Aktuell gibt es eine Reihe von Publikationen zu einem neuen Trend in der Laboratoriumsmedizin, der Durchführung von Labormessungen durch den Patienten (hier als "Consumer" bezeichnet) selbst [Shih 2024, Gram 2024, Lippi 2024, Orth 2021]. Solche Selbstmessung von Laborparametern durch die Nutzer ("Direct-To-Consumer-Testing", DTCT) sind konzeptionell für die Diabetologie nicht wirklich etwas Neues und man fragt sich, ob dieser Trend für diesen Indikationsbereich eine Relevanz hat. Entsprechende Produkte werden auch bei Messen vorgestellt, wie z. B. der "Consumer-Electronics", die im Januar jeden Jahres in Las Vegas stattfindet. D. h. die einschlägigen Firmen sehen hier neue Absatzmärkte, auch getrieben von dem Wunsch vieler Menschen, möglichst viele ihrer Körperfunktionen mehr oder weniger permanent zu überwachen.
Einleitung
Als vor mittlerweile etwa 50 Jahren die Selbstmessung der kapillären Glukosekonzentration unter Verwendung von Teststreifen ("Self-Monitoring of Blood Glucose", SMBG; eigentlich eine frühe Variante von DTCT) durch Menschen mit Diabetes ("People with Diabetes", PwD) eingeführt wurde, stellte dies eine Revolution dar. Dass ein PwD selbst einen Laborparameter mit einer ausreichenden Messgüte ermitteln könnte und daraus vor allem therapeutische Maßnahmen ableiten und durchführen sollte, die ja schon ernsthafte und unmittelbare Konsequenzen haben können, wurde von vielen Diabetologen äußerst kritisch gesehen und deshalb vehement abgelehnt. Solche Diskussionen erscheinen heute als dunkelste Steinzeit, sind aber de facto erst wenige Jahrzehnte her und die Realität ist heute, dass PwD die Messung der Glukosekonzentration in einer kapillären Blutprobe mit einem kleinen Messsystem in kürzester Zeit in einer Qualität durchführen können, wie dies früher guten Laborsystemen vorbehalten war. In diesem Sinne ist der Einsatz von Systemen zum kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM) zur Therapiesteuerung, insbesondere bei PwD mit Typ-1-Diabetes und solchen mit Typ-2-Diabetes, die eine intensivierte Insulintherapie durchführen, ebenfalls eine DTCT-Anwendung.
Selbst wenn die diagnostische Option "Glukosemessung" wohl die mit Abstand am häufigsten durchgeführte "Labormessung" in Rahmen der Diabetestherapie ist, gibt es weitere Laborparameter, die häufig gemessen werden, vielleicht auch häufiger als dies in der Praxis der Fall ist, allen voran der HbA1c-Wert. Bisher gibt es wohl eher wenige PwD, die eine HbA1c-Messung selbst unter häuslichen Bedingungen (d. h. mit kapillären Blutproben) durchführen, vermutlich auch wegen der damit verbundenen Kosten und bisher eher wenigen Angeboten. Des Weiteren ist die Messung von Lipidparametern von Interesse (ebenfalls in kapillären Blutproben), aber auch von Ketonkörpern, wobei dies mehr unter Sicherheitsaspekten geschieht und auch kontinuierlich erfolgen kann [Heinemann 2023]. Die Messung von Antikörpern, C-Peptid, Insulin u.ä. fallen eher nicht in den Zielbereich von DTCT, verlangen sie doch die Gewinnung von venösen Blutproben.
Ziel dieses Kommentars ist es, die Pro- und Contra-Argumente von DTCT kritisch zu beleuchten und zu diskutieren, warum dieser Trend für die Diabetologie von Relevanz ist. Dabei können viele Aspekte aus beiden Blickwinkeln betrachtet werden. Es mag für manchen Leser "killing arguments" für oder gegen DTCT geben, diese können auf die eigene Position im Zusammenhang mit der Diabetestherapie des jeweiligen PwD zurückzuführen sein.
Pro
- Eigenständigkeit der Nutzer: D. h. die PwD können die Messungen durchführen, wann es ihnen passt/als notwendig betrachtet wird. Die PwD müssen nicht für eine Glukosemessung in die Arztpraxis kommen, was vor der Einführung von SMBG selbstverständlich war!
- Unmittelbarkeit der Messergebnisse: Es müssen keine Blutproben an ein Labor gesandt werden, mit entsprechenden zeitlichen Verzögerungen der Verfügbarkeit der Resultate. Dies ist auch aus Umweltschutzaspekten positiv zu bewerten.
- Präanalytik: Es müssen keine (geeigneten) Teströhrchen vorgehalten werden und die Blutproben entsprechend gehandhabt, gelagert und versandt werden.
- Kosten: Weniger Kosten/Zeitaufwand für die PwD, sie müssen nicht einen Termin in einer Praxis ausmachen und diese aufsuchen, um die Labormessung zu initiieren.
- Häufigkeit der Messungen: Die Messfrequenz eines Parameters (oder einer Kombination von verschiedenen Parametern) kann von dem PwD unmittelbar an seine aktuelle Bedarfssituation angepasst werden. Das Reagieren auf einen aktuellen Bedarf ist eine Option, die ansonsten einer möglicherweise aufwändigen Interaktion mit dem Diabetes-Team bedarf. In einer hektischen Praxis einen geeigneten Mitarbeiter bei einem akuten Bedarf telefonisch zu erreichen, kann schwierig sein. Es gilt diesem die aktuelle Situation zu schildern/erklären, führt dann zu einer Fahrt in die Praxis etc. Dies kann aufwändig sein und zeitlich unangemessen für die konkrete Situation der PwD.
Contra
- Gesamtsituation des Nutzers: Die Messung eines einzelnen Laborwertes ohne Berücksichtigung des Gesamtstatus des Nutzers sowie dessen aktueller medizinischen Situation, kann zu Fehlentscheidungen durch den PwD führen. Der Nutzer trifft möglicherweise Therapieentscheidungen, ohne deren medizinische Tragweite vollständig zu überblicken. Er kommt zu spät in die Praxis (oder dann ins Krankenhaus), weil er sich selbst zu sehr in Sicherheit wiegt, glaubt die Situation einschätzen zu können. Dabei ist die Frage, ob dieses Risiko nicht durch andere Vorteile, wie die unmittelbare Verfügbarkeit der mit einem Messergebnis verbundenen Information (z. B. erhöhte Ketonkörper-Konzentrationen) aufgewogen wird.
- Kosten: Wer trägt die Kosten für die eigentliche Messung mit einem entsprechenden Produkt? Der Nutzer selbst oder seine Krankenkasse? Die Kosten für die einzelne Messung sind wahrscheinlich (deutlich) höher als wenn Hunderte von Messungen auf einem großen Laborautomaten durchgeführt werden, wobei dies abzuklären ist. D. h. wie sind die Kosten für die Messung im Vergleich zu der Summe von Kosten, die der Krankenkasse von dem Labor/Arzt in Rechnung gestellt werden?
- Umweltgesichtspunkte: Aus solchen Aspekten heraus betrachtet ist die Herstellung, der Vertrieb, die Nutzung und die Entsorgung der Menge an "Produkt" für eine einzelne Messung (oder eine kleine Serie von Messungen) vermutlich deutlich problematischer, als die Verwendung eines einzelnen Teströhrchens für die Messung in einem Zentrallabor. Es sollte vergleichend der ökologische Fußabdruck von DTCT-Messungen zu solchen im Zentrallabor betrachtet werden. Bei solchen komplexen Betrachtungen ist allerdings eine Reihe von Aspekten zu berücksichtigen, die unter ökologischen Gesichtspunkten auch von erheblicher Relevanz sind, wie weniger Fahrtaufwand etc.
- Messfrequenz: Dies kann von dem Nutzer an seinen akuten Bedarf angepasst werden (was ein klares Pro ist), die Verfügbarkeit einer solchen Option kann aber auch dazu führen, dass die Messungen wesentlich häufiger durchgeführt werden, als dies eigentlich indiziert/notwendig ist. Wie bei anderen Optionen zur Überwachung von Körperfunktionen durch Wearables auch, kann eine Art Manie entstehen [Jacobsen 2021].
- Qualitätsmanagement: Eine kritische Frage ist die nach der Qualität der Messung und wie die anfallenden Daten erfasst und analysiert werden. Wenn die bei DTCT zum Einsatz kommenden Produkte an anderen Stellen der Welt hergestellt und unter unklaren Bedingungen über weite Distanzen transportiert und gelagert werden, wie sicher erfolgt dann die Messung mit einer ausreichenden Qualität? Gibt es eine Überwachung der Messgüte und -qualität, auch im Sinne der Richtlinien der Bundesärztekammer (Rili-BÄK)? Es ergibt keinen Sinn, die Anforderungen an die Messgüte der Laborparameter im professionellen Umfeld immer weiter zu erhöhen, um aus medizinischer Sicht heraus den PwD eine möglichst gute Betreuung zu ermöglichen, wenn sich andererseits ein Graubereich entwickelt, der sich einer Überwachung entziehen kann, weil die Nutzer die Produkte online bestellen und vor die Haustür geliefert bekommen.
Informationen und Schulung
Wenn in Zukunft mehr "Labormessungen" durch den Nutzer selbst vorgenommen werden (wovon auszugehen ist), dann ist die Bereitstellung von adäquaten Informationen zu dem jeweils gemessenen Parameter unabdingbar. Dies verlangt, dass die Informationen in einer Art und Weise aufbereitet werden, auch unter Nutzung moderner Medien, dass auch Laien den Messwert richtig interpretieren können, was auch bedeuten kann, dass sie einen Arzt aufsuchen. Wie man im Diabetes-Bereich sehen kann, können Patienten mit einer chronischen Erkrankung sehr wohl adäquat mit selbst-gemessenen Messwerten umgehen und ihre Glukosekontrolle optimieren. Dafür ist eine gute Schulung unabdingbar.
Künstliche Intelligenz
Eine ganze Reihe der bisher diskutierten Aspekte und deren Bewertung basieren darauf, wie bisher Diabetestherapie durchgeführt wird und wurde. Durch die zunehmende Nutzung von Künstlicher Intelligenz ("Artificial Intelligence", AI) werden sich hierbei vermutlich eher schneller als später wesentliche Dinge ändern. Wenn der PwD ein Messergebnis durch einen DTCT-Ansatz bekommt – welches vermutlich in vielen, wenn nicht in allen Fällen – in digitaler Form vorliegt, dann kann dieses direkt durch AI weiter genutzt/verarbeitet werden, durch sogenannte "Clinical Decision Support Systems" (CDSS) durch das Diabetes-Team oder durch "Patient Decision Support Systems" (PDSS) durch den PwD selbst.
Der Messwert steht für die AI nicht für sich isoliert da, sondern wird von dieser in einem wesentlich größeren Kontext gesehen, d. h. zusammen mit diversen anderen Messwerten des jeweiligen Nutzers und weiteren relevanten Informationen, wie dessen Bewegungsverhalten, der Umgebungstemperatur etc. Weiterhin erfolgt die Anbindung an dessen gesamte Vorgeschichte und das aktuelle medizinische Wissen durch Berücksichtigung entsprechender Datenbanken. Wearables liefern parallel dazu der AI Informationen über die Vitalzeichen des Nutzers, wobei diese nichtinvasiv und kontinuierlich erfasst werden. Basierend auf dieser Vielzahl von Informationen kann die AI ausgesprochen fundiert dem Nutzer innerhalb von Sekunden konkrete Handlungsanweisungen zukommen lassen; sie kann bei Bedarf aber auch andere Aktivitäten initiieren, wie z. B. Notarzteinsätze.
Im Sinne einer Verbesserung des Qualitätsmanagements des einzelnen Nutzers kann eine AI eine Güte bei der langfristigen Überwachung des PwD erreichen, wie sie ein Diabetes-Team kaum bieten kann, eben auch zwischen den Visiten. Ob sie allerdings ungewöhnliche Situationen und Konstellationen immer adäquat erkennen und geeignet handeln kann, ist damit nicht gewährleistet. Selbst wenn dies nicht immer geben ist, wird die AI in vielen Situationen gut, wenn nicht besser agieren als es ein Mensch kann, wie es beim autonomen Autofahren auch der Fall ist. Hier fokussiert sich die Berichterstattung in den Medien (= unsere Wahrnehmung) auf "Fehler", wobei Menschen solche Fehler auch machen, vermutlich sogar häufiger als die AI.
In Anbetracht der Entwicklungsgeschwindigkeit von AI und dem Ausmaß wie diese in unserer Welt eingesetzt wird, auch in einem professionellen Sinne in der Labormedizin, d. h. zur Erkennung von Mustern, kritischen Situationen, greifen diese Betrachtungen möglicherweise zu kurz. Wir konnten uns vor 10 oder 20 Jahren auch nicht vorstellen, in welchem Ausmaß wir heute mit Smartphones interagieren, in welchem Ausmaß diese schon eine Steuerung unseres Lebens übernommen haben, die wir früher nur belacht hätten. In unserer modernen digitalen Welt sind und werden zunehmend viele Aufgaben durch den Nutzer selbst gehandhabt, ohne dass wir noch darüber nachdenken. Jeder von uns empfindet die digitale Handhabung seines Bankkontos durch ihn selbst als Selbstverständlichkeit, früher war dies mit einem Besuch in "heiligen Bankhallen" verbunden, wo die "Hohepriester" huldvoll Zahlen in kleine Sparbücher eintrugen und Geld in Empfang nahmen oder auszahlten. Alles Dinge, die wir uns heute kaum noch vorstellen können und die die Welt massiv verändert haben.
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Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2025; 34 (1) Seite 40-42