Heikel: Wer haftet eigentlich, wenn Diabetes-Patient:innen im Straßenverkehr einen Unfall verursachen? Das kann unter Umständen ein heikles Thema sein. Licht ins Dunkel der Paragraphen bringt Rechtsanwalt Oliver Ebert.

Ausgangsfall
Bei Patient P. (Typ 2, ICT, ca. 4 BZ-Selbstmessungen/Tag) kam es zuletzt wiederholt zu schweren Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf. Der Arzt spricht nun ein sog. "ärztliches Fahrverbot" aus, d.h. er klärt den Patient darüber auf, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Situation solange nicht mehr autofahren darf, bis wieder eine sichere Hypo-Wahrnehmung vorliegt. Er rät dem Patienten daher dringend, bis dahin auf den PKW zu verzichten und stattdessen auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad umzusteigen.

Die Teilnahme am Straßenverkehr auf dem Fahrrad, im Pkw, Lkw oder Motorrad ist für viele Menschen elementarer Bestandteil des sozialen und beruflichen Lebens. Dank moderner Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten können in aller Regel auch insulinpflichtige Diabetes-Patienten ein Fahrzeug im Straßenverkehr führen.

Dennoch gilt dies nicht immer; jeder Patientenfall muss vom Diabetes-Team individuell bewertet werden. Dies führt in der Praxis immer wieder zu Schwierigkeiten und kann auch erhebliche Haftungsprobleme mit sich bringen.

In einer Artikelserie beleuchtet unser Redaktionsmitglied RA Oliver Ebert in loser zeitlicher Reihenfolge ausgewählte Fragestellungen, die für die Praxis wichtig sind.

Variante A:

Der Patient ist uneinsichtig und wehrt sich vehement; er entgegnet dem Arzt, dass die schweren Unterzuckerungen nur "Ausrutscher" gewesen sein, er jetzt aber besonders vorsichtig sei und die Situation "im Griff habe". Er brauche das Auto um zur Arbeit zu kommen. Zudem könne ihm der Arzt ohnehin das Autofahren nicht verbieten.

Was soll/kann die Praxis tun?

Zunächst hat der Patient grundsätzlich damit recht, dass der Arzt das Autofahren natürlich nicht verbieten kann. Der Arzt darf nur eine entsprechende Empfehlung aussprechen, dass aus gesundheitlichen Gründen dringend vom Autofahren abzuraten ist.

Im Ergebnis kommt diese Empfehlung des Arztes aber doch einem Verbot gleich:

Wenn der Patient nämlich trotzdem und entgegen dem ärztlichen Rat weiter mit dem Auto fährt, riskiert er eine Strafbarkeit wegen Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315c StGB – selbst dann, wenn es nicht zu einem Unfall kommt. Gem. § 2 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist nur derjenige zum Führen eines Kraftfahrzeuges geeignet, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt. Das bedeutet: Jeder Fahrer muss sein Auto, sein Motorrad, den Bus oder Lkw jederzeit beherrschen und darf keine Ausfallerscheinungen zeigen. Konkretisiert wird dies durch § 2 Abs.1 S. 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV): "Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, daß er andere nicht gefährdet."

Das Ganze ist auch strafrechtlich sanktioniert, § 315c Abs. 1 StGB:

"Wer im Strassenverkehr ein Fahrzeug führt, [..] obwohl er infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen [,,] und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."

Wenn der Patient also durch seinen Arzt darüber aufgeklärt ist, dass er fahruntauglich ist, dann darf er - trotz Fahrerlaubnis - solange nicht mehr fahren, bis aus ärztlicher Sicht die Fahreignung wiederhergestellt ist.

Häufig besteht Unsicherheit, ob die Praxis uneinsichtige Patienten der Polizei melden darf oder womöglich sogar dazu verpflichtet ist.

Hier gilt: Arzt und Praxispersonal sind verpflichtet, die berufliche Schweigepflicht zu wahren. Diese ist sowohl im Strafgesetzbuch (§ 203 StGB) als auch in den Berufsordnungen der Landesärztekammern (§ 9 MBO) geregelt. Die strafrechtliche Schweigepflicht gilt auch für das Praxispersonal.

Ohne vorherige Einwilligung des Patienten darf der Arzt nur in wenigen Ausnahmefällen patienten- bzw. behandlungsspezifische Daten an Dritte offenbaren. Solche Ausnahmefälle sind durch Rechtsnormen definiert – beispielsweise die vorgeschriebene Übermittlungen zur Abrechnung oder nach dem Infektionsschutzgesetz.

Ein Bruch der Schweigepflicht wäre allenfalls dann straffrei, wenn eine sog. "Notstandslage" vorliegt.

Die Hürden hierfür sind aber hoch: die Meldung eines Patienten darf nur das letzte Mittel sein, um schlimme Folgen zu verhindern.

Voraussetzung ist zunächst, dass tatsächlich eine konkrete (und nicht nur theoretische) Gefahr für Leib und Leben der anderer besteht. Alle anderen zumutbaren Maßnahmen müssen erfolglos geblieben sind, so dass diese Gefahr nur noch durch den Bruch der Schweigepflicht verhindert werden kann.

Der Arzt muss daher zunächst eine Güterabwägung vornehmen und sehr genau prüfen, ob wirklich eine derart kritische Gefahrensituation vorliegt. Eine ledigliche Risikoerhöhung wäre beispielsweise noch nicht ausreichend. Im zweiten Schritt müssen dann alle Möglichkeiten bzw. weniger belastenden Maßnahmen ausgeschöpft werden, um den Patienten zum Einlenken zu bewegen. Hierzu zählen insbesondere eine deutliche Aufklärung oder die Einbeziehung von Angehörigen.

Auch die Wegnahme des Fahrzeugschlüssels oder das Zuparken seines KFZ könnten ein milderes Mittel sein, sofern dies nach den Umständen möglich ist.

Zudem müsste dem Patienten eine angedachte Meldung an die Behörde eindeutig und unmissverständlich zuvor angedroht werden. Unterbleibt dies, dann wird man schwerlich begründen können, warum der Bruch der Schweigepflicht denn wirklich die ultima ratio gewesen sein soll.

Empfehlung für die Praxis:

Arzt bzw. Praxispersonal müssen den Nachweis führen (können), dass die Voraussetzungen zum ausnahmsweisen Bruch der Schweigepflicht vorlagen. Ansonsten droht eine Strafverfolgung nach § 203 StGB, berufsrechtliche Konsequenzen und das Risiko, vom Patienten auf Schadensersatz verklagt zu werden.

Ich empfehle daher, den Patienten unbedingt auch noch schriftlich darüber zu aufzuklären, dass aus ärztlicher Sicht keine Fahreignung besteht. Dieses sollte umfassend und ausführlich dokumentiert werden; sinnvollerweise sollten auch Zeugen (Praxispersonal) hinzugezogen werden.

Bleibt der Patient weiterhin uneinsichtig, so sollte diesem unmissverständlich klargemacht werden, dass seine weitere Teilnahme am Straßenverkehr eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und man deshalb eine Meldung an die Polizei bzw. Führerscheinbehörde machen werde. Auch dies sollte möglichst unter Zeugen erfolgen und hinreichend dokumentiert sein. Am Besten ist es, wenn der Patient eine entsprechende Belehrung bzw. Androhung unterschreibt.

Falls der Patient sich dann immer noch unbelehrbar zeigt, sollte zur Absicherung zunächst noch juristischer Rat bei der Ärztekammer eingeholt werden. Der Sachverhalt darf dort aber natürlich ebenfalls nur anonymisiert geschildert werden. Erst wenn auch von dieser Stelle keine ernsthaften Bedenken geäußert werden, sollte man über den Bruch der Schweigepflicht nachdenken.

Variante B:

Der Patient zeigt sich einsichtig und verspricht, bis zur Aufhebung des ärztlichen Fahrverbots auf das Auto zu verzichten und stattdessen das Fahrrad zu nehmen.

Einige Tage später ist der Patient mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit; hierbei kommt es dann erneut zu einer massiven Unterzuckerung. Aufgrund der damit verbundenen Bewusstseinsstörungen fährt der Patient frontal auf einen Fußgänger; dieser wird schwer verletzt. Der Patient hat keine Haftpflichtversicherung.

Wer bezahlt den Schaden?

Wenn ein Patient unverschuldet in eine Hypoglykämie gerät und er aufgrund der damit verbunden gesundheitlichen Ausfälle mit dem Fahrrad einen Unfall verursacht, dann trifft ihn grundsätzlich kein Verschulden.

In diesem Fall kann er nicht bestraft werden und er muss dann auch keinen Schadensersatz leisten, denn beides setzt eine schuldhafte (=mindestens fahrlässige) Handlung voraus. Die Geschädigten bzw. Unfallopfer bleiben in solchen Fällen dann grundsätzlich auf ihrem Schaden sitzen und erhalten keinen Ersatz.

Allerdings kann eine Hypoglykämie nicht als einfache Ausrede herangezogen werden, um sich einer Haftung zu entziehen. In solchen Fällen einer behaupteten gesundheitsbedingten Schuldunfähigkeit wird dann konkret nachgeprüft, ob der Patient im Vorfeld denn wirklich alles Erforderliche getan hat, um zu vermeiden, dass es zu einer Unterzuckerung bzw. deswegen zu einem Unfall kommt. Die Frage des Verschuldens wird daher zeitlich auf das Verhalten vor dem Unfall vorgelagert.

Liegt ein Verschulden des Patienten vor, beispielsweise wenn er den ärztlichen Empfehlungen nicht gefolgt ist oder sich in sonstiger Weise sorgfaltswidrig verhalten hat, dann tritt – sofern vorhanden – eine private Haftpflichtversicherung des Patienten für die Schäden ein.

Wenn dem Patienten aber tatsächlich nichts vorzuwerfen ist, dann muss er für den Unfall nicht haften. Der verletzte Fußgänger kann von ihm dann keinen Schadensersatz, Schmerzensgeld oder Lohnausfall erhalten. Es bleibt dem Geschädigten dann nur die Möglichkeit, nach einem anderen "Schuldigen" zu suchen – und dies könnte dann schnell auch der behandelnde Arzt sein. Wenn sich herausstellt, dass der Patient womöglich falsch behandelt bzw. nicht (richtig) aufgeklärt wurde und es letztlich deswegen zum Unfall kam, dann müsste der Arzt für den Schaden einstehen.

In vorliegendem Fall wäre ein solcher Behandlungsfehler wohl anzunehmen: Obwohl der Arzt wusste, dass der Patient aufgrund des erheblichen Hyporisikos nicht mehr sicher am Strassenverkehr teilnehmen kann, hat er dem Patienten sogar ausdrücklich empfohlen, statt dem Auto das Fahrrad zu benutzen. Tatsächlich hätte der Arzt hier aber auch besonders zum Fahrradfahren aufklären müssen, denn selbstverständlich kann auch dabei eine plötzliche Unterzuckerung zu erheblichen Gefahren führen.

Der Arzt wird dann damit rechnen müssen, dass er auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird und der Fußgänger die Kosten für die Heilbehandlung, etwaigen Lohnausfall und Rehaleistungen, Schmerzensgeld oder womöglich eine Rente bei ihm geltend macht

Empfehlung für die Praxis:

Wenn aufgrund der gesundheitlichen Situation ein ärztliches Fahrverbot indiziert ist, dann sollte der Arzt unbedingt prüfen, ob sich hieraus auch Bedenken gegen das Fahrradfahren ergeben müssen.

In den meisten Fällen dürfte das Risiko der Fahrradnutzung unter Beachtung geeigneter Auflagen wahrscheinlich vertretbar sein. Der Patient muss aber umfassend über die Risiken sowie die vom Arzt ggf. als notwendig erachteten Auflagen aufgeklärt werden. Die Aufklärung sollte möglichst auch noch schriftlich erfolgen und auch nachvollziehbar in der Patientenakte dokumentiert werden.

Cave: Der Arzt darf sich bei der Aufklärung zur Teilnahme am Straßenverkehr nicht nur auf den Diabetes beschränken, sondern er muss dabei auch alle anderem ihm bekannten gesundheitlichen Risikofaktoren einbeziehen. So kann ein ärztliches Fahrverbot bei einem Patienten auch dann indiziert sein, wenn dieser zwar keinerlei Unterzuckerungsproblematik aufweist, die Fahreignung aber womöglich durch andere Begleit- oder Folgeerkankungen (z.B. Epilepsie, nach Herzinfarkt, Schlafapnoe) oder durch Medikation (z.B. Schmerzmittel) beeinträchtigt ist

Variante C:

Wie oben unter B, der Patient hat aber eine Haftpflichtversicherung.

Wer bezahlt den Schaden?

Eine Haftpflichtversicherung deckt grundsätzlich nur die Schäden ab, für die der Versicherte "haftet". Voraussetzung ist daher ein schuldhaftes, d.h. mindestens fahrlässiges Handeln des Patienten. Auch in dieser Fallkonstellation man daher zum selben Ergebnis wie oben unter B: Obwohl der Patient hier nun über eine Haftpflichtversicherung verfügt, muss diese aufgrund des fehlenden Verschuldens nicht leisten bzw. kann hierfür ggf. den Arzt in Regress nehmen.

Empfehlung für die Praxis:

In vielen Fällen kommt es nur deshalb zu einer schweren Unterzuckerung, weil der Patient nachlässig war bzw. seine Sorgfaltspflichten verletzt hat. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Glukosewert nicht zeitnah vor Fahrtantritt bestimmt wurde, die Alarme eines rtCGM ausgeschaltet oder die Schwellenwerte nicht entsprechend der ärztlichen Empfehlung eingestellt waren.

Der Nachweis, dass der Patient für die Unterzuckerung wirklich nichts konnte, ist daher mitunter schwer zu führen. In solchen Fällen würde eine Haftpflichtversicherung einspringen und den Patienten vor den möglicherweise existentiellen Folgen bewahren. Patienten sollte daher empfohlen werden, unbedingt eine private Haftpflichtversicherung abzuschließen.


Kontakt:
Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (4) Seite 44-47