Mit einer Präventionsoffensive will Gesundheitsminister Lauterbach den Umstand behandeln, dass Deutschland so viel wie kein anderes EU-Land für Gesundheit ausgibt, bei der Lebenserwartung aber trotzdem nur Durchschnitt ist.

Karl Lauterbach stellt gern heraus, dass er ein Gesundheitsminister aus der Welt der Medizin ist. Er liest aktuelle Studien in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, kommentiert sie auf Twitter (heute X) und plaudert auch gern über seine persönlichen Kontakte mit den Expertinnen und Experten, die diese Studien verfasst haben. Ende Juli hat der promovierte Arzt sogar wieder selbst in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, dem "European Journal of Epidemiology". So weit, so ungewöhnlich – politisch interessant ist aber das Thema des von ihm und dem Kölner Kardiologen Prof. Dr. Stephan Baldus verfassten Kommentars: "Präventions-zentrierte Gesundheitsversorgung in Deutschland – eine Nation, die die Wende schaffen muss" lautet der Titel, übersetzt aus dem Englischen. Die Lebenserwartung sei in den entwickelten Ländern zuletzt nicht mehr so schnell gestiegen wie bisher, trotz deutlicher Anstiege bei den Gesundheitsausgaben. Und für Deutschland gelte dies insbesondere. Von einer "klaren Leistungsschwäche" im direkten Vergleich mit anderen Industrieländern schreibt der Minister, und das trotz der guten Voraussetzungen hierzulande nicht nur bei der finanziellen Ausstattung des Gesundheitssystems, sondern auch einer immer noch robusten Wirtschaft, niedrigen Armuts- und Kriminalitätsraten sowie einer leicht zugänglichen Infrastruktur.

Globale Studie untermauert Bedeutung der Risikofaktoren

Die Daten, auf die sich Lauterbach und Baldus beziehen, würden insbesondere bei der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland einen Exzess gegenüber unseren europäischen Nachbarn zeigen. Dieser sei zu einem großen Teil einer schwächeren Leistung bei der allgemeinärztlichen Versorgung und der Krankheits-Prävention zuzuschreiben.

Wissenschaftler des Global Cardiovascular Risk Consortium unter Federführung der Klinik für Kardiologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) haben Ende August im renommierten New England Journal of Medicine Daten publiziert, nach denen die fünf klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Rauchen und Diabetes weltweit im direkten Zusammenhang mit mehr als der Hälfte aller kardiovaskulären Erkrankungen stehen. Die Studienergebnisse basieren auf Daten von 1,5 Millionen Menschen aus 112 Kohortenstudien, die aus 34 Ländern der acht geographischen Regionen Nordamerika, Lateinamerika, Westeuropa, Osteuropa und Russland, Nordafrika und Mittlerer Osten, Subsahara-Afrika, Asien und Australien stammen. Ziel der Studie war es, ein besseres Verständnis für die weltweite Verteilung, die Bedeutsamkeit der einzelnen Risikofaktoren und deren Auswirkungen auf kardiovaskuläre Erkrankungen und die Gesamtsterblichkeit zu erhalten, um daraus gezielte präventive Maßnahmen abzuleiten. "Die untersuchten fünf klassischen Risikofaktoren sind prinzipiell modifizierbar und damit zugänglich für präventive Maßnahmen. Bisher gab es widersprüchliche Studienergebnisse, welcher Anteil der kardiovaskulären Erkrankungen durch diese Risikofaktoren tatsächlich erklärt ist", erklärte die Erstautorin Priv.-Doz. Dr. Christina Magnussen vom UKE.

Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Rauchen und Diabetes zusammen erklärten in der Studie 57,2 Prozent des kardiovaskulären Risikos bei Frauen und 52,6 Prozent des kardiovaskulären Risikos bei Männern. "Unsere Studie zeigt deutlich, dass über die Hälfte aller Herzinfarkte und Schlaganfälle durch die Kontrolle und Behandlung der klassischen Risikofaktoren vermeidbar sind. Diese Ergebnisse haben höchste Bedeutung, wenn wir die Prävention in diesem Bereich stärken wollen. Gleichzeitig sind rund 45 Prozent der weltweiten kardiovaskulären Erkrankungen nicht durch diese Risikofaktoren erklärt und sollten uns und die akademischen Fördermittelgeber zu weiteren Forschungsanstrengungen motivieren", betonte Prof. Dr. Stefan Blankenberg, Ärztlicher Leiter des Universitären Herz- und Gefäßzentrums des UKE. Für die Gesamtsterblichkeit erklären die fünf Risikofaktoren zusammen lediglich rund 20 Prozent des Risikos.

Die Studie zeigte Unterschiede in den acht globalen Regionen hinsichtlich der Häufigkeit der Risikofaktoren. Der Risikofaktor Diabetes ist besonders in Nordafrika und im Mittleren Osten ausschlaggebend, höchste Werte für Übergewicht sahen die Wissenschaftler in Lateinamerika, für Bluthochdruck und erhöhte Cholesterinwerte in Europa

Die Studie macht außerdem deutlich, dass erhöhter Blutdruck oder erhöhte Cholesterinwerte linear mit dem Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen zusammenhängen: Je höher die Werte sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen.

Die Bedeutung aller Risikofaktoren nimmt über das Alter ab, beispielsweise ist ein erhöhter Blutdruck für 40-Jährige schädlicher als für 80-Jährige. Einzige Ausnahme bildet dabei der Body-Mass-Index (BMI), der in jedem Alter gleichermaßen bedeutsam ist. "Dies wirft die Frage auf, inwieweit die Zielwerte zur Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren im höchsten Lebensalter identisch mit denjenigen im mittleren bis höheren Lebensalter sein sollten", regte Blankenberg an.

Die Erstautorin Magnussen leitete aus dem umfangreichen Datensatz eine klare Forderung ab: "Ein erhöhter systolischer Blutdruck erklärte den größten Teil des kardiovaskulären Risikos. Wir sollten besonderes Augenmerk auf die Therapie von Patient:innen mit erhöhtem Blutdruck legen, um kardiovaskuläre Erkrankungen soweit wie möglich zu vermeiden."

Internetportal mit lebenswichtigen Informationen
Mit formeller Gründung der Nationalen Herz-Allianz ist das neue Internetportal herzmedizin.de an den Start gegangen. Es ist als zentraler Anlaufpunkt für Laien, Politiker, das Fachpublikum und Interessierte konzipiert, jeder soll sich hier unabhängig von seinen individuellen Vorkenntnissen umfassend über Herz-Kreislauf-Themen informieren können.

Eckpunktepapier zur KHK-Prävention geplant

Tatsächlich findet sich in der Arbeitsplanung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die Vorgabe, bis zum Herbst 2023 Eckpunkte für eine Gesetzesinitiative zur besseren Vorsorge und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzulegen. Anfang Oktober wurden Inhalte eines ersten Impulspapiers des Bundesgesundheitsministeriums für die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekannt.

Thomas Müller, Abteilungsleiter im BMG für Arzneimittel, kündigte auf der Veranstaltung "Diabetes 2030" Mitte September eine solche Initiative an: "Wir glauben, dass wir von dem Dogma ‚Verhaltensänderung allein‘ etwas wegkommen müssen hin zu einer aktiven medikamentösen Beeinflussung", gab er einen Ausblick. Das beziehe sich mehr auf Bluthochdruck und Cholesterin, noch nicht auf Adipositas oder Diabetes. Bei der medikamentösen Blutdruck- und Cholesterin-Einstellung finde man Deutschland eher im unteren Drittel, da müsse man besser werden. Auch bei der Tabak-Prävention sei Deutschland nicht eben Vorreiter, wie Müller es vorsichtig ausdrückte, die Weltgesundheitsorganisation habe Deutschland dazu sogar gerügt. Beratungen zu einer solchen Herz-Strategie laufen, Müller bremste etwas die Erwartungen: "Wir sehen schon, dass das auch ein dickes Brett ist."


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BMG-Abteilungsleiter Thomas Müller auf der Veranstaltung Diabetes 2030 in Berlin.

Allianz gegen Herz-Sterblichkeit

Als ersten Schritt in die richtige Richtung kann man die im Frühjahr gegründete Nationale Herz-Allianz sehen. Hier hat das BMG die Schirmherrschaft, versammelt sind sämtliche medizinischen Fachgesellschaften aus dem Bereich Herz-Kreislauf-Gesundheit und auch die Patienten-Vertretung. Sie ist hervorgegangen aus der Erarbeitung eines Positionspapiers für eine nationale Herz-Kreislauf-Strategie, das im Herbst 2021 veröffentlicht worden war.

Eigenes Präventions-Institut im Aufbau

Wie ernst Prävention im Ministerium genommen wird, sieht man daran, dass das Thema Anlass einer Umorganisation der Bundesoberbehörden in Geschäftsbereich des BMG ist. Anfang Oktober kündigte es die Gründung eines eigenen Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) an. Dieses soll einem umfassenden Ansatz von Gesundheit folgen, weg von der Fokussierung auf ein kuratives Gesundheitssystem hin zu einer sinnvollen Kombination aus Gesundheitsförderung, Prävention und Versorgung. Durch die Stärkung der Öffentlichen Gesundheit (Public Health) sollen nicht nur die Lebensqualität der Menschen gesteigert und ihre Lebenserwartung verlängert, sondern auch Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem reduziert werden.

So entsteht das BIPAM
Das Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) wird als selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) errichtet. Die 1967 gegründete Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) geht im neuen Bundesinstitut auf. Das Robert-Koch-Institut (RKI) bleibt für den Bereich der übertragbaren Erkrankungen im Geschäftsbereich des BMG zuständig. Zum Beispiel die am RKI angesiedelte Diabetes-Surveillance soll zum BIPAM wechseln. Der Aufbau des BIPAM ist in drei Phasen geplant. Ende 2023 soll der Gesetzgebungsprozess mit der Einleitung der Ressortabstimmung starten, in das Kabinett soll das Gesetz Anfang 2024 gehen. Ab 2024 folgt eine Transformationsphase. Mit dem für 2025 geplanten Inkrafttreten des Gesetzes geht die BZgA in das Bundesinstitut über. Den Aufbau des BIPAM wird der bisherige Leiter des Gesundheitsamtes Köln, Dr. Johannes Nießen, als Errichtungsbeauftragter beim BMG organisieren. Als Sitz der Behörde ist Berlin geplant.

Etwas verstörend aus diabetologischer Sicht ist, dass bei der Ankündigung des BIPAM vom Ministerium explizit "die Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen (z.B. Krebs, Demenz, KHK)" als Schwerpunkt des neuen Instituts genannt wird. Und nicht Diabetes. Und so war in der Medienberichterstattung ebenfalls in der Auflistung der durch bessere Prävention einzudämmenden Volkskrankheiten Diabetes meist nicht vorhanden.

In Abgrenzung zum für übertragbare Krankheiten zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) soll ein wesentlicher Schwerpunkt des neuen Bundesinstitutes auf der Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen liegen. Als Aufgaben nennt das Ministerium unter anderem:

  • Auswertung und Erhebung von Daten zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, um politische und strategische Entscheidungen vorzubereiten und zielgruppenspezifische Präventionsmaßnahmen zu evaluieren.
  • Gesundheitskommunikation des Bundes auf Basis valider Daten zu Gesundheitsbedingungen, Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten der Bevölkerung.
  • Frühzeitige Identifikation gesundheitlicher Bedürfnisse und Bedarfe (Foresight) sowie Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von nicht übertragbaren Krankheiten.
  • Epidemiologische Forschung auf dem Gebiet der nicht übertragbaren Krankheiten, einschließlich der Erkennung und Bewertung von individuellen Risiken und sozialen Gesundheitsdeterminanten.
  • Unterstützung von Studien zur Verbesserung der Primärprävention und Zusammenarbeit mit dem Forschungsdatenzentrum bei der Nutzung von KI für epidemiologische Auswertungen.

Was von den Plänen für das neue Institut am Ende tatsächlich umgesetzt wird, ist noch nicht klar. Der gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag Andrew Ullmann kommentierte die Ankündigung der Neuorganisation zurückhaltend: "Allerdings müssen wir uns bei der konkreten Ausgestaltung noch einigen, zumal etwas wie das BIPAM nicht konkret im Koalitionsvertrag vereinbart war", erinnert er.

Initiativen im Impulspapier

Das Anfang Oktober vorgestellte BMG-Impulspapier enthält verschiedene Initiativen. Die Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen soll durch die Einführung eines Lipidscreenings bei der U9-Untersuchung verbessert werden, die im Alter von fünf Jahren absolviert wird. Um auch Jugendlichen Hinweise zu Risikoverhalten zu geben sowie eine Familienanamnese durchzuführen, sollen Krankenkassen zu einer Teilnahme an der J1-Untersuchung zwischen 12 und 14 Jahren einladen. Für Erwachsene sollen die Gesundheitsuntersuchungen mit einem nach Alter gestuftem Screening für Herz-Kreislauf-Erkrankungen weiterentwickelt werden. Dabei sollen auch lebensstilbezogene sowie familiäre Risikofaktoren besser erkannt werden. Digitale Untersuchungshefte für Erwachsene, die in der künftigen elektronischen Patientenakte geführt werden können, sollen die Umsetzung solcher Check-up-Untersuchungen unterstützen.

Am BIPAM soll laut des Papiers ein epidemiologisches Register zu Herzinfarkt und Schlaganfall aufgebaut werden. Niedrigschwellige Beratungen sieht es ferner auch in Apotheken vor, beispielsweise Blutdruckmessungen, BMI-Berechnungen oder Beratungen zur Nikotinentwöhnung.


Autor:
Marcus Sefrin
Redaktion MedTriX GmbH
Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (11) Seite 6-8