Wir haben im Jahr 2020 in einer deutschsprachigen Zeitschrift einen Übersichtsartikel zum aktuellen Stand der Entwicklung von Systemen für eine automatische Insulin-Dosierung (AID) publiziert, die von Menschen mit Diabetes selbst gebaut werden (Do It Yourself, DIY [Heinemann 2020 (a)]. In diesem Artikel werden unter anderem die schwierigen rechtlichen Aspekte der Nutzung von DIY-AID-Systemen in Deutschland diskutiert. Um diese auch einem internationalen Publikum zugänglich zu machen, wurde der Artikel anschließend in einem englischsprachigen Fachjournal publiziert [Heinemann 2020 (b)]. Ein amerikanischer Psychologe hat dazu einen Brief veröffentlicht, in dem er einige unserer Positionen aus seiner Sicht als Betroffener mit Diabetes und Nutzer eines DIY-AID-Systems kritisiert [Hood 2020]. In unserer Antwort auf diesen Brief sind wir auf diese Kritik eingegangen. Da wir diese Diskussion auch als relevant für die deutsche Situation betrachten, stellen wir sie im Folgenden vor [Heinemann 2021].

Recht auf Insulin und eigene Entscheidung

Die Leitprinzipien des Kollegen für seine Arbeit mit Menschen mit Typ-1-Diabetes sind, dass a) jede Person ein Recht auf das lebensrettende Insulin hat und b) die Person selbst entscheiden soll, wie sie dieses Insulin verabreicht, z. B. auch mit einem DIY-AID-System. Dabei setzt der Kollege sich kritisch mit der Frage auseinander, welche Kriterien für die Anerkennung von Therapien gelten sollen und wer dafür verantwortlich zeichnen sollte. "First, the lens of the commentary is very much a traditional approach to diabetes care. That is, the options for administering insulin are restricted to what has been researched, approved, and recommended by device manufacturers, regulators, and care clinicians. It assumes that the potential risks far outweigh the potential benefits and that careful testing take place before the field moves forward. A very gradual ‘disruption’ versus what the DIY movement has done, which is a more forceful and accelerated disruption. As I see it, the very nature of the DIY movement is intended to fight this traditional, establishment point of view. Second, this top-down thinking often ignores the perspective of the person most affected by these decisions until the ‘top’ has made their decisions."

Abkürzungen
  • AID: automatische Insulin-Dosierung
  • DIY: Do It Yourself
  • FDA: Food and Drug Administration
  • IIT: intensivierte Insulintherapie
  • rtCGM: Real-Time-CGM (System zum kontinuierlichen Glukosemonitoring in Echtzeit)

Damit stellt der Autor infrage, ob und wie neue Therapieprinzipien in der Medizin überprüft und unter welchen Bedingungen sie erkrankten Menschen angeboten werden dürfen. Die DIY-AID-Bewegung (DIY Movement) setzt sich dabei das Ziel, bisherige Konzepte der Wirksamkeits- und Nutzenbewertung zu verlassen. Stattdessen sollen im Sinne eines "Bottom-up"-Ansatzes die Erfahrungen von Menschen mit Diabetes mehr gehört werden und handlungsleitend sein.

Recht auf verständliche und umfassende Information

Es besteht auch für uns kein Zweifel daran, dass jeder Mensch mit Diabetes wie unter a) beschrieben ein Recht auf Insulin hat. Leider trifft dies bei Weitem noch nicht auf alle Regionen weltweit zu [Patterson 2019]. Letztlich entscheidet auch jede Person mit Diabetes im Alltag unabhängig von der gewählten Therapieform, ob sie sich und wann wie viel Insulin verabreicht. Allerdings sehen wir es auch als Recht jeder Person mit Diabetes an, über den Einsatz des Insulins und weiterer zentraler Elemente der Diabetestherapie verständlich und umfassend informiert zu werden. Erst dann ist eine begründete Entscheidung aufgrund fundierter Kenntnisse im optimalen Fall gemeinsam mit dem behandelnden Diabetesteam möglich [Wiley 2014]. Diese Kenntnisse können in Schulungen erworben werden, z. B. zur Verwendung von Insulinpumpen, Systemen zum kontinuierlichen Glukosemonitoring in Echtzeit (Real-Time-CGM, rtCGM) oder zu aktuell zugelassenen Hybrid-AID-Systemen.

Wir sind klare Verfechter des Diabetes-Selbstmanagement-Ansatzes, sind wir doch schon seit Anfang der 1980er-Jahre durch Etablierung der intensivierten Insulintherapie (IIT) mit entsprechenden Schulungsprogrammen für Diabetesteams und Menschen mit Diabetes bundesweit aktiv. Die IIT wurde in Deutschland schon über eine Reihe von Jahren eingesetzt, bevor sie in vielen anderen Ländern, auch in den USA, zu einer etablierten Therapie wurde. Empowerment, wie es später von Bob Anderson und seinen Kollegen in den USA vertreten wurde [Anderson 1991, Hirsch 2002], ist auch heute noch der philosophische Ansatz, der in deutschen Diabetesteams nahezu ausnahmslos akzeptiert wird. Und seit mehr als einem Jahrzehnt beteiligen wir uns an (psychologischen) Studien zu AID-Systemen [Barnard 2015, Barnard 2017, Ziegler 2015].

Problematische (medizin-)rechtliche Situation

Unsere Übersichtsarbeit hatte zum Ziel, die problematische (medizin-)rechtliche Situation von Diabetesteams zu beleuchten, wenn diese zu DIY-AID-Systemen beraten. Dabei liegt unser Fokus auf einer größtmöglichen Sicherheit für die Nutzer von Diabetestechnologien, insbesondere dann, wenn die Sicherheit von nicht zugelassenen Medizinprodukten nur unzureichend evaluiert wurde:

  • Unserer Ansicht nach ist der Einsatz von DIY-AID bisher keine etablierte Therapieform für jeden Menschen mit Diabetes. Diese Einschränkung gilt auch für kommerzielle AID-Systeme. Nach unserem Verständnis verlangt der adäquate Einsatz von DIY-AID-Systemen ein umfassendes Verständnis der Diabetestherapie, eine gewisse Fokussierung auf die Technik, ein erfahrenes Diabetesteam im Hintergrund und ein bestimmtes Maß an täglicher Beschäftigung damit. Wenn dies gegeben ist, sind die Voraussetzungen gegeben, um eine informierte Entscheidung zur Nutzung von DIY-AID zu treffen. Die Qualität der Glukosekontrolle, die bei einer konsequenten Nutzung von DIY-AID-Systemen erreicht werden kann, ist beeindruckend.
  • Bedeutet dies jedoch, dass jeder Mensch mit Diabetes diese Technologie risikolos anwenden kann, ist es die "Heilung des Diabetes"? Zum jetzigen Zeitpunkt kann darauf keine sichere Antwort gegeben werden. Die möglichen Risiken und der mögliche Nutzen müssen aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht abgewogen werden, so, wie dies bei CGM-Systemen oder Insulinpumpen geschehen ist (allerdings noch nicht ausreichend für alle Aspekte). Wir fragen uns, wie viele Menschen mit Typ-1-Diabetes doch nur einen recht eingeschränkten Einblick in ihre Diabetestherapie haben, z. B. bedingt durch eine geringe Gesundheitskompetenz, eingeschränkte Rechenfähigkeiten, eingeschränkten Zugang zu Technologien, beeinträchtigte psychische Gesundheit oder sozioökonomische Stabilität usw. Solche Menschen sollten nicht unreflektiert und unvorbereitet zur Nutzung eines DIY-AID-Systems von anderen Betroffenen motiviert oder über (soziale) Medien für Laien gedrängt werden.
  • Einer der Gründe für das Verfassen des Übersichtartikels waren (und wir haben diesen Fokus sehr deutlich gemacht) die herausfordernden rechtlichen Aspekte in Deutschland: Was passiert, wenn es während der Nutzung des DIY-AID-Systems zu einem Unfall kommt? Es gibt keine Haftung oder Unterstützung durch die Hersteller der verwendeten CGM-Systeme oder Insulinpumpen. Zumindest in Deutschland könnten Versicherungen argumentieren, dass diese Behandlung nicht ärztlich verordnet wurde, und die Kostenübernahme für ein solches Ereignis verweigern.
  • In den USA hat die Food and Drug Administration (FDA) klargestellt, dass nicht geprüfte Medizinprodukte, die bei der Diabetestherapie eingesetzt werden, möglicherweise nicht sicher für die Verwendung durch Menschen mit Diabetes sind. Dies wurde von der Behörde nach einem Todesfall durch ein nicht zugelassenes Medizinprodukt veröffentlicht, sodass dies die offizielle Position der Behörde ist. Wenn Menschen mit Diabetes nicht zertifizierte Medizinprodukte verwenden, werden sie dann auch benachrichtigt, falls es ein Upgrade oder einen Rückruf gibt? Wer ist verantwortlich, wenn ein potenziell gefährliches Gerät über das Internet von einem nicht lizenzierten Händler vertrieben wird?
  • Die Krankenversicherungen decken möglicherweise ein Problem im Zusammenhang mit einem fehlerhaft funktionierenden Medizinprodukt nicht ab, wenn die Nutzer dieses Gerät auf eine Art und Weise einsetzen, für die es nicht vorgesehen ist.

Menschen müssen fähig sein, Entscheidungen zu treffen

Wir argumentieren damit nicht gegen Prinzip b) (s. o.), sondern wollen deutlich machen, dass es Risiken gibt, die Menschen mit Diabetes ehrlich und mit professioneller therapeutischer Distanz deutlich gemacht werden sollten. Als Fachleute müssen wir uns bewusst sein, dass die "Empowerment"-Philosophie auf der Prämisse basiert, dass Menschen die Fähigkeit haben oder dazu ermächtigt werden, Entscheidungen zu treffen und für die Konsequenzen ihrer Entscheidungen verantwortlich zu sein. Dies wird als ein Beratungsprozess definiert, der darauf abzielt, Patienten zu helfen, das Wissen, die Fähigkeiten, die Einstellungen und das Maß an Selbstbewusstsein zu entwickeln, das notwendig ist, um effektiv die Verantwortung für ihre gesundheitsbezogenen Entscheidungen zu übernehmen [Anderson 1991].

Kritisch geprüfte und sachlich formulierte Informationen

Entsprechend müssen die Informationen zur Nutzung von DIY-AID-Systemen kritisch geprüft und sachlich formuliert sein. Diese Nutzung stellt bisher keinen weltweit von Diabetologen und Fachgesellschaften akzeptierten Standard der Diabetestherapie dar. Was ist falsch an einem solchen Ansatz? Wir votieren für eine angemessene, vorsichtige Herangehensweise bei jeder (!) neuen Technologie. Denn die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass nicht alle zunächst vielversprechenden, neuartigen Medikamente oder Wege der Insulinapplikation zu einem sicheren Standard geworden sind.

Auf der anderen Seite weisen die ersten Erfahrungen überzeugter und kompetenter Nutzer von DIY-AID-Systemen auf Chancen zur Verbesserung der Glukoseeinstellung bei Diabetes und der Lebensqualität hin. Wir sind von der "Power" der DIY-AID-Bewegung ausgesprochen beeindruckt und befürworten diesen "Bottom-up"-Ansatz, der von den konventionellen Forschungsstrukturen/Herstellern weniger unterstützt wird. Die Mitglieder dieser Community leisten eine großartige Arbeit, um die Entwicklung neuer Algorithmen zum Erfassen von Mahlzeiten/Bewegung/Krankheit etc. voranzutreiben. Diese wichtige Arbeit hilft nicht nur bei DIY-AID-Systemen, sondern bei der Diabetestherapie im Allgemeinen, sie wird auch von vielen Entwicklern von kommerziellen AID-Systemen aufgegriffen. Daher sollten DIY-AID-Systeme systematisch in größeren Gruppen wissenschaftlich überprüft und gegen Risiken abgewogen werden, um Personen mit Diabetes sachlich gut begründete Informationen anbieten zu können. Diese Daten stehen leider bis heute noch aus. Sie sollten nicht durch einen eher emotional geprägten Enthusiasmus oder mangelnde therapeutische Distanz ersetzt werden. Dies würde schließlich dem Empowerment-Gedanken konträr entgegenstehen. Wenn jedoch die Forderung besteht, dass Ärzte und die Diabetesteams Menschen mit Diabetes bei der Verwendung von DIY-AID-Systemen unterstützen sollen, dann ist damit in Deutschland eine unsichere rechtliche Position verbunden.

Notwendigkeit einer offenen Diskussion

Zusammenfassend sehen wir derzeit nicht, dass DIY-AID-Systeme nachweislich für die Mehrheit der Menschen mit Diabetes als eine sinnvolle Therapieoption bezeichnet werden können. Wir sehen die Notwendigkeit einer offenen Diskussion über das Für und Wider dieses Ansatzes und hoffen, diese angestoßen zu haben.

Aus professioneller Sicht müssen wir, d. h. jeder an der Patientenversorgung Beteiligte, sich für Verbesserungen der Prognose von Menschen mit Diabetes engagieren. Er oder sie sollte dabei immer eine gewisse therapeutische Distanz wahren und Übertragungen und Gegenübertragungen vermeiden. Nur gut informierte Menschen mit Diabetes sind mündig und können unabhängig rationale Entscheidungen treffen. Und wir als Therapeuten müssen die Autonomie der Menschen mit Diabetes bei der Wahl ihrer Therapie und damit ihres Lebenswegs mit Diabetes anerkennen, statt einen einzigen Weg als Optimum zu propagieren [Cameron 2013]. Der Einsatz von DIY-AID-Systemen sollte sowohl in Fachjournalen wie auch in den verschiedenen Medien für Laien nicht wie eine "Religion" oder "Bewegung" propagiert werden, sondern als eine – noch unzureichend evaluierte – Option für eine verbesserte Insulintherapie und Prognose bei Typ-1-Diabetes.

Danksagung

Wir bedanken uns bei einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen für die intensiven Diskussionen zu diesem Thema in den letzten Jahren.


Literatur
Anderson RM, Funnell MM, Barr PA, Dedrick RF, Davis WK: Learning to empower patients. Results of professional education program for diabetes educators. Diabetes Care 1991; 14: 584-590
Barnard KD, Kubiak T, Hermanns N, Heinemann L: Patient-reported outcomes and continuous glucose monitoring: can we do better with artificial pancreas devices? Diabetes Care 2015; 38: e70
Barnard KD, Wysocki T, Ully V, Mader JK, Pieber TR, Thabit H, Tauschmann M, Leelarathna L, Hartnell S, Acerini CL, Wilinska ME, Dellweg S, Benesch C, Arnolds S, Holzer M, Kojzar H, Campbell F, Yong J, Pichierri J, Hindmarsh P, Heinemann L, Evans ML, Hovorka R: Closing the loop in adults, children and adolescents with suboptimally controlled type 1 diabetes under free living conditions: a psychosocial substudy. J Diabetes Sci Technol 2017; 11: 1080-1088
Cameron FJ, de Beaufort C, Aanstoot HJ, Hoey H, Lange K, Castano L, Mortensen HB; Hvidoere International Study Group: Lessons from the Hvidoere International Study Group on childhood diabetes: be dogmatic about outcome and flexible in approach. Pediatr Diabetes 2013; 14: 473-480
Heinemann L, Lange K: "Do it yourself" (DIY)-automated insulin delivery (AID) systems: current status from a German point of view. J Diabetes Sci Technol 2020 (b); 14: 1028-1034
Heinemann L, Lange K: "Do It Yourself" (DIY) Automated Insulin Delivery (AID) Systems: Stand der Dinge. Diabetologie 2020 (a); 14: 31-43
Heinemann L, Lange K: Response to the comment by K. Hood to "do it yourself" (DIY)-automated insulin delivery (AID) systems: current status from a German point of view. J Diabetes Sci Technol 2021; 15: 203-205
Hirsch A, Lange K: Psycho-Diabetologie: Personenzentriert beraten und behandeln. Kirchheim, Mainz, 2002
Hood KK: A comment on "‘do it yourself’ (DIY)-automated insulin delivery (AID) systems: current status from a German point of view": time for legitimate co-creation. J Diabetes Sci Technol 2020; 14: 1141
Patterson CC, Karuranga S, Salpea P, Saeedi P, Dahlquist G, Soltesz G, Ogle GD: Worldwide estimates of incidence, prevalence and mortality of type 1 diabetes in children and adolescents: results from the International Diabetes Federation Diabetes Atlas, 9th edition. Diabetes Res Clin Pract 2019; 157: 107842
Wiley J, Westbrook M, Greenfield JR, Day RO, Braithwaite J: Shared decision-making: the perspectives of young adults with type 1 diabetes mellitus. Patient Prefer Adherence 2014; 8: 423-435
Ziegler C, Liberman A, Nimri R, Muller I, Klemenčič S, Bratina N, Bläsig S, Remus K, Phillip M, Battelino T, Kordonouri O, Danne T, Lange K: Reduced worries of hypoglycaemia, high satisfaction, and increased perceived ease of use after experiencing four nights of MD-logic artificial pancreas at home (DREAM4). J Diabetes Res 2015; 2015: 590308


Autoren
Lutz Heinemann und Karin Lange

Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Lutz Heinemann
Science Consulting in Diabetes GmbH
Geulenstraße 50
41462 Neuss

Interessenkonflikte: Lutz Heinemann und Karin Lange geben keine Interessenkonflikte in Bezug auf die Inhalte dieses Artikels an.


Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2021; 30 (3) Seite 185-188