Am 9. März 2023 stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in Berlin seine Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege vor. Danach soll Deutschland endlich seinen Rückstand in der Digitalisierung des Gesundheitswesens abbauen. Was dabei aus Sicht der Diabetesfachkräfte von Bedeutung ist, hat der VDBD in seinem jüngsten Positionspapier zur Digitalisierung und Nutzung digitaler Gesundheitsdaten deutlich gemacht.
Nach den Plänen Lauterbachs sollen bis zum Jahr 2025 rund 80 Prozent der gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) besitzen. Und bis Ende 2026 sollen mindestens 300 Forschungsvorhaben mit Gesundheitsdaten durch das neue Forschungsdatenzentrum Gesundheit realisiert werden. Im Vorfeld der Digitalisierungsstrategie hatte das Bundesgesundheitsministerium mit einem Online-Fragebogen die Meinung von Akteuren des Gesundheitswesens eingeholt. Das Ergebnis dieses Konsultationsprozesses lässt sich in einer bebilderten 44-seitigen Broschüre nachlesen, die man auf der Website des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) findet.
Digitalgesetz
Für die Umsetzung der Digitalisierungsstrategie sind jedoch konkrete Gesetzesvorhaben entscheidend, wie das künftige Digitalgesetz. Kurz zusammengefasst soll mit dem Digitalgesetz die ePA nach dem Opt-Out-Prinzip etabliert werden. Zudem soll es einen niedrigschwelligen Zugang zur Versorgung geben, indem durch Fachpersonal assistierte Telemedizin eingeführt wird, die in Apotheken und Gesundheitskiosken abgerufen werden kann. Das Versprechen des BMG: Bis 2026 gibt es in mindestens 60 Prozent der Regionen, die hausärztlich unterversorgt sind, eine Anlaufstelle für assistierte Telemedizin. Gleichzeitig wird die Limitierung für telemedizinische Leistungen auf 30 Prozent aufgehoben. Auch die Versorgungspfade sollen digital unterstützt und integriert werden durch digitalisierte Disease-Management Programme (dDMP). Darüber hinaus plant Lauterbach die Gesellschaft für Telematik (gematik) zu einer allein vom Bund getragenen Digitalagentur umzuwandeln, in deren Fokus die Nutzerorientierung stehen soll.
Gesundheitsdaten
Ein weiteres Gesetz mit der klobigen Bezeichnung Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) soll die Nutzung digitaler Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken regeln. Für den Zugang zu Forschungsdaten wird eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle aufgebaut, die den Zugang zu Forschungsdaten aus verschiedenen Quellen (z.B. Krebsregister, Krankenkassendaten) ermöglicht, wobei die Daten dezentral gespeichert bleiben sollen. Besitzer:innen einer ePA können darüber die Freigabe ihrer Daten steuern. Die pseudonymisierten ePA-Daten sollen künftig zu Forschungszwecken über das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) beim BfArM abrufbar sein. Die federführende Datenschutzaufsicht für bundesländerübergreifende Forschungsvorhaben wird auf alle Gesundheitsdaten erweitert. Das bedeutet, dass die datenschutzrechtliche Aufsicht für länderübergreifende Forschungsvorhaben im Gesundheitswesen nur noch durch eine:n Landesdatenschutzbeauftragt:e erfolgen soll.
VDBD-Position
Der VDBD sieht die Digitalisierungsstrategie des BMG vor dem Hintergrund des europäischen Gesetzesvorschlags zum Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), den die Europäische Kommission im Mai 2022 vorgelegt hat. Ziel des EHDS sind eine optimierte und transnationale Primär- und Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten. Für eine erfolgreiche Umsetzung sowohl des EHDS als auch der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung sind hinreichende Telematikinfrastrukturen, deren Interoperabilität sowie die Kompatibilität der Komponenten zwingend. Die notwendige Entwicklung adäquater rechtlicher Rahmenbedingungen und technischer Standards sollte auch unter Einbeziehung von Fachgesellschaften, Gesundheitsfachberufen und Patientenvertreter:innen erfolgen.
Zu den Leistungserbringern gehören nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern eine große Vielfalt an Gesundheitsfachberufen, die – zumindest in Deutschland – entweder auf einem Ausbildungsberuf oder einem Weiterbildungsberuf basieren, wie beispielsweise die Diabetesberater:in. Die ohnehin wichtige Rolle von Gesundheitsfachberufen potenziert sich in einer alternden Gesellschaft mit gleichzeitigem Fachkräftemangel und ist bei der konzeptionellen Entwicklung und Ausgestaltung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums und der deutschen Digitalisierungsstrategie zu berücksichtigen. Dazu zählt u.a. der Zugang zur Telematikinfrastruktur und zu digitalen Gesundheitsdaten. Übrigens: Der Begriff "Gesundheitsfachberufe" wird in der Broschüre zur Digitalisierungsstrategie des BMG nicht erwähnt.
Eine Frage des Vertrauens
Für die Akzeptanz des Europäischen Gesundheitsdatenraums und der nationalen Digital- und Gesundheitsdatennutzungsgesetze sind Rechtssicherheit, Vertrauen und Datenschutz entscheidende Faktoren. Bürger:innen müssen darauf vertrauen können, dass die Telematikinfrastrukturen für den Zugang zu und für den Austausch von Gesundheitsdaten sicher und vor Cyberattacken geschützt sind. Im deutschen Kontext ist die bundeseinheitlich verbindliche Regelung zur Datennutzung eine wichtige Rahmenbedingung, damit eine konsistente und einheitliche Interpretation der Datenschutzbehörden auf Länder- und Bundesebene erfolgt. Datenschutz darf jedoch nicht als Argument missbraucht werden, um digitale Innovationen auszubremsen. Wie wichtig die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten für Forschung und Innovation, aber auch für sachgerechtes politisches Handeln ist, hat die SARS-COV-2-Pandemie deutlich vor Augen geführt.
Kein medical divide
Trotz des inhärent positiven Potenzials der Digitalisierung sollte aus Sicht des VDBD nicht vernachlässigt werden, dass der Zugang zu digitalen Gesundheitsdienstleistungen aus unterschiedlichsten Gründen limitiert sein kann. Daher darf durch Digitalisierung im Gesundheitswesen kein "medical divide" oder eine Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen entstehen. Dass eine Ungleichheit von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken auch in reichen Ländern wie Deutschland bereits existiert, haben Studien belegt. Ungleichheiten werden für sogenannte Zivilisationserkrankungen festgestellt, insbesondere wenn sie im Zusammenhang mit Ernährungs- und Bewegungsverhalten stehen. Das gilt beispielsweise für Typ-2-Diabetes mellitus, von dem die große Mehrheit der Diabetespatient:innen in Deutschland betroffen ist.
Apropos ePA
Ein zentrales Element der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens – auch mit Blick auf den Europäischen Gesundheitsdatenraum – ist die ePA. Der VDBD begrüßt das Opt-Out-Prinzip, so dass nicht die einzelnen Bürger:innen in der Pflicht stehen, sich für eine ePA zu registrieren, sondern diese automatisch erhalten und ggf. aktiv widersprechen können. Um die Vorteile mobiler digitaler Gesundheitsdaten zum Wohle der Patient:innen nutzen zu können, sind auch Gesundheitsfachberufe, wie z.B. Diabetesberater:innen, in die Zugangsregeln zur ePA einzubeziehen.
Auch im Getriebe der ePA sind Datenschutz und Datensicherheit wichtige Stellgrößen. Darüber hinaus ist für die Akzeptanz der ePA entscheidend, dass nützliche Informationen gespeichert werden und die Nutzung unkompliziert gestaltet wird. Gemäß des Transparenzprinzips müssen Patient:innen unmittelbar auf ihre eigenen Gesundheitsdaten, wie z.B. Untersuchungsergebnisse, zugreifen können. Das bedeutet, dass Leistungserbringer die Gesundheitsdaten Patient:innen zeitgleich zur Verfügung stellen.
Unabhängig davon gilt es, die Gesundheitskompetenz der Bürger:innen zu stärken, z.B. durch eine Einführung eines entsprechenden Schulfaches.
Mehrwert im Berufsalltag
Im beruflichen Alltag der Patientenversorgung zeigt sich, ob Digitalisierung bzw. digitale Anwendungen als innovativ und hilfreich oder als Belastung wahrgenommen werden. Beispielhaft seien hier, zusätzlich zur grundsätzlichen Interoperabilität, die Forderung des VDBD nach Kompatibilität der digitalen Anwendungen und dem Prinzip der Open-Source-Software genannt, damit im Behandlungsalltag auch die Vielfalt der Systeme unkompliziert eingesetzt werden kann. Für eine optimale Beratung, beispielsweise zu Digitalen Medizinischen Gesundheitsanwendungen (DIGAS), benötigen Gesundheitsfachkräfte einen Probezugang und sollten in die Einweisung durch den Hersteller einbezogen werden.
Digitale Kompetenzen sind in der Vergütung von Gesundheitsfachkräften abzubilden. Denn für Gesundheitsfachberufe, wie Diabetesberater:innen und Diabetesassistent:innen, bedeutet die digitale Transformation, den eigenen Kompetenzbereich kontinuierlich durch adäquate Fortbildungen zu erweitern und gleichzeitig die technologischen Erneuerungen in das eigene berufliche Handeln zu integrieren und z.B. neue Formen der Schulung aufzugreifen. Auch müssen dafür entsprechende Zeiträume und finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Beispielhaft ist hier zu nennen, dass nach wie vor keine bundesweite Vergütungsregel für Online-Patienten-Schulungen existiert, obwohl Diabetesverbände dies aufgrund der Erfahrungen während der Pandemie nachdrücklich fordern.
Kein Selbstzweck
Der VDBD sieht in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens ein großes Potenzial, um einerseits die Versorgung und Lebensqualität von Patient:innen zu verbessern, insbesondere von Patient:innen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus. Andererseits können Digitalisierungsmaßnahmen und digitale Tools Behandlungsteams entlasten und die Attraktivität der Gesundheits(fach)berufe steigern. Digitalisierung ist jedoch Instrument und nicht Ziel der Modernisierung des Gesundheitswesens. Im Mittelpunkt einer patientenorientierten Versorgung muss der Mensch, das Patientenwohl, stehen. Wünsche und Sorgen der Patient:innen sind in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dazu gehören neben dem Recht auf Datenschutz und Transparenz in der Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen ebenso die Sorge um Datensicherheit und etwaigen Missbrauch oder Fehlbehandlungen. Es gilt, das Potenzial der Digitalisierung zu nutzen, aber auch deren Grenzen zu erkennen: Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit digitaler Anwendungen, inklusiver lernender Systeme (KI), sind an deren Mehrwert für Lebensqualität, Patientenversorgung und -partizipation sowie Entlastungen der Gesundheits(fach)berufe zu messen.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (4) Seite 42-44