Die distal-symmetrische Polyneuropathie (DSPN) hat gravierende klinische Auswirkungen, dennoch bleibt sie in der Praxis häufig unerkannt und unbehandelt. Zu einem alarmierenden Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Nationalen Aufklärungsinitiative zur diabetischen Neuropathie (NAI), die im Journal of Diabetes Investigation publiziert wurde [1]: Selbst Patienten mit bekannter DSPN und Schmerzen erhalten oftmals keine oder eine unzureichende Therapie. Das Autoren-Team um Prof. Dan Ziegler, Stv. Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes Zentrums der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, appelliert, der Erkrankung in der Praxis mehr Aufmerksamkeit zu schenken: „Effektive Maßnahmen müssen implementiert werden, um diese Defizite zu korrigieren“.
Etwa jeder dritte Diabetes-Patient ist von einer DSPN betroffen. Die progrediente Nerven-schädigung ist zum einen mit Missempfindungen und teils quälenden Schmerzen in den Füßen verbunden, die die Lebensqualität erheblich einschränken. Zum anderen sind neuropathische Defizite, wie ein nachlassendes Berührungs-, Druck- oder Schmerzempfinden, Prädiktoren für die Entstehung neuropathischer Fußulzera. Potenziell lebensbedrohliche Fußkomplikationen und Amputationen können die Folge sein [1,2]. „Trotz dieser gravierenden klinischen Auswirkungen wird die Erkrankung in der Praxis unterschätzt“, beklagt Studienleiter Ziegler. In der 2018 publizierten PROTECT-Studie der Aufklärungsinitiative mit 1.850 Teil-nehmern zeigten sich bereits erhebliche Defizite bei der Diagnose der Erkrankung: 70% der Teilnehmer mit Typ-2-Diabetes und DSPN wussten nichts von ihrer Neuropathie [3].
Trotz verschlimmerter Symptome keine Therapie
Die damaligen Studienteilnehmer wurden nun in einer Follow-up-Studie erneut befragt, um Informationen über den weiteren Verlauf der Neuropathie und deren Behandlung zu erhalten. Die Auswertung der ausgefüllten Fragebögen von 122 bzw. 85 Teilnehmern mit und ohne Typ-2-Diabetes zeigt auch bei der Therapie der Erkrankung in der Praxis ein erhebliches Ver-besserungspotenzial auf: Bei etwa der Hälfte der Follow-up-Teilnehmer hatte sich nach 2,5 ± 0,7 Jahren die Intensität der Neuropathie-Symptome verschlimmert. Trotzdem hatte mehr als ein Drittel der Befragten mit neuropathischen Beschwerden keinerlei Pharmakotherapie da-gegen erhalten. Wurde therapiert, dann häufig mit ungeeigneten Wirkstoffen: 17% der Befragten berichteten, gegen ihre Neuropathie-Symptome Analgetika der WHO-Stufe 1 (Acetylsalicylsäure ausgenommen) zu erhalten, insbesondere nicht-steroidale entzündungshemmende Medikamente (NSAIDs), welche wegen mangelnder Wirksamkeit sowie renaler und kardiovaskulärer Langzeitrisiken nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen empfohlen werden. Hingegen wurden Medikamente mit geprüfter Wirksamkeit bei Neuropathien, wie Antidepressiva und pathogenetisch-orientierte Therapien, selten angewendet, so die Autoren.
Pathogenetische Therapie gegen Nervenschäden und Symptome
Die pathogenetisch begründete Therapie mit Substanzen wie Alpha-Liponsäure und Benfo-tiamin hat zum Ziel, in die Pathomechanismen der diabetischen Neuropathie einzugreifen und so neuropathische Defizite und Symptome langfristig zu reduzieren [4]. In mehreren Studien wurde gezeigt, dass eine Therapie mit dem Antioxidans Alpha-Liponsäure (600 mg/Tag) so-wohl neuropathische Symptome als auch Defizite verbessern kann (5). Trotzdem wurden von den Teilnehmern der aktuellen Studie nur 4 % mit dem gut verträglichen Wirkstoff behandelt. 13 % der Studienteilnehmer gaben an, den Wirkstoff Benfotiamin einzunehmen, eine Vitamin B1-Vorstufe mit höherer Bioverfügbarkeit. Ein Mangel an Vitamin B1 tritt bei Patienten mit Diabetes aufgrund einer erhöhten renalen Ausscheidung häufig auf und fördert Neuropathien sowie die Bildung toxischer Advanced Glycation Endproducts (AGEs) [6,7]. Eine Therapie mit Benfotiamin führte in einer Studie nach 6 Wochen zum Rückgang neuropathischer Symptome [8]. „Die Vorteile von Alpha-Liponsäure und Benfotiamin liegen in ihrem guten Sicherheitsprofil auch unter langfristiger Therapie“, so Ziegler.
Symptomatische Schmerztherapie – was ist zu beachten?
Eine zusätzliche symptomatische Therapie ist bei schmerzhafter Neuropathie indiziert, wenn die Lebensqualität der Patienten durch die Schmerzen beeinträchtigt ist. Geeignet sind bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie vor allem Antikonvulsiva, Antidepressiva (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Trizyklika) und langwirkende Opioide. Alternativ kann eine lokale Behandlung mit Capsaicin versucht werden [9]. Sorgfältig zu beachten sind bei der systemischen Therapie der diabetischen Neuropathie das hohe Risiko für dosisabhängige Nebenwirkungen, Arzneimittelinteraktionen und eventuell die Abhängigkeitsgefahr. Die medikamentöse Therapie kann durch nicht medikamentöse Maßnahmen wie Physiotherapie, Akupunktur, Elektrotherapie, Psychotherapie und natürlich eine optimalen Stoffwechseleinstellung unterstützt werden [10].
Quelle:
Nationale Aufklärungsinitiative zur diabetischen Neuropathie