Im Oktober dieses Jahres veröffentlichte der Wissenschaftsrat, ein Beratungsgremium der Bundes- und Länderregierungen zu Wissenschaft und Forschung, seine Empfehlungen zu "Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe – wissenschaftliche Potenziale für die Gesundheitsversorgung erkennen und nutzen".

Vor dem Hintergrund einer in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung zu beobachtenden Komplexitätszunahme, einer sich verändernden Arbeitsteilung und der zunehmenden Bedeutung interprofessioneller Zusammenarbeit hält es der Wissenschaftsrat für geboten, die mit besonders komplexen und verantwortungsvollen Aufgaben betrauten Angehörigen der Gesundheitsfachberufe zukünftig bevorzugt an Hochschulen auszubilden."

Ein Zitat aus den aktuellen Empfehlungen des Wissenschaftsrates? Weit gefehlt. Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 2012 und den damaligen Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu den "hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen". Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung, dass zwischen 10% und 20 % eines Jahrgangs in den Pflege- und Therapieberufen und im Hebammenwesen auf hochschulischem Niveau ausgebildet werden sollte, sorgte damals durchaus für Unruhe in den tradierten Strukturen des deutschen Gesundheitswesens.

Wissenschaftsrat kurz erklärt
Der Wissenschaftsrat berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs. Zu diesem Zweck erarbeitet der Wissenschaftsrat Empfehlungen und Stellungnahmen, die veröffentlicht werden, z.b. 2019 die Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Universitätsmedizin in Nordrhein-Westfalen, 2012 Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen und 2023 Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe | Wissenschaftliche Potenziale für die Gesundheitsversorgung erkennen und nutzen. Die in Köln angesiedelte Geschäftsstelle hat rd. 100 Mitarbieter:innen, davon die Hälfte Wissenschaftler:innen.

Inzwischen sind mehr als 10 Jahre vergangen und die Hebammenausbildung ist sogar vollakademisiert. Ziel erreicht? Alles gut? Der Wissenschaftsrat hat offensichtlich Zweifel und konzentriert sich in seinen aktuellen Empfehlungen ausschließlich auf die wissenschaftliche Qualifizierung von Gesundheitsfachberufen. Wer jedoch einen ähnlich mutigen Aufschlag wie in 2012 erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Magische Zahl 20

Angesichts oder vielmehr trotz demographischen Wandels bei gleichzeitig zunehmenden Fachkräftemangel lautet die zentrale Empfehlung des Wissenschaftsrates auch in 2023, dass neben der Vollakademisierung der Hebammen künftig 20 % der weiteren Angehörigen der Gesundheitsfachberufe akademisch ausgebildet sein sollten. Dabei solle der Schwerpunkt zudem auf den Auf- und Ausbau primärqualifizierend-dualer Studiengänge liegen.

"Damit das gelingt, müssen die wissenschaftlichen Disziplinen der Gesundheitsfachberufe weiterentwickelt werden, erklärt Prof. Dr. Anja Bosserhoff, Vorsitzende der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates "Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe" und Professorin für Biochemie und Molekulare Medizin an der Universität Erlangen. "Dazu gehört auch der Vorschlag, durch die Bildung von Zentren für Qualifizierung, Forschung und Versorgung die an den Hochschulen bereits vorhandenen Kräfte zu bündeln sowie eine stärkere institutionelle Verortung der Gesundheitsfachberufe an den Universitäten und der Universitätsmedizin", so Bosserhoff.

Größere Autonomie

Gleichzeitig spricht sich der Wissenschaftsrat dafür aus, Positionen für hochschulisch ausgebildete Gesundheitsfachkräfte großflächig zu entwickeln und Karrierewege in Versorgung und Wissenschaft aufzuzeigen. Die Rahmenbedingungen der Berufspraxis sind so zu gestalten, dass nicht nur der Berufseinstieg gelingt, sondern auch attraktive Bleibeoptionen in der Versorgung entstehen. "Mit der Akademinisierung sollte auch eine größere Autonomie hinsichtlich versorgungsrelevanter Aufgaben und hinsichtlich der Entscheidung über Versorgungspfade verbunden sein", erläutert Professorin Bosserhoff.

Der Wissenschaftsrat räumt ein, die Aufgabe sei groß, weshalb alle beteiligten Akteure zum Wohle der Gesellschaft an einem Strang ziehen müssen. Denn die Gesundheitsfachberufe stellen mit rund 2,3 Millionen Beschäftigten mehr als ein Drittel aller Beschäftigten im Gesundheitssystem. Mit seinen Empfehlungen richtet sich der Wissenschaftsrat daher nicht nur an Hochulen und politische Entscheidungsträger auf Länder- und Bundesebene, sondern auch an die für die Integration in diesen Berufsfeldern Verantwortlichen im Gesundheitssystem.

20 % kein Fortschritt

Kritik erntete der Wissenschaftsrat von so mancher Vertretung der Therapieberufe und unklar ist, weshalb der Wissenschaftsrat an der Prozentzahl 20 aus dem Jahr 2012 berufsübergreifend festgehalten hat, obwohl die Vorstellungen zur Akademsierung in den betroffenen Professionen durchaus unterschiedlich sind. Beispielsweise der Arbeitskreis "Berufsgesetz in der Logopädie und Sprachtherapie" setzt sich seit fast 10 Jahren dafür ein, die hochschulische Ausbildung im Berufsgesetz zu verankern und damit die Vollakademisierung durchzusetzen. Aus Sicht des Arbeitskreises sei die Darstellung der hochschulischen Situation und des Akademisierungsgrades nicht korrekt, da nicht alle relevanten Studiengänge in die Untersuchungen des Wissenschaftsrates eingeflossen seien, z.B. die akademische Sprachtherapie. Es gebe zahlreiche Bachelor-Studiengänge im Bereich der Logopädie, weshalb die Marke 20 Prozent einen Rückschritt darstelle. Um international mithalten zu können, sei die Vollakademisierung notwendig.

HQGplus-Studie

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe basieren auf der "HQGplus-Studie zu Hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitssystem" von 2022, eine Bestandaufnahme der hochschulischen Qualifizierung von Gesundheitsfachpersonen in Deutschland. Die Studie erhob Daten zur quantitativen und qualitativen Entwicklung gesundheitsbezogener Studienangebote, zum Ausbau der Forschung, zu akademischen Karriereoptionen und zur Berufsfeldpraxis hochschulisch qualifizierter Gesundheitsfachkräfte.

Die HQGplus-Studie sowie Empfehlungen des Wissenschaftsrates beziehen sich auf alle Gesundheitsfachberufe mit unmittelbarem Patientenbezug, die bundesrechtlich auf der Grundlage eines Berufszulassungsgesetzes geregelt sind. Konkret: die Pflege- und Therapieberufe mit Verantwortlichkeiten und unmittelbaren Tätigkeiten an Patient:innen, die der Gesundheitsförderung und -erhaltung ebenso dienen wie der Vorbeugung, Erkennung, Heilung und Linderung von Krankheiten und Beeinträchtigungen (s. roter Bereich der Abb. 1).

© Wissenschaftsrat (2023)
Abb.1: Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe.

Methodisch umfasste die HQGplus-Studie eine quantitative Erhebung unter Hochschulen, Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen sowie qualitative Befragungen und Experteninterviews. In der Hochschulerhebung wurden in erster Linie Studiengänge berücksichtigt, die primär für patientennahe Aufgaben qualifizieren. Nicht erfasst wurden Studienangebote, die überwiegend lehrerbildende, ökonomische bzw. managementorientierte oder technische Qualifikationen vermittelten. So unterscheidet der Wissenschaftsrat vier Bachelor-Studienformate: ein Studium, das allein für die Ausbildung eines staatlich geregelten Gesundheitsfachberufs qualifiziert (primärqualifizierend), eine Berufsausbildung, die in das Studium integriert ist (ausbildungsintegrierend), eine Berufsausbildung begleitend zum Studium erfolgt (ausbildungsbegleitend) oder eine Berufsausbildung, die für die Aufnahme des Studiums vorausgesetzt wird (additiv).

© Wissenschaftsrat (2023)
Abb. 2: Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe; hier die Qualifikationswege und -ziele.

Pflegestudiumstärkungsgesetz

Passend zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates hat der Deutsche Bundestag ebenfalls im Oktober 2023 das sogenannte Pflegestudiumstärkungsgesetz verabschiedet, das Studierenden in der Pflege künftig für die gesamte Dauer ihres Studiums eine angemessene Vergütung ermöglicht und eine Vereinfachung der Anerkennungsverfahren für ausländische Pflegefachkräfte verankert. Ebenso wichtig: Ab 2025 sollen spezifische und verbindliche erweiterte Kompetenzen für akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen in die hochschulische Pflegeausbildung integriert werden. Dadurch soll ihnen die Ausübung eigenständig heilkundlicher Tätigkeiten ermöglicht werden. Konkret handelt es sich um erweiterte Kompetenzen in den Bereichen Diabetische Stoffwechsellage, Chronische Wunden und Demenz. Diese heilkundlichen Tätigkeiten sollen dann auch ohne Modellvorhaben als Regelversorgung abgerechnet werden können.

"Dies ist ein wichtiger Schritt zur Aufwertung der Pflegeberufe insgesamt, wenn die angekündigten Ausweitungen zügig angegangen werden", erklärt Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK). Der Deutsche Pflegerat und der DBfK fordern seit langem, dass Pflegefachpersonen eigenständig Heilkunde ausüben dürfen. Der nächste Schritt nach dem Pflegestudiumstärkungsgesetz müsse mit einem bundesweiten Heilberufegesetz folgen, in dem die Ausübung von Heilkunde für alle Pflegefachpersonen geregelt werde, wie dies auch der Koalitionsvertrag vorsieht.

Viele Expert:innen, gleich ob Ärzt:innen oder Gesundheitsfachkräfte, sprechen in diesem Zusammenhang schon längst nicht mehr von Substitution – in ärztlichen Ohren ohnehin ein Reizwort. Schließlich geht es nicht darum, eine andere Berufsgruppe zu ersetzen, sondern vielmehr um eine rechtliche Verankerung dessen, was Gesundheitsfachkräfte heute oft bereits leisten und damit die Verantwortungsübernahme für das eigene berufliche Handeln. Multiprofessionelle Zusammenarbeit, in der die verschiedenen Berufsgruppen auf Augenhöhe auf die jeweiligen Kompetenzen vertrauen, ist sicherlich ein sinnvoller und praktikabler Ansatz, um den Fachkräftemangel wenigstens teilweise aufzufangen. "Für die Sicherung unserer Gesundheitsversorgung ist es unumgänglich, dass wir das pflegefachliche Potenzial vollständig nutzen", so Bienstein.

Damit durch die vom Wissenschaftsrat empfohlene Teilakademisierung keine Verwerfung und kein Zweiklassensystem in der täglichen Patientenversorgung entsteht, fordern DBFK und der Deutsche Pflegerat (DPR), aber auch der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD), dass die Expert:innen, die bereits eine Fachweiterbildung, wie z.B. die Weiterbildung zur Diabetesberater:in oder im Bereich Demenz oder Chronische Wunde absolviert haben, ebenfalls Heilkunde ausüben dürfen.


Autor:
Dr. Gottlobe Fabisch
Berlin


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (12) Seite 6-8