fall in diesem Zeitraum senken. Diese Infektionsart ist übrigens eine der schwersten Komplikationen, die Patienten im Krankenhaus treffen können.

Patientensicherheit – neu definiert

Patientensicherheit werde bisher auch lediglich als die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse definiert, kritisiert die Ersatzkassengemeinschaft. Das Weißbuch schlägt hier – nach eingehender Analyse – eine neue Definition vor: Patientensicherheit sei "das aus der Perspektive der Patienten bestimmte Maß, in dem handelnde Personen, Berufsgruppen, Teams, Organisationen, Verbände und das Gesundheitssystem" u.a. die Eigenschaft mitbringen, "Sicherheit als erstrebenswertes Ziel zu erkennen und realistische Optionen zur Verbesserung umzusetzen".

In diesem komplexen Zusammenspiel aller Akteure im Gesundheitswesen müssten sich die Beteiligten fragen, ob die Diagnostik und Therapie dem einzelnen Patienten wirklich nützen. "Ist die Kniebehandlung oder die Bandscheiben-OP konkret notwendig? Hilft sie? Oder fügt sie nur keinen Schaden zu?", so Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des vdek. "Insbesondere der potentielle Schaden wird noch viel zu häufig vernachlässigt."

Das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) entwickelt derzeit Fragebögen für Patienten mit Herzkatheter bzw. Stent, Schizophrenie/Psychose und Nierenersatztherapie, die nach ihren Erfahrungen mit der Behandlung oder Untersuchung befragt werden – etwa, wie sie versorgt und ob sie gut informiert wurden. "Wir brauchen solche Fragebögen auch für weitere Erkrankungen und Behandlungen. Und sie müssen verbindlich eingesetzt werden", betont Elsner.

Jens Spahn: Chancen der Digitalisierung

Konkrete Chancen für die Patientensicherheit biete vor allem die Digitalisierung, so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der das Geleitwort zum Weißbuch geschrieben hat. So bald wie möglich solle deshalb die elektronische Patientenakte kommen – spätestens zum gesetzlich vorgeschriebenen Termin ab dem Jahr 2021.

"Der so dringend nötige Informationsaustausch zwischen verschiedenen Behandlern in Krankenhäusern oder Arztpraxen kann dadurch weitaus sicherer und schneller gelingen", erläutert der Minister. "Wir können Doppeluntersuchungen und Vielfachanamnesen vermeiden. Und es gibt mehr Sicherheit im Notfall oder in Bezug auf richtige Arzneimittelanwendung."



Autorin: Angela Monecke
Redaktion Diabetes-Forum, Kirchheim-Verlag
Kaiserstraße 41, 55116 Mainz
Tel.: 06131/96070-0, Fax: 06131/9607090

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2018; 30 (9) Seite 12-14