Adipositas ist eine klassifizierte Erkrankung [Krollner 2024], die als eine über das normale Maß hinausgehende Zunahme des Körperfetts definiert ist. Sie hat jedoch eine komplexe, multisystemische Ätiologie [Müller 2022]. Die Erkrankung wird durch die Berechnung des Body-Mass-Index (BMI), d. h. des Quotienten aus dem Körpergewicht und dem Quadrat der Körpergröße (kg/m²) bestimmt. Ein BMI ≥ 25 kg/m² signalisiert Übergewicht, und ab einem BMI ≥ 30 kg/m² kann die Diagnose Adipositas gestellt werden, wobei die Adipositas nochmal nach Schweregrad unterteilt wird: Grad I (BMI 30-34,9 kg/m²), Grad II (BMI ≥ 35-39,9 kg/m²) und Grad III (BMI ≥ 40 kg/m²).
Zusammenfassung
Jede vierte erwachsene Person in Deutschland ist von Adipositas betroffen. Dabei steigt die Prävalenz dieser chronischen Erkrankung weiter an. Mit den in Kraft getretenen Richtlinien für ein Disease Management Programm (DMP) Adipositas steht der Behandlung der Erkrankung eine neue Option innerhalb der deutschen Versorgungslandschaft zur Verfügung, die einen multimodalen Ansatz verfolgt und Betroffene beim Selbstmanagement der Adipositas unterstützt. Die Inhalte der Richtlinien zielen darauf ab, das Körpergewicht zu reduzieren bzw. zu stabilisieren und die transsektorale Zusammenarbeit hinsichtlich Adipositas-assoziierter Komorbiditäten zu verbessern sowie letztlich Morbidität und Mortalität zu reduzieren.
Schlüsselwörter
Adipositas, DMP Adipositas, multimodaler Ansatz, Komorbiditäten
Obesity in standard care – the new DMP
Summary
Obesity affects one in four adults in Germany. The prevalence of this chronic disease continues to rise. The guidelines for a disease management programme (DMP) for obesity that have come into force provide a new option for treating the disease in the German healthcare landscape, which pursues a multimodal approach and supports those affected in the self-management of obesity. The content of the guidelines is aimed at reducing and/or stabilising body weight, improving trans-sectoral collaboration on obesity-related co-morbidities and reducing morbidity and mortality.
Keywords
Obesity, DMP for obesity, multimodal approach, co-morbidities
Einleitung
Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) waren in den Jahren 2008 bis 2011 in Deutschland 23,3 % der Männer und 23,9 % der Frauen adipös [Mensink 2013]. Dabei nimmt die Prävalenz der Adipositas in Deutschland und weltweit zu [NCD Risk Factor Collaboration 2024, Mensink 2013]. Vor dem Hintergrund, dass kardiovaskuläre Erkrankungen global der häufigste Grund für Mortalität im Zusammenhang mit Adipositas sind (41 %), gefolgt von Diabetes (9,5 %), malignen Neoplasien (5,4 %) und der chronischen Nierenkrankheit (4,7 %) [Collaborators GBDO 2024], ist eine Zunahme der Adipositas-assoziierten Morbidität und Mortalität auch zu erwarten.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Verbesserung des Adipositas-Managements in Deutschland war die Anerkennung der Adipositas als chronische Erkrankung durch den Bundestag im Jahr 2020. Daraufhin konnten Richtlinien für ein Disease Management Programm (DMP) Adipositas entwickelt werden, die zum 01. Juli 2024 in Kraft getreten sind [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a]. Die Richtlinien dieses DMPs zielen darauf ab, Menschen mit Adipositas bei der Behandlung dieser chronischen Erkrankung zu unterstützen, sowie den Krankheitsverlauf durch eine strukturierte und leitliniengerechte Betreuung positiv zu beeinflussen.
DMP: Disease Management Programme
GFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate
GGT: Gamma-Glutamyl-Transferase
GPT: Glutamat-Pyruvat-Transaminase
HbA1c: glykiertes Hämoglobin
HDL: High Density Lipoprotein
LDL: Low Density Lipoprotein
RKI: Robert-Koch-Institut
TGZ: Triglyzeride
TSH: Thyreoidea-stimulierendes Hormon
Bausteine der Adipositastherapie
Im Mittelpunkt der Adipositasbehandlung steht die Basistherapie mit ihren drei Komponenten: Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Aktivität und Verhaltensänderung (Tabelle 1) [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a, DAG 2014, DGAV 2018]. Ziele sind ein Kaloriendefizit zu erreichen, sowie die Adhärenz und Motivation zu fördern. Zusätzlich zur Basistherapie kann bei Indikation eine adjuvante medikamentöse Therapie eingesetzt werden [DAG 2014] (Tabelle 1). Mit modernen Inkretinmimetika, die ergänzend zu einer Lebensstilintervention angewendet werden, konnten in klinischen Studien Gewichtsreduktionen von 16,9 % (Semaglutid) und 22,5 % (Tirzepatid) erzielt werden [Wilding 2021, Jastreboff 2022]. In bestimmten Fällen kann auch die bariatrische bzw. metabolische Chirurgie als Maßnahme in Betracht gezogen werden (Tabelle 1) [DAG 2014, DGAV 2018].
Tab. 1: Bausteine der Adipositastherapie und entsprechende Indikationen [DAG 2014, DGAV 2018].
DMP Adipositas
Einschreibekriterien für das DMP Adipositas
Das DMP Adipositas richtet sich an Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und sich nicht in der Schwangerschaft oder Stillzeit befinden [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a]. Patienten mit Adipositas Grad II oder höher (BMI ≥ 35 kg/m²) können direkt eingeschrieben werden. Patienten mit Adipositas Grad I (BMI 30-34,9 kg/m²) dürfen ebenfalls teilnehmen, wenn sie mindestens eine der in den Richtlinien aufgeführten Komorbiditäten aufweisen (Abbildung 1) [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a].
Abb. 1: Einschreibekriterien für ein DMP Adipositas [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024].
Therapieziele innerhalb des DMP Adipositas
Die Kernziele im Rahmen des DMP Adipositas umfassen die Reduktion der vorzeitigen Sterblichkeit sowie die Erhaltung oder Verbesserung der Lebensqualität. Darüber hinaus sind die Prävention und Versorgung von Komorbiditäten von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang sollten individuelle Therapieziele unter Berücksichtigung des Vorliegens von Komorbiditäten und der persönlichen Situation des DMP-Teilnehmers festgelegt werden und auf die Erreichung der folgenden Endziele ausgerichtet sein:
- langfristige Senkung mit Stabilisierung des Körpergewichts oder Vermeidung einer weiteren Gewichtszunahme
- Reduktion des Risikos für metabolische, kardiale, zerebrovaskuläre und sonstige makroangiopathische Morbidität sowie Mortalität
- Prävention von Komplikationen, die mit Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen einhergehen
- langfristige Veränderungen des Lebensstils in Bezug auf Ernährung, Bewegungs- und Sitzverhalten
Als praktische Ziele für einen Gewichtsverlust werden innerhalb eines Zeitraums von 6 bis 12 Monaten nach Einschreibung in das DMP Adipositas eine Reduktion des Ausgangsgewichts um mindestens 5 % für Teilnehmer mit einem BMI bis 34,9 kg/m² sowie eine Reduktion um mindestens 10 % des Ausgangsgewichts für Teilnehmer mit einem BMI ab 35 kg/m² empfohlen. Um diese Ziele zu erreichen, sollten gemeinsam mit den DMP-Teilnehmern Ernährungskonzepte und ausgewogene Diäten ausgewählt werden, die zu einem Kaloriendefizit von etwa 500-600 kcal/Tag führen [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a]. Empfehlungen hierzu können unter anderem die Einnahme einer reduzierten Fett- und Kohlenhydratmenge, den Verzehr von ausreichend Ballaststoffen (mindestens 30 g/Tag), die Bevorzugung von überwiegend ungesättigten Fettsäuren und pflanzlichen Eiweißen, sowie intermittierendes Fasten umfassen. Unter Berücksichtigung der individuellen gesundheitlichen Situation sollen Teilnehmer auch zur körperlichen Aktivität motiviert werden [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a]. Beispielsweise kann ein wöchentliches Ausdauertraining von mindestens 2,5 Stunden pro Woche (150 bis 200 Minuten) empfohlen werden. Die Intensität des Trainings sollte dabei mindestens moderat sein und an möglichst vielen Tagen der Woche mit jeweils 30 bis 60 Minuten erfolgen.
Die individuellen Therapieziele sollen während der Behandlung regelmäßig überprüft und angepasst werden [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a].
Initialdiagnostik und Erstanamnese innerhalb des DMP Adipositas
Die Initialdiagnostik dient als Grundlage für die Einschreibung und sollte die in Tabelle 2 aufgeführten Punkte beinhalten. Obwohl die Diagnose einer Adipositas auf der Grundlage des BMI des Patienten erfolgt, sollte die Standarddiagnostik auch die weitere physische und psychische Verfassung des Patienten berücksichtigen. Falls vorhanden, sollten die Ergebnisse einer früheren Diagnose sowie die Behandlung und der Verlauf der vergangenen 12 Monate einbezogen werden. Ein besonderes Augenmerk sollte den in den Richtlinien des DMP Adipositas beschriebenen Komorbiditäten gelten. Dazu gehören die arterielle Hypertonie, Prädiabetes, Diabetes mellitus Typ 2, Hypothyreose, Hypogonadismus des Mannes, Polyzystisches Ovarialsyndrom, Schlafapnoe, Hypoventilationssyndrom, Depression, Angststörungen, Essstörungen (Binge-Eating-Störung, Night-Eating-Syndrom) und nicht-alkoholische Fettlebererkrankung [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a].
Neben der Notwendigkeit, Adipositas-assoziierte Komorbiditäten bei der Behandlung zu berücksichtigen, wird auch die Bedeutung einer vorurteils- und stigmatisierungsfreien Gesprächsführung zwischen Arzt und Patient für den Behandlungserfolg in den Richtlinien betont [NCD Risk Factor Collaboration 2024].
Nach der Einschreibung des Patienten mit Adipositas in das DMP sollte als erster Schritt eine Anamneseerhebung erfolgen (Tabelle 2). Da viele der Untersuchungspunkte von der subjektiven Wahrnehmung des Patienten abhängen, kann ein geeigneter Fragebogen zur systematischen Erfassung der anamnestischen Informationen verwendet werden. Nach der ausführlichen Anamnese sollen Arzt und Patient gemeinsam über die Therapieziele und Optionen sprechen, um eine gemeinsame Entscheidung zu treffen.
Tab. 2: Übersicht zur Initialdiagnostik und Erstanamnese im Rahmen eines DMP Adipositas [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024].
Verlaufsuntersuchungen innerhalb des DMP Adipositas
Das Erreichen der individuellen Ernährungs- und Aktivitätsziele, sowie notwendige Verhaltensanpassungen sollten in regelmäßigen Abständen überprüft und der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten überwacht werden. In den Richtlinien zum DMP Adipositas werden die in Tabelle 3 gelisteten Verlaufsuntersuchungen standardmäßig empfohlen.
Tab. 3: Übersicht zu den Verlaufsuntersuchungen im Rahmen eines DMP Adipositas [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024].
Therapeutische Maßnahmen innerhalb des DMP Adipositas
Zentrales Werkzeug des DMP Adipositas ist eine multimodale Patientenschulung, die mindestens ein Bewegungs- und ein Ernährungsmodul enthält und auf Verhaltensänderungen abzielt [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024]. Obwohl die Pharmakotherapie, insbesondere die Inkretin-basierte Therapie, zur Unterstützung der Gewichtsreduktion oder -erhaltung in Betracht gezogen werden kann, ist sie in der aktuellen Version der DMP-Richtlinie nicht berücksichtigt, da sie gemäß § 34 Abs. 1 Satz 7 bis 9 SGB V derzeit nicht Bestandteil einer Leistung der gesetzlichen Krankenkassen sein kann [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023a]. Eine medikamentöse Therapie kann jedoch ergänzend auf Selbstzahlerbasis erwogen werden.
Bariatrische und metabolische Eingriffe sollten bei Patienten mit einem BMI ≥ 40 kg/m2 oder einem BMI ≥ 35 kg/m2 und erheblichen Komorbiditäten, die durch eine Gewichtsabnahme positiv beeinflusst werden können, in Erwägung gezogen werden, sofern konservative Therapien ausgeschöpft wurden. Auch eine Operation im Sinne der Primärindikation, also ohne Vorbehandlung, kann unter Abwägung von Nutzen und Risiken in Betracht gezogen werden. Die Richtlinien des DMP Adipositas sehen hierfür entsprechende Überweisungen vor.
Die Nutzung geeigneter digitaler medizinischer Anwendungen kann Patienten als unterstützende Maßnahme empfohlen werden.
Koordination im Rahmen des DMP Adipositas
Innerhalb des DMP Adipositas sind Hausärzte als koordinierende Ärzte vorgesehen. In Ausnahmefällen können auch qualifizierte Fachärzte der Inneren Medizin oder entsprechend qualifizierte Einrichtungen diese Aufgabe auf Wunsch des Patienten übernehmen [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024]. Ihre Aufgabe besteht darin, die transsektorale Versorgung der Teilnehmer am DMP Adipositas zu strukturieren. Dazu gehört es zu prüfen, ob bei bestimmten Indikationen, wie z. B. endokrinen Störungen, Organmanifestationen, Komplikationen des Bewegungsapparats oder Anzeichen von psychischem oder krankheitsauslösendem Stress, eine Überweisung an den zuständigen Facharzt, eine qualifizierte Einrichtung oder einen Psychotherapeuten erfolgen sollte. Neben der Koordination sollen sie auch die Therapie gemeinsam mit den Teilnehmern planen, die Behandlung langfristig betreuen und den Verlauf elektronisch dokumentieren.
Wenn koordinierender Arzt und Patient zu dem Schluss gelangen, dass die Teilnahme am Behandlungsprogramm keinen weiteren Nutzen mehr bringt, soll die Teilnahme am DMP beendet werden [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2024].
Qualitätssicherung und Evaluation
Zur Sicherstellung einer guten Versorgungsqualität sollen Remindersysteme für Versicherte und Leistungserbringer, Feedbackberichte zur individuellen Praxisleistung auf Basis der eingereichten Dokumentation und die Förderung der aktiven Teilnahme und Eigeninitiative der Versicherten im DMP integriert werden. Jährliche Qualitätsberichte, die von den Krankenkassen auf Basis der ärztlichen Dokumentation erstellt und publiziert werden, dienen zur Qualitätsbeurteilung. Zusätzlich werden die Programme durch unabhängige externe Sachverständige evaluiert, um die Auswirkungen auf die Versorgung zu erfassen [Gemeinsamer-Bundesausschuss 2023b]. Dabei sollen mindestens die folgenden Parameter berücksichtigt werden: Tod, Gewichtsreduktion, BMI, Schulungen, Ernährungsumstellung, Blutdruckwerte, tägliche körperliche Alltagsaktivität, körperliches Training und Auftreten von Prädiabetes und manifestem Diabetes mellitus Typ 2.
Ausblick
Es besteht die Chance, die Versorgung von Menschen mit Adipositas in Deutschland durch die Implementierung eines multimodalen und strukturierten Versorgungsprogramms zu verbessern. Die Umsetzung des DMP Adipositas hängt nun von den Vertragsverhandlungen zwischen den Leistungserbringern und Krankenkassen ab, auf Basis derer auch die Vergütung für die innerhalb des DMP erbrachten Leistungen festgelegt und die Gesamtkosten des DMP abgeschätzt werden können. Ein Impulspapier des Bundesministeriums für Gesundheit lässt auf eine beschleunigte Umsetzung hoffen, da es Maßnahmen zur Stärkung der DMP vorsieht. Dazu zählen unter anderem die Verpflichtung der Krankenkassen, ihren Versicherten DMP anzubieten und sie darüber zu informieren, sowie innerhalb einer bestimmten festgelegten Frist Verträge mit den Leistungserbringern zur Durchführung der DMP abzuschließen [Bundesministerium für Gesundheit 2024].
Für die Praxis Das DMP Adipositas bietet eine strukturierte, multimodale Behandlungsoption für Menschen mit Adipositas Grad II oder höher und – bei Vorliegen relevanter Komorbiditäten – auch für Menschen mit Adipositas Grad I. Kurzfristige Ziele wie die Gewichtsstabilisierung und die Reduktion von Komorbiditäten unterstützen das übergeordnete Ziel, die vorzeitige Sterblichkeit zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern. Eine enge, stigmatisierungsfreie Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient ist dabei entscheidend.Kernaspekte, die im DMP Adipositas ausgeführt werden, sind:Hausärzte koordinieren die Behandlung und legen individuelle Therapieziele fest, die regelmäßig überprüft und angepasst werden.Ernährungsumstellungen, regelmäßige körperliche Aktivität und Verhaltensänderungen sind zentrale Bestandteile der Basistherapie.Medikamentöse Therapien und bariatrische Eingriffe können bei spezifischen Indikationen ergänzend eingesetzt werden.Der langfristige Erfolg hängt maßgeblich von einer kontinuierlichen Begleitung und Motivation der Patienten ab.
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Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2025; 34 (1) Seite 18-22