Vielfalt Essen, Ernährung geht jeden an, und die Meinungen dazu sind sicherlich so vielfältig wie die Ernährungsgewohnheiten selbst. Um die Vielfalt der Perspektiven in den Meinungsfindungsprozess einzubeziehen, setzte der Bundestag im Mai einen Bürgerrat ein.

160 zufällig ausgewählte Bürger:innen sollen ab September Fragen zum Themenkomplex Ernährung diskutieren und bis Ende Februar 2024 dem Bundestag Handlungsempfehlungen vorlegen. Bürgerräte gelten als dialogorientiertes Verfahren einer modernen Demokratie zur frühzeitigen Bürgerbeteiligung am politischen Willensbildungsprozess.

Täglich treffen wir mehrmals Entscheidungen über das, was wir essen. Unser persönliches Essverhalten wirkt sich auf unsere Gesundheit aus, ist dennoch nur zu einem Teil privat. Unsere Vorlieben und Entscheidungen werden beeinflusst durch die sogenannte Ernährungsumgebung, d.h. das aktuelle Angebot oder Werbung, durch kulturelle Faktoren und nicht zuletzt durch finanzielle Möglichkeiten.

Gleichzeitig haben unser Ernährungsverhalten und die Produktion unser Nahrungsmittel erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt. Mit anderen Worten: Essen hat eine politische Dimension. Welche Rolle der Staat in diesem Spannungsfeld von individueller Freiheit und Verantwortung für die Gesellschaft spielen sollte, ist Auftrag des Bürgerrates, den der Bundestag am 10. Mai 2023 zum Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" auf Bundesebene eingesetzt hat. Der Parlamentsbeschluss basiert auf einem Antrag der drei Regierungsparteien gemeinsam mit der Fraktion Die Linke. In namentlicher Abstimmung votierten 402 Abgeordnete für und 251 Parlamentarier der CDU/CSU Fraktion und der AfD gegen die Vorlage zur Bürgerbeteiligung.

Auftrag und Leitfragen

Der künftige Bürgerrat soll sich in seinen Beratungen mit folgenden Fragen befassen:

  • Was erwarten Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat? Wo soll er aktiv werden und wo nicht? Was soll der Staat ermöglichen oder erleichtern?
  • Was wollen Konsumentinnen und Konsumenten über ihre Lebensmittel und deren Herkunft wissen? Was gehört zu einer transparenten Kennzeichnung von sozialen Bedingungen, von Umwelt- und Klimaverträglichkeit und von Tierwohlstandards? Wie detailliert sollten derartige Angaben sein, damit sie hilfreich und nicht verwirrend sind?
  • Was halten Bürgerinnen und Bürger für den Aufbau eines fundierten gesamtgesellschaftlichen Wissens über die Zusammenhänge von Ernährung und Gesundheit für notwendig? Welche Rolle kommt dabei zum Beispiel der Schule zu? Welche Maßnahmen sollten zum Schutz besonders verletzlicher Konsumentengruppen ergriffen werden?
  • Wie können die Bürgerinnen und Bürger bei Kaufentscheidungen im Hinblick auf eine gesunde Ernährung besser unterstützt werden?
  • Welchen steuerlichen Rahmen soll der Staat für die Preisbildung von Lebensmitteln setzen?
  • Wie kann der Lebensmittelverschwendung Einhalt geboten werden und was kann der Staat dagegen tun?

Diese Leitfragen zielen auch darauf ab, Instrumente der Ernährungspolitik, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen, wie z.B. gesetzliche Mindeststandard oder Kennzeichnungspflichten, unter Einbeziehung des individuellen Nahrungsmittelkonsums, der Produktion dieser Lebensmittel sowie des Nahrungsangebots in Gemeinschaftseinrichtungen, wie z.B. Kantinen, zu diskutieren.

Arbeitsweise

Die Auswahl der 160 Mitglieder des Bürgerrates erfolgt nach einem mehrstufigen, randomisierten Verfahren aus der Bevölkerung über 16 Jahren mit Erstwohnsitz in Deutschland. Dabei soll eine ausgewogene Zusammensetzung hinsichtlich Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft und Bildungshintergrund angestrebt werden und auch vegetarisch und vegan lebende Bürgerinnen und Bürger im neuen Gremium vertreten sein. Die Teilnehmenden erhalten eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzungstag in Präsenz und 50 Euro pro Sitzung in digitaler Form.

Organisatorisch wird der Bürgerrat von einer Stabsstelle in der Bundestagsverwaltung unterstützt. Die Beratungen werden durch eine neutrale Moderation geleitet, damit eine ausgewogene Beteiligung der Teilnehmenden gewährleistet ist. Inhaltlich wird dem Bürgerrat Wissen und Expertise durch Wissenschaftler:innen und Pratiker:innen zur Verfügung gestellt. Während die Diskussionen in Kleingruppen in einem geschützten Raum stattfinden werden, soll der Verlauf der Beratungen in adäquater Form veröffentlicht werden.

Ein wissenschaftlicher Beirat aus zwölf Wissenschaftlern anerkannter Hochschulen und Forschungseinrichtungen berät zur Zusammensetzung des Expertinnenpools sowie bei der Gestaltung des Prozessdesigns, wozu u.a. Struktur und Operationalisierung der Fragestellung gehören. Zu diesen Themen werden auch relevante Zivilgesellschaft, Verbände und Wirtschaft angehört.

Bürgergutachten

Der Beschluss des Bundestages gibt ein sportliches Zeitpensum vor. Bis zum 29. Februar 2024 soll der Bürgerrat zu den entscheidenden Fragen Konsens finden und seine Handlungsempfehlungen vorlegen. Das Bürgergutachten wird federführend dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur Beratung übermittelt. Aber auch andere Bundestagsausschüsse, wie z.B. für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, für Gesundheit, für Arbeit und Soziales oder für Klimaschutz und Energie sollen mitberatend beteiligt werden.

Konzept Bürgerrat

Das Prinzip der Bürgerbeteiligung ist auf kommunaler Ebene bereits erprobt und bewährt. Vorreiterrolle hat das Ländle Baden-Württemberg, wo seit mehr als 10 Jahren Bürgerräte zu verschiedenen Themen eingesetzt werden. Die Erfahrung lehrt, dass die Themen nicht zu breit formuliert werden sollten, um spezifische Fragestellungen zu einem Thema diskutieren und konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln zu können. Essentiell ist dabei, mit einem breiten Ausschnitt der Bevölkerung Konsens zu umstrittenen Themen zu finden.

Ein solch polarisierendes Thema ist der Fleischkonsum. Für Stefan Wahlen, Professor für Ernährungssoziologie an der Universität Gießen, hat Fleisch Symbolcharakter: "Zum einen ist Fleisch immer noch ein Statussymbol, denn früher konnten sich nur die Wenigsten regelmäßig Fleisch leisten", so Wahlen. "Zum anderen gilt fleischfreie Ernährung als weniger männlich." Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass oft gefordert wird, dass wir Verbraucher:innen unseren Fleischkonsum reduzieren sollen, seltener wird jedoch darauf verwiesen, dass die Tierhaltung und Fleischproduktion verändert und gesenkt werden muss. Für Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor für Erdsystemwissenschaften an der Universität Potsdam, bedroht die globale Nahrungsmittelproduktion die Stabilität des Klimas und die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme, weshalb er eine radikale Transformation des globalen Ernährungssystems fordert.

Planetary Health Diet

Eine pflanzenbetonte Ernährungsweise fordert auch eine Gruppe aus 37 Wissenschaftler:innen aus 16 Ländern in Kooperation mit dem Fachmagazin Lancet und der Nichtregierungsorganisation EAT. Sie gingen der Kernfrage nach, wie rund 10 Milliarden Menschen bis 2050 nachhaltig ernährt werden können und entwickelten die Planetary Health Diät. Diese pflanzenbetonte Ernährungsweise meint eine Vielfalt von Ernährungsgewohnheiten von vegan über vegetarisch bis hin zu wenig tierische Produkte, deren Konsum nicht ausgeschlossen wird. Begleitet werden soll die Planetary Health Diät mit einer Halbierung der Lebensmittelverschwendung. Auch Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung Cem Özdemir will laut seinem Ende 2022 vorgelegten Eckpunktepapier zur Ernährungsstrategie eine pflanzenbetonte Ernährungsweise und nachhaltige Lebensmittelherstellung fördern.

Ernährungswende von unten

Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ist sich sicher, dass sich seit dem Eklat um den Veggie-Day in der Bevölkerung etwas in Sachen Ernährung geändert hat. Der eine oder andere mag sich erinnern, dass im November 2010 eine Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen entschieden hatte, Veggie-Day-Initiativen zu unterstützen und damit eine emotionale öffentliche Debatte losgetreten hatte. Dieser Beschluss schadete der Partei und so manch grüner Politiker:in enorm und brachte den Grünen das Image der "Verbotspartei" ein.

Nicht von ungefähr betonte daher Renate Künast auf der Konferenz der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen, die am 12. Mai 2023 unter dem Titel: "Besser essen – Gesund für Mensch und Planet" im Bundestag stattfand, dass es nicht um Verzicht, sondern um eine neue Kulinarik gehe, auch in der Gemeinschaftsverpflegung.

Auf derselben Veranstaltung warf Bundesminister Cem Özdemir der Werbe- und Lebensmittelindustrie eine Ideologisierung der Debatte um Kinderschutz in der Werbung vor. Mit einer groß angelegten Kampagne macht die Industrie derzeit Stimmung gegen das von Özdemir vorgeschlagene Gesetz, mit dem an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Salz- und Fettanteil eingeschränkt werden soll. So warnt die Industrie mit unhaltbaren Argumenten vor dem Untergang der Werbung. Dabei hat die Exposition von Werbereizen nachweisbar zugenommen und das einseitig. Aber wenn es um Ernährung und Lebensmittel geht, geht es eben auch um viel Geld.

"Der Einfluss der Ernährungsumwelt wird in der Regel unterschätzt", erklärt Britta Renner, Professorin für Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie an der Uni Konstanz und Diskutantin auf der Konferenz am 12. Mai. Aus psychologischer Perspektive ist Essen mehr als pure Nahrungsaufnahme, um zu überleben, sondern auch soziales Verhalten. "Wenn Idole bestimmte Lebensmittel bewerben – egal ob Sportler:in, Künstler:in oder Influencer:in – triggert das unsere Emotionen. Ein positiver Status wird mit einem Produkt verknüpft. Hier kommt der Mechanismus des assoziativen implizierten Lernens zum Tragen, der sowohl für Kinder als auch Erwachsene funktioniert," so Renner.

Unsere Entscheidungen, was wir essen, sind keineswegs so frei, wie wir glauben oder uns wünschen. Die Frage, wie wir uns in Zukunft ernähren, so dass es unserer Gesundheit gut tut und gleichzeitig unserer Lebensgrundlage möglichst wenig schadet, ist längst keine rein private Angelegenheit mehr. Ein Herkulesauftrag für den neu gegründeten Bürgerrat.


Autorin:
Dr. Gottlobe Fabisch, Berlin


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (6) Seite 6-8