Die rechtlichen Aspekte der Diabetestherapie werden in der täglichen Praxis oft unterschätzt, können aber erhebliche Konsequenzen für Patienten und behandelnde Ärzte haben. Unser Redaktionsmitglied RA Oliver Ebert beleuchtet in dieser neuen 3-teilifgen Serie aktuelle juristische Herausforderungen und gibt praxisnahe Handlungsempfehlungen.
Im ersten Beitrag erfahren Sie den aktuellen Stand der Rechtsprechung zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Patienten mit Diabetes noch einen Schwerbehindertenausweis beanspruchen können. Sie erhalten Tipps, wie der Patient bestmöglich bei der Antragsstellung unterstützt werden kann – und warum es allein mit Diabetes nur noch selten möglich ist, dass eine Schwerbehinderung anerkannt wird.
Diabetes & Schwerbehinderung
Eines der häufig nachgefragten Rechtsthemen bei der Beratung von Diabetes-Patienten ist der Schwerbehindertenausweis. Als Schwerbehindert anerkannte Menschen können nicht nur vorzeitig in Altersrente gehen, sondern haben u.a. auch Anspruch auf Steuervergünstigungen und einen erhöhten Kündigungsschutz im Arbeitsleben. Allerdings sind die Voraussetzungen zwischenzeitlich recht hoch; allein mit Diabetes ist der Schwerbehindertenstatus nur noch in Ausnahmefällen erreic-
hbar.
Der Schwerbehindertenausweis bringt einige nennenswerte Vergünstigungen mit sich. Einer der wichtigsten Nachteilsausgleiche ist die vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen.
Schwerbehinderte Menschen können bereits mit 65 Jahren ohne Abzug vorzeitig in Altersrente gehen; mit Abzügen sogar schon teilweise ab Vollendung des 62. Lebensjahres (für jeden Monat eines Beginns vor Vollendung des 65. Lebensjahres wird ein Abschlag in Höhe von 0,3% fällig). Wichtig ist auch der erhöhte Kündigungsschutz im Arbeitsleben. Dieser gilt unabhängig von der Betriebsgröße und greift daher auch in Kleinbetrieben bis 10 Mitarbeitern, in denen es ansonsten keinen gesetzlichen Kündigungsschutz gibt.
Einem schwerbehinderten Mitarbeiter darf nur gekündigt werden, wenn zuvor die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt wurde. Für Arbeitgeber ist es daher mit einigen Fallstricken und erheblichem Aufwand verbunden, eine Kündigung erfolgreich durchzusetzen.
Schwerbehinderte Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, haben dazu auch Anspruch auf bis zu fünf Tage bezahlten Sonderurlaub. Bei Teilzeitbeschäftigung reduziert sich der Urlaubsanspruch entsprechend.
Zudem müssen diese auf Wunsch "von Mehrarbeit" freigestellt werden, d.h. sie müssen dann nicht mehr als die gesetzliche Regelarbeitszeit von 8 Stunden werktäglich arbeiten. Dazu bringt der Schwerbehindertenausweis einen Steuerfreibetrag von mindestes 1 140 EUR, der beim Finanzamt geltend gemacht werden kann.
Diese – sowie noch zahlreiche andere Vergünstigungen – machen den Schwerbehindertenausweis natürlich auch für Diabetes-Patienten interessant. Leider bestehen hier aber oft falsche Erwartungshaltungen, die durch fehlerhafte Informationen und einseitige Erfahrungsberichte im Internet befördert werden. Für Praxen bringt dies erheblichen Aufwand, denn die Patienten bitten oft um entsprechende Atteste, Bescheinigungen oder Gutachten. Häufig wird damit jedoch unnötig Zeit und Ressourcen vergeudet, denn die Anforderungen an die Feststellung einer Schwerbehinderung sind zwischenzeitlich sehr hoch. Es kommt zwar mitunter tatsächlich vor, dass Behörden auf eine pflichtgemäße Prüfung verzichten und den Antrag wohlwollend "durchwinken". In aller Regel reicht der Diabetes allein aber kaum mehr aus, um damit den Schwerbehindertenausweis zu erhalten.
Wie gehen Patient vor, um den Schwerbehindertenausweis zu erhalten?
Ein Schwerbehindertenausweis wird ausgestellt, wenn der Patient als schwerbehindert anerkannt ist.
Hierzu muss dieser bei der zuständigen Behörde – in der Regel dem örtlichen Versorgungsamt – einen entsprechenden Antrag stellen. Die Behörde prüft dann anhand der eingereichten Unterlagen, welche dauerhaften Gesundheitsstörungen vorliegen und ob diese zu einer relevanten Beeinträchtigung der Teilhabe am Alltagsleben führen. Anschließend werden die Gesundheitsstörungen jeweils mit einem sogenannten Grad der Behinderung (GdB) auf einer Skala zwischen 0 bis 100 bewertet. Eine Schwerbehinderung liegt (erst) vor, wenn ein GdB von mindestens 50 erreicht ist.
Die Behörde prüft dabei, ob die vorliegenden Beeinträchtigungen sich wechselseitig auswirken, beispielsweise ob diese ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen. Anschließend wird hieraus ein Gesamt-GdB gebildet; es findet jedoch keine Addition der Einzel-GdB statt. Die Behörde muss insbesondere auch prüfen, ob der resultierende Gesamt-GdB verhältnismäßig ist im Vergleich zu dem GdB, der typischerweise bei anderen Krankheiten zuerkannt wird.
Es kann daher durchaus möglich sein, dass beispielsweise für verschiedene Krankheiten festgestellte Einzel-GdB von 40, 30 und 10 insgesamt dennoch nur in einen Gesamt-GdB von 40 ergeben.
Schwerbehinderung allein aufgrund des Diabetes: nur selten möglich
Die Bewertung des Diabetes erfolgt anhand der im links unten stehenden Kasten angegebenen Kriterien. Insulinpflichtige Patienten erhalten in der Regel problemlos einen GdB von 30 bis 40, die damit einhergehenden Beeinträchtigungen reichen aber noch nicht für die Feststellung einer Schwerbehinderung aus. Ein GdB von 50 kommt nur bei Patienten in Betracht, die eine "Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind". Es muss also eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung vorliegen.
Damit der Diabetes zu einer Anerkennung als "schwerbehindert" führt, müssen hiernach folgende Voraussetzungen vorliegen:
- Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen
- selbstständige Anpassung der Insulindosis (ICT, Pumpentherapie)
UND
- erhebliche Einschnitte, welche gravierend die Lebensführung beeinträchtigen
Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen müssen dokumentiert sein.
Selbst ein hoher Therapieaufwand – also häufige Blutzuckermessungen, das Spritzen von Insulin bzw. der mit Insulinpumpe oder rtCGM verbundene Aufwand – stellen nach aktueller Rechtslage noch keine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung dar. Vielmehr muss die Krankheit noch andere Umstände mitbringen, durch die man - zusätzlich zum Therapieaufwand - erheblich in der Lebensführung und der Teilhabe am Alltagsleben beeinträchtigt wird. Für Kinder gelten dabei diesselben Kriterien wie für Erwachsene (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12.12.2024 – B 3 P 9/23)
Rechtsprechung setzt hohe Hürden
Solche gravierenden Beeinträchtigungen liegen nach Auffassung der Rechtsprechung selbst dann noch nicht vor, wenn es zu "spürbaren" Beeinträchtigungen bei Planung des Tagesablaufs, der Gestaltung der Freizeit, der Zubereitung der Mahlzeiten und der Mobilität zu Einschränkungen oder Belastungen kommt. Und auch wenn diese Aktivitäten "mit einem erhöhten planerischen Aufwand verbunden" bzw. nur "unter erschwerten Bedingungen (weitere Blutzuckermessungen; beim Schwimmen erneutes Anlegen der Pumpe), letztlich aber nicht ausgeschlossen" seien, lässt dies meist noch keinen Rückschluss auf gravierende Teilhabeeinschränkungen zu. Erhebliche Einschnitte" in der Lebensführung sind "nur unter strengen Voraussetzungen zu bejahen"; die mit einer "Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte sind für sich genommen nicht ausreichend" (LSG Baden-Württemberg, L 3 SB 382/24, Beschluss vom 25.03.2025).
Auch einer Entscheidung des Landessozialgericht NRW (Urteil vom 02.12.21, AZ: L 6 SB 11/20) ist zu entnehmen, wie streng die Gerichte dies auslegen: "Die von dem Kläger geschilderten Einschränkungen beeinträchtigen seine Lebensführung zwar nachvollziehbarerweise spürbar, jedoch nicht gravierend, wie es die gesteigerten Voraussetzungen [..] für einen GdB von 50 erfordern. So kann er etwa nach wie vor seinen Beruf ausüben, ohne dass es bislang zu Arbeitsunfähigkeitszeiten gekommen ist, sowie nach eigenen Angaben zu Hause "die üblichen Mahlzeiten" einnehmen und auch im Betrieb essen. Längere Autofahrten (etwa in den Urlaub) sind möglich, wenn auch mit Pausen, die allerdings nicht in größerer Zahl erforderlich sind [..]). Soweit der Kläger anführt, er habe sein Hobby Motorradfahren aufgeben müssen und sei zudem in seinem Sexualleben eingeschränkt, sind auch dadurch gravierende Beeinträchtigungen im dargestellten Sinne nicht dargetan, weil die Gründe, die der Kläger insofern anführt – nämlich solche, die den Planungsaufwand beschreiben –, im Therapieaufwand selbst liegen bzw. zwangsläufig damit verbunden sind und keine zusätzlichen Einschnitte darstellen. "
Generell achten die Gerichte auch darauf, dass der Vergleichsmaßstab zu anderen Krankheitsbildern eingehalten wird. Ein GdB von 40, der bei insulinpflichtigem Diabetes fast immer festgestellt wird, ist nämlich schon recht hoch – der Verlust eines Auges führt im Vergleich dagegen nur zu einem GdB von 30. Für das Erreichen des Schwerbehindertenstatus müssen die funktionellen Beeinträchtigungen in der Auswirkung daher vergleichbar sein "wie etwa dem völligen Verlust der Nase, der ganzen Hand, eines Armes im Unterarm oder eines Beines im Unterschenkel, für die ein GdB von 50 und damit die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft vorgesehen sind." (LSG NRW, (Urteil vom 02.12.21, AZ: L 6 SB 11/20). Eine Schwerbehinderung aufgrund des Diabetes liegt daher beispielsweise nur vor, wenn "die zu berücksichtigende Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsstörungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft so schwer wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung beeinträchtigen." (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09.03.2016 - L 7 SB 81/13)
Vor diesem Hintergrund ist es meistens schwierig, allein aufgrund des Diabetes einen GdB von 50 zu erreichen. Hat der Patient neben Diabetes allerdings noch andere erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen, dann stehen die Chancen auf den Schwerbehindertenausweis besser. Relevant können insbesondere sein: Störungen des Bewegungsapparates, Bandscheibenvorfälle, Allergien oder Folgeerkrankungen wie Neuropathie, Retinopathie oder Nephropathie. Diese Erkrankungen werden dann jeweils gesondert bewertet und mit einem GdB eingestuft. Bei der Gesamtbewertung kann es im Ergebnis dann doch zur Feststellung einer Schwerbehinderung kommen.
Tipps zur Antragstellung
Im Antrag auf Feststellung einer Behinderung sollte der Patient ausführlich auf alle genannten Voraussetzungen eingehen. Relevant können beispielsweise auch massive Störungen des Nachtschlafs (zB durch Alarme von rtCGM/Pumpe) sein, wenn diese sich auf den Alltag auswirken.
Wird vom Arzt eine "aussergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellage" bestätigt, dann kann dies ebenfalls berücksichtigt werden.
HbA1c bzw.GMI oder TIR sind eher irrelevant. Aussagekräftiger sind dagegen die Stabilität der Stoffwechsellage, die Anzahl und Ausprägung von hypo- und hypegläkämischen Lagen sowie ob es zu Blutzuckerschwankungen kommt. Relevante Kennzahlen hierfür sind die die Standardabweichung (SD), der Variationskoeffezient.(VK bzw. CV) sowie TBR ("time below range") und TAR ("time above range"). Der Patient solle auch ausführlich beschrieben und begründen, inwiefern er aufgrund des Diabetes erhebliche Einschränkungen erleidet, die sich "gravierend" auf seine Lebensführung auswirken. Hierzu sollte er möglichst umfassend schildern, wie sein reguläres Alltagsleben durch den Diabetes beeinträchtigt wird. Weitere Informationen zum Thema sowie eine kostenlose Broschüren und Checkliste zur Antragsstellung habe ich auf meiner Seite zusammengestellt: www.diabetes-und-recht.de
Cave: Verschlimmerungsantrag kann zur Herabstufung führen
Bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustands oder dem Hinzutreten weiterer Erkrankungen kann der Patient einen Änderungsantrag stellen. Patienten die bereits als schwerbehindert anerkannt sind, sollten hier jedoch sehr vorsichtig sein, denn es kann auch zu einer Herabstufung, d.h. dem Verlust des Schwerbehindertenstatus kommen, Auch ein unbefristet ausgestellter Schwerbehindertenausweis bietet insoweit keinen Bestandsschutz. Die Behörde muss nämlich prüfen, ob die Voraussetzungen für den Status auch nach aktueller Rechtslage weiterhin vorliegen. Es kann daher durchaus vorkommen, dass für weitere Krankheiten zwar jeweils geringe zusätzliche Einzel-GdB festgestellt werden, bislang hoch eingestufte Beeinträchtigungen aufgrund der aktuellen Vorschriften nun aber niedriger bewertet werden müssen.
Gerade Patienten, die von einer vorzeitigen Altersrente profitieren wollen, sollte daher von einem Verschlimmerungsantrag abgeraten werden, sofern die neu hinzugekommen Beeinträchtigungen nicht wirklich massiv und problemlos nachweisbar sind.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (5) Seite 34-38
