Das Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz e.V. (ANW) wurde 2003 als gemeinnütziger Verein auf Initiative der damaligen Landes-Gesundheitsministerin Malu Dreyer gegründet und bietet ein Forum für Fachleute und Betroffene.

Das krankhafte Übergewicht ist aus fachlicher Sicht eine meist progrediente, also fortschreitende chronische Erkrankung, nicht nur "sichtbare Fettvermehrung", sondern alle Organsysteme betreffend – mit seelischer und sozialer Belastung sowie Auswirkungen auf Lebensqualität, Aktivitäten und Teilhabe.

Ein ungünstiges Nahrungsangebot und das Verschwinden von Bewegungsmöglichkeiten im Alltag mit Zunahme von "digitaler" Inaktivität in der Freizeit werden dabei als zentrale "Antreiber" gesehen – auch wenn die Zusammenhänge sehr komplex sind.

Die Weltgesundheitsorganisation spricht von der Pandemie des Übergewichts als "globesity" (weltweite Zunahme von Obesitas – im Deutschen Adipositas). In der Laienpresse findet sich die griffige Formulierung: Von Allem zu viel – Des Guten zu wenig.

Wer in einer psychosozialen Belastungssituation lebt ist eher betroffen als Menschen mit mehr Ressourcen. Es ist also keine "Wohlstandskrankheit". Der Beginn liegt oft schon im Vorschulalter. Für Menschen jenseits der Lebensmitte gilt, dass die Mehrheit der Deutschen betroffen sind. – "Es ist zunehmend keine Minderheit" – ab der Lebensmitte ist die Mehrheit der Menschen in Deutschland unterschiedlich stark betroffen – durchaus auch Ärzt:innen, Psycholog:innen, Ernährungsberater:innen oder Kleiderverkäufer:innen.

Im Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz ("ANW") engagieren sich seit 2003 verschiedenste Akteure der Gesundheitsprävention und Gesundheitsförderung: aus öffentlichem Gesundheitsdienst, Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz e.V., Landeszentrale für Gesundheitsförderung RLP, rheinland-pfälzische Ärztekammern, Gesetzlichen Krankenkassen, Kommunen, Ernährungsberatung, Bildungswesen, Psychologie, Sport und Bewegung, Handel für Sport- und Freizeitkleidung in Übergrößen, Ernährungsberatung, ärztlich-medizinische Versorgung, Wissenschaft und mit etwas Verzögerung auch Betroffene. Im aktuellen Vorstand sind Dr. Silke Basenach, Günther Bergs, Marion Rung-Friebe, Birgit Sattler und als Vorsitzender Dr. Johannes Oepen vertreten.

Eine Vernetzung der Aktivitäten des Adipositasnetzwerks besteht über die Mitgliedschaft im Verein LeckerEntdecker e.V. unter Schirmherrschaft des Landes-Wirtschaftsministerium, der 2022 gegründeten "Diabetes-Allianz", sowie im fachlichen Austausch in Rheinland-Pfalz mit der Arbeitsgemeinschaft Diabetologie und Endokrinologie ADE. Eine freundschaftliche Kooperation besteht mit dem 2005 gegründeten AdipositasNetz SAAR e.V. Auch mit der Selbsthilfe sind wir verbunden vor allem über den Adipositasverband Deutschland e.V.. Mitglieder und Partner sind auch Firmen, die mit Ihren Produkten im Sinne eines "biopsychosozialen Modells" für die Adipositas-Betroffenen wirksame Angebote haben.

Das ANW wird von Beginn an vom Gesundheitsministerium Rheinland-Pfalz gefördert. Gesundheitsminister Clemens Hoch ist Schirmherr, seit 18. Mai 2021 als Minister für Wissenschaft und Gesundheit im Kabinett Dreyer III.

In den Anfangsjahren stand im Vordergrund, verschiedene Professionen aus ärztlicher Arbeit, Bewegung und Sport, Ernährungsberatung überhaupt in einen Dialog zu bringen auf Basis des aktuellen fachlichen Wissens – dabei war Qualität der Ernährung ein besonderer Schwerpunkt. Es gab Öffentlichkeits-Aktionen, Workshops, Mitwirkung in Universitätsmedizin und Fachhochschule Mainz, bis hin zu Fachvorträgen auf den Mitgliederversammlungen.

An den Aktionstagen in verschiedenen Kommunen von Rheinland-Pfalz stand immer auch die Sicht der Betroffenen und die gesundheitsfördernden Strukturen in der kommunalen regionalen und landesweiten Situation sowie die "Fallgruben im Alltag" im Vordergrund. Die bis heute fortwirkende Stigmatisierung des "Dickseins" und Zuschreibung als Life-Style Erkrankung wurde dabei kritisch diskutiert.

Für den Gedanken der Prävention mit Ziel Lebensqualität und Teilhabe ist ein Projekt besonders hervorzuheben, das Dr. Gabriele von der Weiden aus dem schulärztlichen Dienst Mainz-Bingen entworfen und angeschoben hat: Das Angebot "Pausenspiele" für ALLE Schüler:innen der Grundschulen läuft seit 10 Jahren. Gelungen war auch die Aktion aus dem schulärztlichen Dienst "1000 Schritte in die Schule". Eine ideelle Unterstützung durch das ANW gab es für das Projekt einer Schulkantine für Alle an einer Kreuznacher Schule (die leider nicht mehr weitergeführt wird), sowie Freizeitaktionen für Sommerferien und Anderes mehr.

Die öffentliche Kommunikation war ein zentrales Anliegen des ANW, um das Bewusstsein mit Aktionen und Presseinformationen zu schärfen. Ziel war die Unterstützung für die von dieser fortschreitenden chronischen Erkrankung Betroffenen, die teils schwerwiegende Folgen, somatisch und seelisch, davontragen. Kompensation oder Adaptation heißt es in der Fachsprache bei ALLEN chronischen Erkrankungen um mit der Krankheit ein gutes Leben zu führen.

Alternativen zu unbeabsichtigt stigmatisierenden "Hilfegedanken" wie eine rasche, drastische Gewichtsreduktion als (Schein-)Lösung werden aufgezeigt - im Sinne von DGE-Regeln und fachlichen Leitlinien, aber auch Aktivitäten der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz, die über Waltraud Fesser aktiv im Vorstand mitgewirkt hat: eben keine zusätzlich stigmatisierenden "Beratungen" zu rascher, drastischer Gewichtsreduktion als (Schein-) Lösung der Probleme, die oft auch noch abfällig "ungenügendem Selbstmanagement" zugeschrieben wurden oder noch werden. Medizinisch wird eine solche Gewichtsreduktion heute sogar als bedenklich angesehen: Kein wirklicher Erfolg aber Entmutigung - sogar Entwicklung von Gallensteinen im somatischen Bereich, so verschlechtert sich eher bei unglücklich Betroffenen die sowieso schon schwere Situation.

Eine positive zielorientierte Sicht zu Aktivität, Teilhabe und Lebensfreude wurde auch aus der Arbeit der Fachgesellschaften übernommen: Die Hilfen sollen ausgerichtet werden auf Verbesserung der Situation des Einzelnen! Dabei hat sich seit 2003 Einiges getan: Ernährungsempfehlungen wurden entideologisiert. Zusammenhänge mit anderen medizinischen Fragen vor allem Diabetes Typ 2 sind in den Fokus geraten. "Operationen" wurden schonender und wirksamer, auch Medikamente sind nun verfügbar, die wirklich wirksam sind wie etwa im Darm wirksame sogenannte GLP1-Analoga, die anfangs eigentlich für "Alters-Diabetes" entwickelt wurden. Das ermöglicht auch eine ehrliche Diskussion zu Wirkungen und Nebenwirkungen. Die psychologische Einschätzung hat sich ebenfalls positiv geändert: Anerkennung der Leistung von Betroffenen, die von weiterer Unterstützung und Ermutigung in der Bewältigung der chronischen Krankheit profitieren.

Neben einmaligen und regelmäßigen Aktionen, Vorträgen und Workshops zum Thema Adipositas ist für uns die Mitgliederversammlung immer wieder wichtig in unserer Jahresplanung mit Vorträgen von Expert:innen zu Bewegung, Stigmatisierung oder verwandten Bereichen wie "Dicksein als Gag-Garant in der Comedy – alles nichts Neues. Oder?". Mit unseren Themen werfen wir so einen Blick über den medizinisch-fachspezifischen Horizont hinaus.

Weitere Aktionen wurden außerhalb vom Setting Schule beispielsweise zu "Aktiven Kinderfreizeiten" vom ANW begleitet und eine Dokumentation ‚Salinental‘ dazu erstellt. Es könnte als Leuchtturmprojekt Multiplikatoren helfen um auf den Wert von aktiven Kinderfreizeiten aufmerksam zu machen. Weiterhin möchten wir konzeptuell arbeiten, z.B. mit der Formulierung niedrigschwelliger Tipps wie "Gesunde Ernährung".

Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie haben uns vieles 2020-2022 nicht so tun lassen, wie angestrebt. Aber das kommt nun langsam in Schwung.

Mit "Pausenspiele" 2023 werden wir auch dieses Konzept, das mit seinen vielseitigen, barrierefreien Freizeitspielen für mehr Bewegung im Schulalltag sorgt, weiterentwickeln und mit passenden, von uns erarbeiteten Materialien im Corporate Design ausstatten.

2021 wurde ein Expertenkreis mit Vertretern der GKV, ärztlich und psychologisch erfahrenen Menschen, Vertretern der Kommunen sowie der Gesundheitswirtschaft gegründet um neue Schritte vorzubereiten. Jeder trägt mit eigenen Mitteln zu dem Fortschritt in Aktionen bei. 2022 hat sich der Kreis konsolidiert und kann sich nun öffnen für weitere Experten aus allen Versorgungsbereichen, sowohl aus der Mitgliedschaft des ANW oder auch direkt aus der täglichen Arbeit mit Betroffenen.

Unsere aktuellen Aktionen sind nicht nur ausgerichtet auf den "Start eines DMP Adipositas" der nun für August 2023 angekündigt ist, sondern vor Allem mit dem Ziel den Blick und die Bedarfe der Betroffenen in Behandlung und Prävention stärker in das Bewusstsein der allgemeinen und fachlichen Öffentlichkeit zu bringen. Dafür bewährt sich die Unterstützung von Kooperationspartnern der GKV, der Gesundheitswirtschaft, medizinischen Teams und Fachgesellschaften. Beispielhaft war der Termin am Welt-Adipositastag 2022 im Gemeinschaftsklinikum Koblenz. Schirmherr Gesundheitsminister Hoch eröffnete die kooperationsorientierte regionale Tagung "Multimodale Ansätze der Adipositastherapie in Rheinland-Pfalz – Wird zu viel gefordert oder zu wenig umgesetzt?".

Es tut sich also viel – und gibt viel zu tun: Alle, die aktiv mitwirken möchten, sind eingeladen sich auf Basis dieser Entwicklung zu beteiligen, um diese Botschaften in Deutschland bekannter und damit wirksamer zu machen.


Autor:
Dr. med. Johannes Oepen
FA Kinder- u.Jugendmedizin
FA physikalische u. rehabilitative Medizin
Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz e.V., Vorsitzender
Tel.: 0671 8355101
Fax 0671 8355141


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (4) Seite 30-32