Menschen mit Adipositas adäquat und evidenzbasiert zu versorgen, ist ein wichtiges, aber oft noch fehlendes Puzzlestück in der Prävention des Typ-2-Diabetes. An dieser Baustelle wird gearbeitet, ein DMP Adipositas wird vorbereitet.

Im Jahr 2020 wurde ein Bauprojekt begonnen, das Potenzial für eine große Umgestaltung der Versorgungslandschaft hat. Mit der Annahme des Antrags zum Start einer Nationalen Diabetes-Strategiedurch den Bundestag wurde die Adipositas erstmals in Deutschland "offiziell" als Krankheit anerkannt, das Parlament forderte die Bundesregierung auf darauf hinzuwirken, dass eine individuelle, multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit Adipositas Grad 1 bis 3 in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen ermöglicht und eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Krankenbehandlung sichergestellt wird.

Als im Juli 2021 das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) in Kraft trat, zeigte sich eine erste Konsequenz dieser Anerkennung: "Bis zum 31. Juli 2023 erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss insbesondere für die Behandlung von Adipositas Richtlinien nach Absatz 2", stand dort als eine der zahlreichen Detailbestimmungen – übersetzt hieß das, dass das Disease-Management-Programm (DMP) Adipositas kommen soll!

Aus Sicht der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) stellt das geplante DMP Adipositas einen Meilenstein dar, es "kann ein Anstoß sein, die defizitäre Versorgungssituation zu verbessern", betonte die Fachgesellschaft Anfang Oktober anlässlich ihrer diesjährigen Jahrestagung in München.

Die Arbeiten an dem DMP laufen. Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die medizinischen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Adipositas recherchiert und bewertet. Mitte September wurden die abschließenden Arbeitsergebnisse veröffentlicht, sie sollen dem G-BA als wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung des neuen Programms dienen. Es ging dabei gleich um zwei Recherchen, einmal für Erwachsene und einmal für Kinder und Jugendliche mit Adipositas. Denn nach Daten des Robert Koch-Instituts sind in Deutschland nicht nur etwa 24 Prozent der Erwachsenen adipös (Studie aus 2013), sondern auch etwa sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen (Studie aus 2018).

Für die Leitliniensynopse "Adipositas – Erwachsene" konnte das Institut die Empfehlungen aus 25 aktuellen medizinischen Leitlinien auswerten, in den Bericht wurden 957 Empfehlungen eingeschlossen. In die Leitliniensynopse "Adipositas – Kinder und Jugendliche" flossen die Empfehlungen aus sechs aktuellen medizinischen Leitlinien ein.

Deutsche S3-Leitlinie unberücksichtigt

Die umfassende deutsche S3-Leitlinie zum Thema Adipositas konnte nach Angaben des Iqwigs nicht in die Bewertung der wissenschaftlichen Grundlagen einbezogen werden, weil sie aus dem Jahr 2014 stammt und dementsprechend nicht mehr den aktuellen Versorgungsstandard abbilde. Wann die DAG als federführende Fachgesellschaft die bereits begonnene Überarbeitung der Leitlinie abschließt, sei offen, so das IQWiG.

Das IQWiG hat sämtliche in den eingeschlossenen Leitlinien enthaltenen Behandlungsempfehlungen analysiert und jenen Versorgungsaspekten zugeordnet, die üblicherweise in den Richtlinienvorgaben des G-BA zu DMPs beschrieben werden. Dazu zählen Diagnostik, Therapieziele, allgemeine Grundsätze der Therapie, therapeutische Maßnahmen, Kooperation der Versorgungssektoren, Langzeitbetreuung und Schulungen. Anschließend bewertete das Institut die identifizierten und zugeordneten Empfehlungen in Hinblick auf ihre DMP-Relevanz. Ergebnis: Sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche konnte das Projektteam zu (fast) allen Versorgungsaspekten potenziell DMP-relevante Inhalte identifizieren. Einzig zu den Aspekten "Therapieziele", "digitale medizinische Anwendungen" und "Schulungen" fanden sich für die Behandlung adipöser Kinder und Jugendlicher keine relevanten Empfehlungen in den eingeschlossenen Leitlinien.

Orientierungshilfe bei rasanter Entwicklung

DDG und DAG wiesen in ihrer Stellungnahme zum Vorbericht darauf hin, dass insbesondere die Pharmakotherapie in der Indikation Adipositas eine sich rasant entwickelnde Therapieoption sei, die den Anspruch erzeuge, Wirkstoffklassen im Zuge des Vorberichts zu erfassen und differenziert darzustellen, um eine bestmögliche Orientierungshilfe durch die Leitliniensynopse zu gewährleisten. Korrigiert werden solle die "selektive Extraktion des Informationsgehalts und unterschiedliche Einordnung" von medikamentösen Maßnahmen zum Beispiel aus der als beispielhaft angesehenen Adipositas-Praxisleitlinie von Obesity Canada aus 2020.

Frage der Einschlusskriterien in das DMP

Der G-BA hatte das IQWiG im August 2021 mit den Leitliniensynopsen als inhaltliche Grundlage für die Erstellung des DMP Adipositas beauftragt. Die Vorberichte veröffentlichte das Institut im April und Mai 2022. Im Rahmen der Stellungnahmen dazu haben DDG und DAG gelobt, dass in Verbesserung zum Berichtsplan im Vorbericht die Adipositas nun gemäß heutigem Verständnis als chronische Erkrankung beschrieben wird.

Eine klare Warnung formulierten sie mit Blick auf die Definition der Adipositas für das DMP: "Aus medizinischer Sicht sollten die Hürden für den Einschluss in ein DMP möglichst niedrig sein, auch um den gesetzlichen Auftrag des DMP Adipositas ,Behandlungsablauf und die Qualität der medizinischen Versorgung chronisch Kranker verbessern‘ nicht zu verfehlen. Je höher die Hürde (höherer EOSS Stage, d. h. bereits vorliegende Begleiterkrankungen), desto niedriger das Präventionspotenzial mit Blick auf erfolgreiches Gewichtsmanagement und die Vermeidung von Folgeerkrankungen", gaben sie zu bedenken.

Im Kapitel Diskussion des Abschlussberichts wird das in Kanada entwickelte Edmonton Obesity Staging System (EOSS) im Abschnitt "Hinreichende Kriterien für den Einschluss in ein DMP Adipositas" ausführlicher dargestellt. In der kanadischen Leitlinie OC 2020 und der amerikanischen Leitlinie VADoD 2020 werde darauf hingewiesen, dass der BMI als alleiniges Kriterium für eine Behandlungsindikation nicht ausreicht, schreibt das IQWiG. Zur Beurteilung der Krankheitsschwere sowie zur Auswahl geeigneter Therapiemaßnahmen sei daher ein Klassifikationssystem notwendig, das die Auswirkungen der Adipositas auf die Gesundheit und die Lebensqualität mit einbezieht. Eben hier bringt das IQWiG das EOSS ins Spiel. In Bevölkerungsstudien habe sich der EOSS als besserer Prädiktor für die Gesamtmortalität erwiesen als der BMI oder die Messung des Taillenumfangs allein. Das Klassifikationssystem eigne sich somit als Ergänzung zum derzeitigen anthropometrischen Klassifikationssystem. Die anthropometrischen Messungen, also BMI und Taillenumfang, würden dann ergänzt durch ein Klassifikationssystem, das zusätzlich das mit der Adipositas verbundene Risiko bewertet, die Prognose bestimmt und die Behandlung steuern kann, gibt das IQWiG zu bedenken.

Rechtliche Hürden beseitigen

Anlässlich des Adipositas-Kongresses wies die DAG darauf hin, dass ein DMP allein das grundlegende Problem der fehlenden Kostenübernahme in der Adipositastherapie nicht lösen könne. Dazu müsse der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen überarbeitet und die rechtlichen Hürden für die Arzneimitteltherapie beseitigt werden. Dass derzeit Betroffene für ihre Behandlung oft selbst aufkommen müssen, sei "mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar" und stehe "im Widerspruch zur Anerkennung der Adipositas als Krankheit", kritisierte DAG-Präsident Prof. Dr. med. Jens Aberle. Derzeit würden Menschen mit starkem Übergewicht von unserem Gesundheitssystem im Stich gelassen, kritisierte die Fachgesellschaft: So müsse die Kostenübernahme für die Adipositastherapie individuell beantragt werden. Ob und zu welchem Anteil beispielsweise die Kosten für eine Ernährungsberatung oder eine Bewegungstherapie übernommen werden, sei eine individuelle Entscheidung der jeweiligen Krankenkasse. Andere Therapieoptionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet, da eine Verschreibung von Präparaten zur Gewichtsreduktion zu Lasten der Kassen in § 34 des SGB V gesetzlich ausgeschlossen ist. Lediglich bei geprüften Smartphone-Apps, den sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs), müssen Kassen die Kosten übernehmen.

Innovationspreis für Adipositas-DIGA

Im Rahmen des Adipositas-Kongresses 2022 in München hat die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) Preise für besondere Leistungen im Bereich der Prävention, Therapie und Erforschung der Adipositas verliehen. Der Innovationspreis der DAG ging dieses Jahr an Dr. Katharina Forkmann und Dr. Nora Mehl für ihr Projekt "Zanadio". Dabei handelt es sich um eine Digitale Gesundheitsanwendung zur multimodalen Behandlung der Adipositas.

Mit dem DAG-Forschungspreis wurde in diesem Jahr Prof. Dr. Cristina García Cáceres sowie Dr. Anne Lautenbach ausgezeichnet. García Cáceres erforscht in München nicht-neuronale Strategien zur Steuerung des Zuckerzugangs zum Gehirn sowie der Hypertonie bei Stoffwechselerkrankungen wie Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes. Lautenbach untersucht am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf die langfristigen Auswirkungen der bariatrisch-metabolischen Chirurgie auf Adipositas und assoziierte Begleiterkrankungen.

"Die Adipositastherapie ist keine Lifestyle-Beratung, sondern die Behandlung einer chronischen Krankheit. Diese Erkenntnis hat sich in der wissenschaftlichen Fachwelt längst durchgesetzt", betonte Dr. Christina Holzapfel, DAG-Vorstandsmitglied und Tagungspräsidentin 2022. "Dass die Adipositastherapie in aller Regel eine freiwillige Leistung der Krankenkassen darstellt, ist weder gerechtfertigt noch zielführend. Die fehlende Sicherheit bei der Kostenübernahme erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm – vor allem im ambulanten Bereich", verdeutlichte Prof. Hans Hauner, ebenfalls DAG-Vorstandsmitglied und Tagungspräsident des diesjährigen Kongresses.

Schätzungsweise 17 Millionen Menschen in Deutschland sind laut DAG von Adipositas betroffen, die Allerwenigsten würden aber eine Therapie gemäß medizinischer Empfehlungen erhalten. In etwa neun von zehn Fällen werde die Erkrankung Adipositas nicht einmal diagnostiziert. Dass Betroffene für ihre Behandlung oft selbst aufkommen müssen, sei "mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar" und stehe "im Widerspruch zur Anerkennung der Adipositas als Krankheit", kritisierte DAG-Präsident Aberle.

"Betroffene erhalten im Moment zu wenig Unterstützung vom Gesundheitssystem", bestätigte Michael Wirtz, der seit Jahren in der Selbsthilfe aktiv und Vorstandsmitglied der Adipositashilfe Deutschland ist. "Oft heißt es beim Hausarzt lapidar: Bewegen Sie sich mehr und essen Sie weniger. Wer glaubt denn ernsthaft, dass jemand mit starkem Übergewicht diesen ‚Rat‘ nicht schon kennt? Wenn es so einfach wäre, wäre nicht jeder vierte Erwachsene von Adipositas betroffen. Wir brauchen Therapieangebote wie es bei anderen chronischen Erkrankungen längst selbstverständlich ist", so seine Forderung.

"Eine Gewichtsreduktion kann das Risiko für schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Herzkrankheiten oder Typ-2-Diabetes verringern. Doch anstatt ein erhöhtes Körpergewicht frühzeitig zu behandeln, greift unser solidarisches Gesundheitssystem erst dann, wenn die Folgeschäden schon aufgetreten sind", kritisierte Aberle. Was das geplante DMP daran ändert, bleibt abzuwarten.


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (11) Seite 6-8