Seit rund 30 Jahren feiert das vereinte Deutschland am 20. September den Weltkindertag. Sinn des Gedenktages ist es, das öffentliche Interesse auf Kinderschutz und Kinderrechte zu lenken.

Um Kinderschutz ging es auch der Deutschen Allianz für Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), als das Wissenschaftsbündnis im Herbst 2022 gemeinsam mit 37 anderen Organisationen konkrete Vorschläge zur Umsetzung und Ausgestaltung von Werbeschranken für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt unterbreitete.

Um den Einfluss von Werbung und Marketingmaßnahmen auf das Essverhalten von Kindern zu reduzieren, schlug das Bündnis in einem Appell an die Bundesregierung vor:

  • Als Grundlage für eine gesetzliche Regelung zu Werbebeschränkungen die Nährwertempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa zu nutzen;
  • In Fernsehen, Radio und digitalen Streamingdiensten in der Zeit von 6:00 Uhr bis 23:00 Uhr Werbung zu Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt zu unterbinden;
  • Influencer:innen in Online-Kanälen, die für ihre Inhalte bezahlt werden, sollen grundsätzlich nur für gesunde Lebensmittel werben dürfen;
  • Außenwerbung für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt soll in einem Radius von weniger als 100 Metern um Schulen, Kitas und Spielplätzen nicht möglich sein.

FDP-Blockade

Grünenpolitiker und Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir ließ sich inspirieren und legte im Februar 2023 seine Pläne für ein Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz mit ähnlichem Inhalt vor. Während Elternverbände und Wissenschaft den Entwurf begrüßten, lief die Werbewirtschaft und der Verband der Lebensmittelindustrie mit unhaltbaren Argumenten Sturm gegen Özdemirs Vorhaben und fand in der FDP einen Verbündeten. So existiert bis dato kein in der Koalition konsentierter Gesetzesentwurf. Der Grund: die von der FDP geführten Ressorts blockieren den Einigungsprozess, obwohl sich auch die Liberalen im Koalitionsvertrag zu Werbebeschränkungen verpflichtet hatten.

"Die Blockadehaltung der FDP beim Kinderschutz wirft kein gutes Licht auf die Partei und steht im Widerspruch zum liberalen Leitbild der Chancengerechtigkeit", erklärt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und DANK-Sprecherin. "Möglichst allen Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen und ernährungsbedingte Krankheiten zu verhindern, muss im ureigenen Interesse einer Wirtschaftspartei liegen. Werbeschranken für Ungesundes könnten einen Beitrag dafür leisten, wenn die FDP nicht länger auf der Bremse steht", fordert Bitzer.

Die Taktik der FDP scheint zu fruchten, denn Özdemir unterbreitete bereits einen Kompromissvorschlag, der die Beschränkungen auf die Abendstunden reduziert statt einer umfassenden Regelung zwischen 6 und 23 Uhr. Auch für Plakatwerbung soll es nun lediglich eine 100-Meter-Bannmeile um Kitas und Schulen, nicht aber um Spielplätze und Freizeiteinrichtungen geben.

Offener Brief an Lindner

Diese Verwässerung der ursprünglichen Vorschläge sehen Eltern- und Wissenschaftsverbände mit großer Sorge. Mittlerweile ist das Bündnis, das sich für Werbeschranken zum Wohle der Kinder einsetzt, auf 61 Organisationen angewachsen – darunter Kinderrechtsorganisationen, Eltern- und Pädagogikverbände, medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften, Verbraucherschutz- und Ernährungsorganisationen sowie Ärzteverbände und Krankenkassen.

In einem offenen Brief appellieren die 61 Organisationen Mitte August an FDP-Parteichef Christian Lindner, das Versprechen des Koalitionsvertrages einzulösen und die von Bundesernährungsminister Cem Özdemir geplanten Werbeschranken für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt zu unterstützen.

Umfassende Werbeschranken für unausgewogene Lebensmittel seien ein wichtiges Instrument zur Förderung einer gesunden Ernährung bei Kindern, mahnt das Bündnis. Mit ihrer Blockadehaltung stelle sich die FDP gegen den einhelligen Konsens in der Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

"Ein Großteil der Verbrau-cher:innen befürwortet umfangreiche Regelungen zum Schutz der Kinder. Eine umfassende Regulierung von Werbung für Ungesundes ist überfällig, die Zeit der wirkungslosen freiwilligen Selbstverpflichtungen ist vorbei. Gesunde Ernährungsumgebungen sind ein wichtiger Beitrag zum Kinderschutz. Dafür muss die Koalition den Weg freimachen", sagt Ramona Pop, Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv).

Unterzeichneter Brief an die FDP-Parteispitz
AOK-Bundesverband, Aktion gegen den Hunger, Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG, Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE 21), Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Bundesarbeitsgemeinschaft Kommunale Kinderinteressenvertretungen e.V., Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege (BEVKi), Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt), Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd), Bundeszahnärztekammer (BZÄK), D•A•CH-Gesellschaft Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), Deutsche Diabetes Stiftung (DDS), Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe), Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), ,Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), Deutsche Gesellschaft für Hauswirtschaft (dgh), Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN), Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Deutsche Krebshilfe, Deutsche Liga für das Kind, Deutsche Umwelthilfe (DUH), Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Deutsches Kinderhilfswerk (DKHW), Deutsches Netzwerk Schulverpflegung (DNSV), diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, Die Freien Bäcker, FIAN Deutschland, foodwatch Deutschland, Forum Ökologie & Papier, Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (GPGE), Institut für Urban Public Health, Universitätsklinikum Essen, Institut für Welternährung, Internationaler Bund (IB), Jugend der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG-Jugend), Katholische Erziehergemeinschaft (KEG) Deutschlands, Kompetenznetz Adipositas, National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN - Kinderrechtskonvention, PAN International - Physicians Association for Nutrition e.V., Sarah Wiener Stiftung, Slow Food Deutschland, Spielmobile e.V. – Bundesarbeitsgemeinschaft der mobilen kulturellen Projekte, Stiftung Bildung, Stiftung Kindergesundheit, Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD), Verband der Diätassistenten (VDD), Verband Wohneigentum (VWE), Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), WWF Deutschland, Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention – ZEP, Krankenhaus Barmherzige Brüder München

Offensichtliche Gründe

Die Gründe, die Elternverbände, Ärzte, Krankenkassen und Wissenschaftsorganisationen ins Feld führen, sind allzu gut bekannt und überaus sichtbar. Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen mediennutzende Kinder in Deutschland zwischen drei und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, vermarktet ungesunde Lebensmittel wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten. Allein die Süßwarenindustrie in Deutschland hat 2022 knapp eine Milliarde Euro für Werbung ausgegeben.

Kinder essen mehr als doppelt so viel Süßigkeiten, aber nur halb so viel Obst und Gemüse, als Ernährungsempfehlungen fordern. Jüngsten repräsentativen Messungen zufolge sind etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland von Übergewicht und sechs Prozent sogar von starkem Übergewicht (Adipositas) betroffen. Das Ringen um ein Normalgewicht im Erwachsenenalter ist vorprogrammiert und es drohen im weiteren Leben Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Herzerkrankungen. Jeder siebte Todesfall in Deutschland ist laut Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf ungesunde Ernährung zurückzuführen. Auch deshalb trifft der offene Brief einen Nerv der Zeit, was das enorme mediale Echo unterstreicht. Die FDP hingegen schweigt.

Knickt die SPD ein?

Enttäuschend ist aus Sicht des Aktionsbündnisses, dass sich in den Reihen der SPD kritische Stimmen zum Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz mehren. Während die Kanzlerpartei zunächst überwiegend Zustimmung zu den Plänen Özdemir hatte verlauten lassen, so z.B. Bundesgesundheitsminister Lauterbach, meldete sich jüngst der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil eher ablehnend zu Wort. So scheint manchen Genossen nicht zu gefallen, dass Werbeschranken auch bei Abendformaten greifen sollen, die zwar bei Kindern beliebt sind, aber keine Comicfiguren enthalten. Diese Kritik an der Uhrzeiten-Regelung würde den Kern des Gesetzesvorhabens um ein weiteres Stück aushöhlen. Nun scheint das Streitthema an das Kanzleramt weitergereicht worden zu sein.

Geringe Gesundheitskompetenz

Man muss nicht selbst Mutter oder Vater sein, um zu verstehen, dass Kinder zu den vulnerablen und schützenswerten Bevölkerungsgruppen gehören. Kaum ein Kind wird freiwillig auf den Schokoriegel verzichten, weil es die Wirkung des Riegels auf den Stoffwechsel reflektiert und zu dem Schluss kommt, dass es der eigenen Gesundheit jetzt oder in Zukunft schaden könnte. Solche Überlegungen sind – wenn überhaupt – Erwachsenen vorbehalten.

Das Elternhaus ist sicherlich in der Pflicht und ein entscheidender Faktor. Bedauerlicherweise aber muss die Vorbildfunktion der Mehrheit der Erwachsenen im Sinne einer gesunden Ernährungsweise in Frage gestellt werden. So hat die zweite Studie der Universität Bielefeld zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland aus dem Jahr 2020 ergeben, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung über eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz verfügt und es schwerfällt, komplexe Informationen zu Gesundheit und Krankheit angemessen zu verarbeiten. Ohne Gesundheitskompetenz aber keine gesunde Ernährungsweise. Außerdem ist das Elternhaus nur ein Teil der Ernährungsumwelt. Dazu gehören ebenso Medien, Kitas, Schule und Gleichaltrige. Insbesondere in einer digitalisierten Welt kommen weitere Einflüsse, wie z.B. Influencer:innen, hinzu.

Unabhängig vom einzelnen Schicksal geht es auch um das größere Ganze. Welche politischen Weichen stellen wir für die öffentliche Gesundheit? Public Health ist ein Stiefkind in deutschen Landen, deren Bedeutung uns die SARS-Cov2-Pandemie jedoch allzu deutlich vor Augen geführt hat. Ganz zu schweigen von den volkswirtschaftlichen Folgekosten nichtübertragbarer Krankheiten. So betrugen die diabetesbezogenen Gesundheitsausgaben 2021 in Deutschland rund 39 Milliarden Euro.

WHO-Leitlinie

Dass wir es hier mit einem dicken Problem zu tun haben und zwar im globalen Maßstab, zeigt auch, dass die WHO im Juli 2023 ihre Leitlinie zu Werbebeschränkungen aktualisiert und verschärft hat, um Kinder vor schädlichen Einflüssen von Lebensmittelwerbung und aggressivem Marketing zu
schützen.

Schon vor 10 Jahren hatten die WHO-Mitgliedsstaaten, also auch Deutschland, WHO-Empfehlungen zu diesem Thema unterschützt. Die aktuelle Leitlinie basiert auf neuen Erkenntnissen, wie Werbeexposition und Lebensmittel-Marketing die Gesundheit von Kindern, deren Essverhalten und Einstellungen und Überzeugungen zu Nahrung beeinflussen. Danach werden Kinder negativ beeinflusst bezüglich ihrer Nahrungspräferenzen als auch der tatsächlichen Nahrungsaufnahme.

Ein Review von politischen Maßnahmen zur Reglementierung von Lebensmittelmarketing ergab laut WHO, dass Werbebeschränkungen dann am wirksamsten sind, wenn sie

  • verpflichtend sind;
  • Kinder aller Altersgruppen einbeziehen;
  • auf einem strengen Nährwertmodell basieren und
  • ausreichend umfassend sind, um Schlupflöcher, wie z.B. ein Ausweichen auf andere Medien, zu vermeiden.

Zudem sollten für Kinder attraktive Features, wie z.B. Comics, Spielzeug oder Songs und Celebrities, ebenfalls in die Beschränkungen mit einbezogen werden. Die WHO sieht ihre Leitlinie zu Werbeschranken nicht isoliert, sondern als Teil künftiger weiterer Empfehlungen zur Ernährungspolitik. Ultimatives Ziel ist es, Regierungen zu motivieren, gesunde Ernährungsumwelten für die eigene Bevölkerung zu schaffen, damit eine gesunde Ernährungsweise zur kinderleichten Wahl wird.


Autor:
Dr. Gottlobe Fabisch
Berlin


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (10) Seite 6-7